NSU-Komplex erreicht Ultra-Szene

Bei Fankultur.com sollen Fans selbst bloggen.
Erstveröffentlicht: 
04.07.2014

In Fan- und Ultrakreisen sorgt eine Enthüllung im NSU-Komplex für Spekulationen und Verunsicherung. Ein Fanforscher soll vor Jahren als Mitarbeiter des Verfassungsschutzes den V-Mann “Tarif” mitgeführt haben. Er initiierte später ein Netzprojekt, auf dem Ultras und Fans bloggen.

 

Von Patrick Gensing


Martin Thein ist Wissenschaftler, Buchautor und Fanforscher. “Seit geraumer Zeit liegt sein Schwerpunkt auf der Erforschung der deutschen Fußballfankultur”, hieß es im Jahr 2011, als er den “Netzathleten” ein Interview gab.

 

Vor dem Jahr 2011 beschäftigte sich Thein allerdings mit dem Neonazismus, Veröffentlichungen zum Thema Fans sind nicht bekannt. Unter anderem legte er eine “Feldstudie” vor, in der er Dutzende Neonazis und sogar den damaligen Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, interviewte.

 

Im “Kölner Stadtanzeiger” sagte Thein zu den Gesprächen mit den Neonazis, es sei “anfangs beklemmend” gewesen, “da hatte ich schon einen kleinen Kloß im Hals”. Er habe sich “wie in eine andere Welt versetzt” gefühlt, sei “sogar etwas ängstlich und verunsichert” gewesen. Thein habe über Monate keinen Zugang zu Neonazis gefunden:

 

“Von etwa 100 Mails an rechtsextremistische Gruppen kamen nur zwei zurück, und dies waren dann Absagen. Schließlich habe ich einen Telefonkontakt zu Thomas Brehl bekommen. Einem bundesweit bekannten Rechtsextremisten, der in den 1980er Jahren als engster Weggefährte des mittlerweile verstorbenen Neonaziführers Michael Kühnen galt. Brehl konnte ich dann für ein Gespräch gewinnen. Er hat mich in der Szene weiterempfohlen. Dann ging das Schneeballsystem los, und ich bekam immer mehr Interviewpartner.”

 

Eine Darstellung, die nun fragwürdig erscheint. Denn die Autoren Stefan Aust und Dirk Laabs schreiben in ihrem Buch “Heimatschutz”, Thein sei beim Bundesamt für Verfassungsschutz tätig gewesen – und zwar im Bereich Rechtsextremismus. Recherchen in einem NSU-Untersuchungsausschuss stützen diese Darstellung.

 

Thein soll sogar den V-Mann “Tarif” mitbetreut haben – einen bundesweit bekannten Neonazi, der heute in Schweden lebt (Publikative berichtete mehrmals). Sollte dies zutreffen, hätte Thein also bereits professionell Kontakt zu mindestens einem Nazi gehabt, bevor er seine angeblichen Anfragen an Neonazis abgeschickt haben will.

 

Akten geschreddert

 

Hinter dem Tarnnamen “Tarif” versteckte sich Michael See, der für die NPD kandidierte und als ein Vordenker des rechten Terrors gilt. Seine Akte schredderte das Bundesamt für Verfassungsschutz im November 2011 - sieben Tage nachdem der NSU sich selbst enttarnt hatte. Nun ist die V-Mann-Tätigkeit von “Tarif” aber bereits einige Jahre her, die letzten Zahlungen an den Neonazi aus der Kasse des Bundesamts für Verfassungsschutz in Köln konnte der NSU-Untersuchungsausschuss in den Jahren 2002 und 2003 finden. “Tarif” galt als Top-Quelle beim Verfassungsschutz. Offenbar war es kein Problem, sondern eher attraktiv für den Geheimdienst, dass gegen See zuvor bereits wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt worden war; das Verfahren wurde eingestellt. In Haft saß See wegen versuchten Totschlags.

 

Der mutmaßliche Quellenführer Thein dürfte also bereits vor seiner Dissertation einiges gewusst haben über Neonazi-Strukturen und den V-Mann “Tarif”. Zudem hatte “Tarif” beste Kontakte zu führenden Neonazis in Deutschland und Skandinavien; einen ideologischen Schlussstrich zog er offenbar nicht nach seinem Umzug nach Schweden, sondern beschäftigt sich mit brauner Esoterik und Ökologie.

 

Vom Neonazi-Experten zum Fanforscher

 

Thein promovierte indes an der TU Dresden und trat als Autor zum Thema Neonazis in Erscheinung, publizierte 2009 unter anderem in dem “Jahrbuch Extremismus” der Wissenschaftler Jesse und Backes, die die Extremismus-Doktrin des Verfassungsschutzes seit Jahren theoretisch unterfüttern. Theins Studie zum Thema Neonazis lobte das Juso-Projekt Endstation Rechts aus MVP vor allem dafür, dass der Autor “auch Einblick in Dokumente [gehabt habe], die in keiner Bibliothek zu finden sind”. 


