Rasterfahndung im Internet – Der permanente Blick in die Glaskugel

Erstveröffentlicht: 
07.02.2014

Das BKA, das bayerische LKA und die Bundeswehr beforschen die automatische Auswertung Sozialer Medien. Mehrere deutsche Universitäten und Fraunhofer-Institute sind ebenfalls an Bord. Von Matthias Monroy.

Wer denkt sich eigentlich Kürzel der EU-Forschungen für Überwachungstechnologien aus? Die Titel, die sich hinter PROACTIVE und CAPER verbergen, sind unaussprechlich. Die Programme wollen jedoch hoch hinaus und versprechen, mithilfe intelligenter Software Straftaten aufzuspüren. In den Projektbeschreibungen heißen die Zauberworte "Fusion" und "Echtzeit", auch das "Internet der Dinge" wird eingebunden. Wer elektronische Alltagshelfer mit Netzanbindung benutzt, kann sich diesen neuen Formen der Überwachung kaum entziehen.

 

Die Industrie hat mittlerweile zahllose "Sensoren" entwickelt, mit denen der öffentliche Raum überwacht werden kann. Hierzu gehören die sattsam bekannten Videokameras, die mittlerweile in einer neuen Generation montiert werden und hochauflösende Bilder liefern. Hinzu kommen Mikrofone und Bewegungsmelder, aber auch Gasdetektoren zum Aufspüren gefährliche Stoffe oder erhöhtem Alkoholgehalt im Fußballstadion (Prag rüstet Überwachungskameras mit Bewegungsanalyse und Geräuscherkennung aus).

 

Bekanntlich kann bereits die Videoüberwachung kaum mehr von Polizisten ausgewertet werden. Immer häufiger wird daher Software eingesetzt, um die Abläufe zu optimieren. So können als "verdächtig" eingestufte Bewegungsabläufe, Geräusche oder Gerüche herausgefiltert werden. Im Falle eines "Treffers" erhält der Bediener eine Ereignismeldung. Auch die Bildersuche in Polizeidatenbanken ist machbar und wird mittlerweile vom Bundeskriminalamt (BKA) praktiziert: Liegen scharfe Standbilder aus der Videoüberwachung vor, kann das Foto mit den polizeilichen Beständen abgeglichen werden. Auch dies kann automatisiert werden.

 

Vor einigen Jahren ist hierzu das EU-Forschungsprogramm INDECT bekannt geworden. Die Teilnehmer entwickeln eine Plattform, um Bilder aus der Videoüberwachung mit Polizeidatenbanken und dem Internet abzugleichen. Berechtigterweise hat das diesen Sommer endende Projekt viel Kritik auf sich gezogen: Bürgerrechtsgruppen und Netzaktivisten hatten sich an dem "Bevölkerungsscanner" abgearbeitet (Überwachung allerorten). Mehrere Polizeibehörden interessieren sich für das Ergebnis, das ebenfalls beteiligte BKA war allerdings ausgestiegen - angeblich wegen des ausufernden Überwachungsgedankens.

 

Die Nachfolger von INDECT

 

Auch andere Forscher entwickeln Anwendungen, um das Internet auszuwerten und Risikoanalysen zu erstellen. Der Informatiker Kalev Leetaru hat unter dem Namen "Global Data on Events, Location and Tone" (GDELT) eine Datenbank mit Millionen Einträgen zu Aufständen, Protesten und Friedensinitiativen errichtet. Sein Ziel ist die Vorhersage der "globalen Politik", indem der "emotionale Ton" in Sozialen Medien oder Medienberichten analysiert wird.

 

Nun finanziert die EU-Kommission weitere Forschungsvorhaben mit ähnlicher Zielsetzung. Wieder steht die Auswertung möglichst vieler Quellen im Mittelpunkt, darunter neben der Überwachung öffentlicher Orte auch Soziale Medien. Neu ist aber, dass die Plattformen polizeilich relevante Vorfälle auch vorhersagen sollen: Die Programme werten hierfür unter anderem Twitter aus. Das nimmt nicht Wunder, denn der Kurznachrichtendienst häuft mit 5.000 Tweets pro Sekunde eine gigantische Datenbank an, die immer verfügbar bleibt.

 

Eines der neueren EU-Programme trägt den Namen PROACTIVE. Der sperrige englischsprachige Titel ist sogar noch zu lang für einen Tweet: Die Rede ist von "vorhersagenden Schlussfolgerungen und der Einbindung mehrerer Quellen zur Stärkung der Vorwegnahme terroristischer Angriffe in städtischer Umgebung". Im Originaltitel wird das Wort "Fusion" benutzt. Gemeint ist die statistische Auswertung polizeilicher Daten in Verbindung mit Informationen von "Sensoren", die über die ganze Stadt verteilt sein können.

 

Besondere Aufmerksamkeit wird aber dem "Internet der Dinge" zuteil. Weil technische Alltagshelfer immer öfter über eine Netzwerkverbindung verfügen, sollen sie der Polizei nun der Verhaltenskontrolle ihrer Nutzer dienen. In der Projektbeschreibung wird betont, dass das System in Echtzeit arbeiten soll.

 

Diese Art von Data Mining, also dem Zusammenführen von Daten mehrerer Quellen, ist in Deutschland allerdings nur im Rahmen von Ermittlungen gestattet. Die EU finanziert deshalb rechtliche und ethische Forschungen, um die Gesetzeslage in den EU-Mitgliedstaaten zu analysieren und mit den neuen Technologien zu synchronisieren.

