Fr., 17.10. 2014, 13:30: Die SPD im Stuttgarter Landtag hat die Reißleine gezogen. Nachdem sie sich monatelang einem Untersuchungsausschuss zu möglichen Verbindungen des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) nach Baden-Württemberg verweigert hat, verkündete Fraktionschef Claus Schmiedel am Freitag die Zustimmung zur offiziellen parlamentarischen Untersuchung.
Update: Kontext-Autorin Johanna Henkel-Waidhofer beschreibt den Schwenk.
Die im Frühjahr eingesetzte Enquête-Kommission ist von den Grünen an die Wand gefahren worden, weil den anderen Fraktionen ein Rechtsgutachten vorenthalten wurde, das unter anderem klären sollte, welche Möglichkeiten der Zeugenvernehmung bestehen. In einem Untersuchungsausschuss gibt es dafür klar Regeln. Außerdem gehen seine Befugnisse insgesamt deutlich weiter. Die Grünen, deren Enquête-Vorsitzender Willi Halder bereits den Hut nehmen musste, verlieren damit auch das Recht das NSU-Gremium zu führen. Denn im nächsten Untersuchungsausschuss ist turnusmäßig - wie praktisch - die SPD selber an der Reihe.
Das extremistische Dunkel ausleuchten
Von Johanna Henkel-Waidhofer
Auf den ersten Blick bringt die Ankündigung der SPD-Landtagsfraktion, nun doch einen NSU-Untersuchungsausschuss zu beantragen, Bewegung in die verfahrene Aufklärung möglicher Verbindungen des Nationalsozialistischen Untergrund nach Baden-Württemberg. Auf den zweiten allerdings wird vor allem eine neue Taktik deutlich: Denn die Sozialdemokraten können - turnusmäßig - selber den Vorsitzenden stellen. Und der werde, so Claus Schmiedels Seitenhieb auf den Koalitionspartner, "dieser Aufgabe gewachsen sein".
Mit dem überraschenden Schwenk zieht der Fraktionschef die Reißleine. Und die Grünen zahlen einen hohen Preis dafür, dass am Ende herauskommt, was sie am Anfang wollten: Den überforderten Enquête-Vorsitzenden Willi Halder ließ die Fraktionsführung sang- und klanglos im Regen stehen, ein Maulwurf plaudert munter Interna aus und der Tübinger Abgeordneter Daniel Lede Abal verstrickte sich in Widersprüche um Lüge und Wahrheit. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag, beerichtet Schmiedel vor Journalisten in Stuttgart, habe er den Ausweg aus der verfahrenen Situation erdacht: "Die Enquête-Kommission braucht eine Pause." Mit einem Untersuchungsausschuss müsse jetzt die Ernsthaftigkeit des Bemühens um Aufklärung unterstrichen werden.
Was es zu beweisen gilt, denn viele in den Reihen des kleineren Koalitionspartners waren der Überzeugung, ein NSU-Untersuchungsausschuss werde nur weitere Unruhe in die von einer grundlegenden Strukturreform betroffene Polizei bringen und keine weiteren Erkenntnisse. Die LKA-Ermittlungsgruppe "Umfeld" hatte im vergangenen Februar einen 170-seitigen Bericht präsentiert. Es sei im "ureigenen Interesse unserer Sicherheitsbehörden, das extremistische Dunkel auszuleuchten", schrieb Innenminister Reinhold Gall (SPD) im Vorwort. Seither verteidigte er unzählige Male seine Haltung, dass ein Untersuchungsausschuss dafür nicht nötig sei. Auch gegen die Parteijugend. Dementsprechend begrüßte der Juso-Landeschef Markus Herrera Torrez den Schwenk der Parteigranden: "Es muss jedoch klar sein, ein neues Aufklärungsinstrument allein ist noch kein Allheilmittel." Die Parlamentarier müssten "wirklichen Aufklärungswillen an den Tag legen" und ihrer Aufgabe tatsächlich nachkommen. Sonst drohe einem NSU-Untersuchungsausschuss dasselbe Schicksal wie der Enquête-Kommission.
Ungewöhnlich deutlich wird auch der Grünen-Landesvorsitzende Oliver Hildenbrand, der dafür bekannt ist, den Konflikt mit Gall nicht zu scheuen. Diesmal geht seine Kritik nicht zuletzt an die eigenen Parteifreunde: "Ich erwarte jetzt, dass sich endlich alle Parteien im Landtag zusammenraufen und sich ganz auf die Aufklärung des NSU-Komplexes konzentrieren." Intern gibt es massive Kritik, selbst an Fraktionschef Edith Sitzmann, die sich nicht aktiv um das gekümmert hat, was die Opposition inzwischen "Gutachten-Affäre" nennt. Schmiedel degradierte sie zur Ja-Sagerin - er habe die Zustimmung bei der Vorsitzenden eingeholt, teilte er mit - und umriss auch gleich die Aufgabenfelder des Ausschusses. Themen seien neben dem NSU hiesige Unterstützerstrukturen des Ku-Klux-Klan und die Frage, ob es sich bei der Ermordung der Heilbronner Polizistin Michèle Kiesewetter tatsächlich, wie vom Generalbundesanwalt ermittelt, um eine Zufallstat gehandelt habe. "Ich persönlich glaube nicht", so Schmiedel weiter, "dass es neue Erkenntnisse geben wird." Aber es sei nicht auszuschließen, dass sich, wenn alles noch einmal zusammengetragen wird, weitere Fragestellungen ergäben.
Immerhin hatte das Landeskriminalamt 52 Personen identifiziert, bei denen ein direkter Kontakt zu Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt oder aber zu Verbindungspersonen nachgewiesen sei und eine Spur ins Land frühe. Bis zu 30 Mal könnte das Trios in den Jahren 1993 bis 2001 in Ludwigsburg Besuch gewesen sein. Auf das könnte legt nicht nur Gall größten Wert. Denn bisher sind acht Besuche "konkretisiert", wie es in dem Bericht heißt. Es gibt Zeugen, die aussagen Zschäpe und/oder ihre Freunde gesehen zu haben. Tatsächlich gesichert ist ein Aufenthalt von Böhnhardt und Mundlos im Jahr 2003 in Stuttgart. Denn dazu fanden sich Fotos in der NSU-Wohnung in Zwickau. Und in der riesigen Objekt- und Personenliste, auf der Politiker und Politikerinnnen, Asylbewerber-Unterbringungen oder ausländische Vereine verzeichnet waren, finden sich rund tausend(!) Adressen aus Baden-Württemberg.
"Mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses können wir die Umtriebe des NSU und die Begleitumstände aufarbeiten", verspricht jetzt Sitzmann und betont - nach den Ereignissen mehrere Tage zu spät - "unsere Verantwortung". Es sei konsequent, die Enquête-Kommission vorerst ruhen zu lassen und erst nach Abschluss des Untersuchungsausschusses den Blick nach vorne zu richten. Was grün-intern nicht ganz einfach werden dürfte. Auf der Fraktionssitzung in der nächsten Woche soll auch aufgearbeitet werden, wie es zu dem Desaster kommen konnte. Und dann muss schnell eine Strategie auf den Tisch, um im Ausschuss nicht ebenfalls vor allem Anhängsel der SPD zu sein.