Ab dem Jahr 2011 trat Thein dann plötzlich als Fanforscher auf, er initiierte das Netzprojekt “Fankultur.com”, zunächst für wissenschaftliche Zwecke, später sollten Fans dort selbst bloggen. Zudem trat Fankultur.com an Fangruppen für Interviews und Erlebnisberichte heran. Die Reaktionen waren verhalten, da die Macher des Projekts bis dahin weitestgehend unbekannt waren. Auch heute sind die Meinungen über Fankultur.com geteilt, wie beispielsweise aus Köln zu hören ist, wo Thein nach eigenen Angaben als “selbstständige Fachkraft im Bereich Forschung” tätig ist. Einige Fans gehen noch weiter in ihrer Kritik und spekulieren, das ganze Projekt sei möglicherweise vom Verfassungsschutz unterstützt worden. Auf der Facebook-Seite von Fankultur.com fordern Leser daher eine Stellungnahme zu Martin Thein und posten ironisch Grüße an den Verfassungsschutz.

 

Was hat Thein mit Fankultur.com heute noch zu tun? Im Impressum war bis zum 3. Juli 2014 als Projektleiter Christoph Burr aufgeführt, als Postanschrift wurde eine Adresse in Köln angegeben. Unter dieser Adresse konnte aber kein Briefkasten oder Klingel mit entsprechendem Namen gefunden werden. Seit dem Nachmittag des 3. Juli wird in dem Impressum nun eine Adresse in Stuttgart angegeben. Burr erklärte dazu, er sei kürzlich nach Stuttgart umgezogen.

 

“Nichts mehr mit Fankultur.com zu tun”

 

Burr teilte auf Anfrage zudem mit, er betreibe die Seite privat. Thein habe seit Längerem nichts mehr mit Fankultur.com zu tun. Allerdings führt Thein das Projekt selbst noch als Referenz auf (siehe Screenshot unten), auch eine entsprechende Email-Adresse existiert noch – und im Dezember 2012 trat Thein im Namen von Fankultur.com an andere Blogger heran, also vor gut 1,5 Jahren. Burr sagte, ungefähr zu dieser Zeit hätten sich die Wege getrennt – wegen inhaltlicher Differenzen. Dass Thein für den Verfassungsschutz tätig war, will Burr nicht gewusst haben.

 

Eine Tätigkeit, die auch auf die wissenschaftliche Arbeit von Thein bezogen, Fragen aufwirft: Hat Thein möglicherweise Kontakte zu Neonazis, Geheimdienstlern und Erfahrungen mit dem V-Mann “Tarif” genutzt, um seine Dissertation zu verfassen?

 

Fragen, die nur Thein beantworten könnte. Doch bei Facebook hat Thein sich zurückgezogen, Blogger, die mit ihm befreundet waren, hat er mittlerweile entfreundet – oder er hat sein Profil komplett gelöscht. Auffällig ist, dass Thein zuvor den Kontakt zu vielen Personen aus der Fußball-Szene offensiv suchte, sowohl zu Journalisten als auch Fangruppen und Bündnissen. Einige beschreiben sein Vorgehen als “aufdringlich”, andere lehnten eine Zusammenarbeit ab. Thein schaffte es aber innerhalb relativ kurzer Zeit, zu zahlreichen Aktiven und Kennern der Fanszene Kontakte aufzubauen.

 

Das Blog “EricCantona” merkt zu Theins Wirken an: “Her­aus­ge­sto­chen ist sei­ner­zeit zum einen, dass er selbst kaum Bei­trä­ge ver­fass­te, son­dern mehr durch In­ter­views glänz­te, die er im Rah­men die­ser Bü­cher geben durf­te. Zum an­de­ren war auf­fäl­lig, dass er zu einem sehr brei­ten Spek­trum an Teils re­no­mier­ten und pro­mi­nen­ten Per­so­nen Kon­tak­te pflegt. Das muss per se nicht ver­un­si­chern, ist aber auf­fäl­lig.” Auffällig ist auch, dass Thein auf Sammelbände setzte – er gewann bekannte Fachjournalisten und Forscher sowie Fans für seine Publikationen, konnte so zahlreiche Kontakte knüpfen.

 

Aktionismus

 

Nun wurde bekannt, dass Thein für den Verfassungsschutz tätig war - und nicht wenige Blogger und Fans befürchten, diese Verbindung habe noch länger bestanden – in welcher Form auch immer. Theins Wirken erinnert an das Agieren von Verbindungspersonen in anderen Szenen: Äußerst umtriebig werden Kontakte geknüpft, Projekte angeschoben – und man bringt sich selbst ein, um so Credibility zu erreichen und neue Leute kennen zu lernen.

 

Aktive Fans und Fachjournalisten erinnern sich zudem nun an handfeste Gerüchte von vor etwa zwei Jahren, als die Information die Runde machte, der Geheimdienst nehme die Kölner Fanszene massiv ins Visier. Und ausgerechnet in Nürnberg, wo Thein eine “Feldstudie” über Ultras recherchierte, wurde mindestens ein Fan von der Polizei angesprochen, um diesen als Spitzel anzuwerben. Das sind alles keine Beweise, aber zumindest Merkwürdigkeiten.