Eine CD mit Propagandamaterial eines "Nationalsozialistischen Untergrunds" stellt die Ermittler vor Rätsel. Stammt der Datenträger wirklich von der gleichnamigen Terrorzelle, wusste V-Mann "Corelli" vor seinem Tod mehr, als er zugab? Die Bundesanwaltschaft ermittelt.
Paderborn/Berlin - Die Verfassungsschützer fanden ihn am Nachmittag des 7. April. Auf der Kante seines Bettes, in sich zusammengesunken, aus Mund und Nase blutend. Der enttarnte V-Mann Thomas R. war so einsam gestorben, wie er zuletzt gelebt hatte: in einer konspirativen Wohnung am Stadtrand von Paderborn, verborgen hinter heruntergelassenen Jalousien und einer falschen Identität.
Dass ihrem einstigen Topinformanten etwas zugestoßen sein könnte, hatten die Kontaktleute von R. beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) schon länger befürchtet. Das letzte Lebenszeichen hatten sie am 2. April empfangen; um 10.10 Uhr hatte sich der frühere V-Mann - der dem BfV jahrelang unter dem Decknamen "Corelli" zu Diensten war - noch einmal bei seinen Betreuern gemeldet. Das für den folgenden Tag verabredete Treffen, schrieb er per SMS, müsse er leider absagen - er fühle sich krank und läge "flach".
Danach herrschte Funkstille, fünf Tage lang. Der Geheimdienst geriet in Sorge und entsandte zwei Mitarbeiter in den Paderborner Stadtteil Schloss Neuhaus, wo Thomas R. seit knapp sechs Monaten unter dem neuen Namen "Thomas D." lebte. Doch auch auf ihr Klingeln gab es keine Reaktion hinter der von innen verschlossenen Wohnungstür. Die Beamten alarmierten den Vermieter, der das Apartment schließlich aufbrach und gemeinsam mit den Verfassungsschützern den leblosen Körper fand. Ein herbeigerufener Notarzt stellte schließlich den Tod fest und informierte die Polizei.
Der Fall "Corelli" wirft Fragen auf
Der Fund des toten Informanten, der offenbar schon einige Zeit in der Wohnung gelegen hatte, ist mittlerweile zum Politikum geworden. In der vergangenen Woche ließ sich der Innenausschuss des Bundestags in geheimer Sitzung von den Spitzen der Sicherheitsbehörden ausführlich über den Fall berichten.
Der Exspitzel, der fast zwei Jahrzehnte in der rechten Szene spioniert hatte, soll eines natürlichen Todes gestorben sein: Eine Obduktion am 8. April ergab, dass der 39-Jährige an einem zuvor nicht bekannten Diabetes litt; durch einen massiv erhöhten Blutzuckerspiegel war er offenbar in ein tödliches Koma gefallen.
Doch der Fall "Corelli" wirft weitere Fragen auf: Nach SPIEGEL-Informationen hat sich inzwischen die Karlsruher Bundesanwaltschaft in die Ermittlungen eingeschaltet - am 25. April ließ die Behörde die Wohnung des ehemaligen V-Manns durchsuchen. Die Ermittler stellten unter anderem ein Notebook, mehrere Festplatten sowie Speicherkarten und handschriftliche Notizen sicher.
Sie gehen einem schwerwiegenden Verdacht nach: Wusste "Corelli" doch mehr von der rechtsextremen Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU), als er zu Lebzeiten zugab?
Ausgelöst hatte die neuen Ermittlungen ein weiterer V-Mann. Wenige Wochen vor "Corellis" Tod hatte er sich beim Hamburger Verfassungsschutz gemeldet und eine CD mit rechtsextremer Propaganda übergeben. Den Datenträger, so sagte er, habe er bereits 2006 erhalten - von "Corelli".
Die Beamten waren alarmiert: Denn laut Begleittext handelte es sich bei der Propaganda-Scheibe um "die erste umfangreiche Bilddaten-CD des Nationalsozialistischen Untergrunds der NSDAP (NSU)". War damit womöglich die gleichnamige Terrorzelle um die Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gemeint, die sich 2011 mit anonym verschickten DVDs zu zehn Morden und zwei Sprengstoffanschlägen bekannt hatte?
Zumindest von der martialischen Bildsprache her erinnert das Cover der Hamburger NSU-CD an die Bekennervideos des Zwickauer Trios: Unten links ist eine halbautomatische Pistole der Marke Glock abgebildet, darüber der Ausschnitt eines Hitler-Fotos, ein "Wolfsangel"-Symbol und der Schriftzug "NSU/NSDAP".
Wie war "Corelli" an die CD gekommen?
Wie aber - vorausgesetzt, die Angaben des Hamburger V-Manns stimmen - war "Corelli" seinerzeit an die CD gekommen? War er an ihrer Erstellung beteiligt? Und: Warum rückte der Hamburger Verfassungsschutz-Informant erst jetzt, acht Jahre nach der angeblichen Übergabe durch "Corelli", den brisanten Datenträger heraus? Der Hamburger Verfassungsschutz wollte sich dazu auf Anfrage nicht äußern.
Noch sind die Ermittlungen, ob der auf der CD erwähnte "NSU/NSDAP" etwas mit der Terrorzelle NSU zu tun hat, nicht abgeschlossen. Sollte sich der Verdacht jedoch bestätigen, wäre dies ein Beleg dafür, dass das klandestine Mordkommando einem größeren Neonazi-Kreis - und zwei V-Leuten dazu - bekannt gewesen sein könnte. Offen ist allerdings, ob die CD tatsächlich schon im Juni 2006 gebrannt wurde, wie der darauf gespeicherte Zeitstempel nahelegt.
Immerhin: Spezialisten des BKA entdeckten auf der CD bislang mindestens fünf Video-Clips, die sich früher auch auf einem von "Corelli" betriebenen, rechtsextremen Szene-Server befunden hatten. Zusätzlich fragten die Ermittler bei anderen deutschen Sicherheitsbehörden nach, ob dort Kopien der CD bekannt seien. Eine positive Rückmeldung gab es bereits: Bei einer Durchsuchung in Mecklenburg-Vorpommern haben die Fahnder kürzlich einen weiteren Datenträger gefunden, der nach ersten Analysen "teilidentisch" mit der Hamburger CD ist.
Wollte das BfV mit "Corelli" über den ominösen Datenträger sprechen, als es versuchte, seinen Schützling Anfang April zu erreichen? Nein, heißt es in Sicherheitskreisen, es habe sich lediglich um einen turnusmäßigen Routine-Treff gehandelt. Das zeitnahe Auftauchen der CD sei Zufall gewesen.
In der vergangenen Woche reiste die Familie von Thomas R. noch einmal nach Paderborn, um den Nachlass ihres Angehörigen zu regeln. In dessen Wohnung stießen sie auf die Hinterlassenschaft eines Menschen, der ihnen fremd war: keine Fotos, kaum persönliche Gegenstände, nur eine unbenutzte Arbeitsmontur und die leere Verpackung eines Smartphones. Das einzige, was die Verwandten an Thomas R. erinnerte, waren sechs Modellpanzer. Die hatte der V-Mann zeitlebens gesammelt.