 

Der Name PROACTIVE markiert übrigens einen neuen Trend in der Strafverfolgung: Im Gegensatz zu "Prävention" soll die die "proaktive Verbrechensbekämpfung" schon greifen, wenn die vermeintliche "Bedrohung" noch gar nicht in Sicht ist. Damit schlägt sich das Konzept von "Gefährdern" bzw. "Gefahrengebieten" nun auch in der Sicherheitsforschung nieder.

 

Bayerisches Landeskriminalamt gehört zu potentiellen "Endnutzern"

 

PROACTIVE wird angeführt vom italienischen Konzern Vitrociset, der auf zivile und militärische Überwachungs- und Transportsysteme spezialisiert ist. Ebenfalls an Bord ist die polnische University of Science and Technology mit Sitz in Krakau, deren Forscher bereits an INDECT geforscht hatten (Nasenhaare in Großformat). Unter den Beteiligten findet sich aber auch die Universität der Bundeswehr in München. Die kurze Beschreibung über die Mitarbeit der deutschen Militärforscher lässt darauf schließen, dass die in PROACTIVE entwickelte Plattform auch Drohnen einbinden könnte – oder aber deren autonome Fähigkeit, schnell Entscheidungen zu treffen. Zuständig ist das Institut für Flugsysteme, dessen Arbeiten zur künstlichen Intelligenz unbemannter Luftfahrzeuge durch PROACTIVE gelobt werden. Diese seien geeignet, eine Situation schnell einzuschätzen und Entscheidungshilfen zu geben.

 

Meist liegen die Kosten der Forschungsprogramme im Sicherheitsbereich zwischen fünf und 15 Millionen Euro, von denen die EU-Kommission dann rund zwei Drittel übernimmt. PROACTIVE wird mit 3,3 Millionen gefördert. Bis Ende April nächsten Jahres sollen Ergebnisse vorliegen, dann kommen die "Endnutzer" zum Zuge. Hinter dem Begriff stecken meist Polizeibehörden, die sich für die Technik interessieren.

 

Für die Anwendung von PROACTIVE interessieren sich Polizeibehörden und Geheimdienste aus Finnland, Zypern, Ungarn, Rumänien und Polen, aber auch das in Italien ansässige Crime and Justice Research Institute (UNICRI). Das UNICRI ist bei den Vereinten Nationen angesiedelt und beschäftigt sich insbesondere mit Forschungen zur Beherrschbarkeit polizeilicher Großlagen (EU will "Koordinator" für Gipfelproteste und grenzüberschreitende Sportereignisse einrichten). Auch das Bayerische Landeskriminalamt hat mindestens zweimal an Workshops von "Endnutzern" teilgenommen.

 

Fusion von "Close Source Intelligence" und "Open Source Intelligence"

 

PROACTIVE soll also den städtischen Raum nach "terroristischen Angriffen" scannen. Damit auch die "organisierte Kriminalität" von der zunehmend automatisierten Überwachung aufs Korn genommen werden kann, finanziert die EU-Kommission das Programm CAPER. CAPER ist teurer als PROACTIVE, die Gesamtkosten belaufen sich auf über sieben Millionen Euro.

 

Wieder steht das Kürzel für einen erschlagenden Titel, der sich in etwa als "Gemeinschaftliche Information, Beschaffung, Verarbeitung, Verwertung und Meldung zur Vorbeugung organisierter Kriminalität" übersetzen lässt. Das System soll die von Kriminellen genutzte Informationstechnologie ausforschen und auswerten. Hierzu gehört insbesondere die "Open Source Intelligence" des Internet, das mit Verkaufsplattformen zum Tatort wird. Gemeint sind öffentlich zugängliche Daten von Webseiten und Sozialen Medien, die sich Behörden immer mehr zunutze machen.

 

Angeführt vom auf Sicherheitsanwendungen spezialisierten Softwarehaus S21sec macht auch das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD bei CAPER mit. Das Institut erklärt auch die Funktionsweise der Plattform: In weiteren Verarbeitungsschritten würden die gewonnenen Daten "semantisch analysiert und visuell so aufbereitet, dass Zusammenhänge oder besondere Ereignisse erkannt werden können".

 

CAPER will Informationen von Diensten wie Twitter aber mit sogenannter "Close Source Intelligence" verbinden. Hinter dem Begriff verbergen sich Informationen, die in Polizeidatenbanken lagern. Diese polizeilichen Daten könnten dann mit Analysesystemen verknüpft werden, die Bilder, Videos, verschiedene Sprachen und biometrische Daten verarbeiten. CAPER soll diese Rasterfahndung in verschiedenen Datenquellen derart vereinfachen, dass sie über ein simples Interface vorgenommen werden kann. Auf diese Weise wollen die Ermittler bislang unentdeckte Informationen finden. Das Projekt läuft noch bis Ende Juni.

 

Ein erster Prototyp war letztes Jahr als "Meilenstein" auf einer Sicherheitskonferenz vorgestellt worden. Dabei wurde eine Erweiterung des Teilnehmerkreises angekündigt. Schon seit Beginn waren die israelische Polizei und die berüchtigten Mossos d'Esquadra aus Barcelona als "Endnutzer" von CAPER registriert.

 

Als neue Beobachter sind nun das britische Innenministerium, der rumänische Geheimdienst und das deutsche BKA an Bord. Dies wäre also mindestens das zweite Vorhaben, in dem sich die Kriminalisten aus Wiesbaden mit dem Blick in die Glaskugel befassen (Universität Freiburg forscht mit IBM zur Vorhersage von Straftaten).