Spanische «Besetzer» verteidigen ihre Revolution

Erstveröffentlicht: 
04.06.2011

 In Spanien besetzt die Jugend die dritte Woche wichtige Plätze in den grossen Städten. Vielen bleiben die Ziele der «Besetzer» unklar, ungeduldige bis boshafte Bemerkungen werden laut. Die Demonstranten verlangen Nachsicht, wie zwei Teilnehmer von Barcelona «tagesschau.sf.tv» erklärten. Es sei, wie wenn ein Buch-Autor noch an der Ausformulierung des Vorwortes wäre.

 

Protestlager nach dem Vorbild von Kairo. Von Madrid sprang der Revolutions-Funke auf Barcelona und andere Städte Spaniens über. Die Bürgerbewegung «Externer Link¡Democracia Real Ya!» (Echte Demokratie Jetzt!) begann am 15. Mai und hält sich beharrlich. 

 

Nach Angaben der Demonstranten in Barcelona versammeln sich auf der Plaça Catalunya tagsüber nach wie vor Tausende – Auch auf kleineren Quartier-Plätzen in der katalanischen Hauptstadt haben sich kleine Gruppen eingerichtet.

 

Die Ausbreitung gehört zu ihrer Devise. Auf ihrer Internetseite Externer Linkacampadabcn.org steht der Schlachtruf: Wir müssen uns ausbreiten und das Wort ergreifen.

 

Ziele der Demonstranten

 

Die Bewegung kämpft für einen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel in Spanien. Sie fordern auf ihrer Webseite eine neue Gesellschaft, welche das Leben höher stellt als politische und wirtschaftliche Interessen. Sie fühlen sich ausgeschlossen und unterdrückt von der kapitalistischen Wirtschaft und dem aktuellen politischen System. Sie fordern eine direkte Demokratie.

 

Wie sie das meinen, ist nicht einfach zu erfahren. Offizielle Ansprechpersonen oder Führungskräfte lehnt die Bewegung strikte ab. Auch Manu Simarro will ausdrücklich nicht als Sprecher betitelt werden, obwohl er in diversen katalanischen und spanischen Medien zu den Anliegen der Protestierenden Stellung genommen hat.

 

«Kopflose Bewegung»


«Ich bin nur ein Mitglied, und was ich dir sage, ist meine eigene Meinung. Wir repräsentieren keine Partei und keine Vereinigung. Und auch uns repräsentiert niemand», betonte der 20-Jährige am Telefon mit «tagesschau.sf.tv», nachdem er schussendlich via Twitter aufzuspüren war. Der junge Journalist ist seit Anfang der Proteste aktiv dabei.

 

Die «kopf- und führungslose» Bewegung führt zu Irritation unter Behörden und Kritikern. Dies spürt auch die Anthropologie-Studentin Edurne Bagué.  «Wir werden kritisiert, weil wir keine Führungsperson haben. Solange wir das nicht haben, sind wir nicht greifbar», erklärte die 34-jährige Protestteilnehmerin.

 

Hippies mit iPhone


Aber auch in der breiteren Bevölkerung und lokalen Zeitungen nimmt die Sympathie für die Besetzer ab. Anfangs habe man sich gefreut, dass es rumore in der Jugend, so die Meinung vieler Leute, die in Barcelona leben.

 

Das Zeltlager gleiche nun mehr einem besetzten Ort, als etwas anderem. Andere sind der Meinung, die Teilnehmer eifern der 68-Bewegung nach, um nachher auf ihrem iPhone zu spielen und die «Revolution» zu zelebrieren. Viele vermissen nach den bald drei wöchigen Protesten konkrete Vorschläge und eine klarere Organisation.

 

«Natürlich sind wir gut organisiert», konterte Simarro. «Wir haben gegen 10 verschiedene Kommissionen, die alles koordinieren und Ergebnisse an den Versammlungen vorstellen.»

 

«Entrüstete» pfeifen auf Politiker


In einer dieser Kommissionen arbeitet Bagué. Dabei geht es um Themen, welche die Teilnehmer beschäftigen und ändern wollen. Sie erarbeiten Vorschläge, die direkt an das Volk gerichtet sind, es sind betont «keine Forderungen» an die Politik. Von der Regierung haben sie genug. «Die bringt es zu nichts», empörte sich die 34-Jährige.

 

Sie wollen eine Politik, die nicht den Unternehmern sondern dem Bürger nützt: «Ministerpräsident Zapatero hat sich während der Wirtschaftskrise mit dutzenden Unternehmern zu Beratungen getroffen, aber nie mit den Bürgerinnen und Bürgern», erklärte Simarro.

 


Eine Versammlung auf der Plaça Catalunya – da werden Vorschläge abgesegnet und über das weitere Vorgehen entschieden. keystone

«Wir wollen Politik, die von der Basis aus gemacht wird», so sehen sie sich auch: als Bürger-Politiker, unpolitisch und gewerkschaftsfern.  Was in den Kommissionen ausgebarbeitet wird, wollen sie unter die Leute bringen. In Quartieren, in Fabriken, in Schulen sollen die Leute mitreden und über Vorschläge abstimmen können – alles unter Ausschluss der Regierung.

 

«Ich lasse mich nicht einen Tag mehr als Schwachsinnigen bezeichnen.»
Francesc - Marc Álvaro, La Vanguardia

Die totalitäre Denkart der «Entrüsteten», wie sich Protestteilnehmer selber nennen, entrüstet wiederum verschiedene Medien. Ein Kommentator schrieb in der Zeitung La Vanguardia: «Ich lasse mich nicht einen Tag mehr von den Entrüsteten als Schwachsinnigen bezeichnen, nur weil ich alle vier Jahre von meinen Wahlrecht Gebrauch mache.» Nur auf dem Boden schlafen, könne die Jugendarbeitslosigkeit von 40 Prozent nicht reduzieren. Nicht nur er, sondern eine breite Bevölkerung erwartet von den Jugendlichen Taten.

 

Ein Roman, der am Entstehen ist


Simarro und Bagué verlangen etwas Geduld. «Es ist ein sehr langsamer Prozess, der noch ganz am Anfang ist», sagte die Anthropologie-Studentin. Der junge Journalist vergleicht ihr Vorhaben mit dem Schreiben eines Buches: Zuerst kommt das Vorwort, dann die verschiedenen Kapitel und am Schluss der Epilog. «Für das Vorwort müssen jetzt erst Lösungen gefunden werden, die kollektiv unterstützt werden. Es ist schwierig, 30 Jahre Politik zurückzudrehen.»

 

«Alle Politiker sollen zur Hölle fahren.»
Edurne Bagué, Protestteilnehmerin

Jeden Sonntag findet eine grosse Versammlung auf der Plaça Catalunya statt, an der über die weitere Besetzung des Platzes entschieden wird. «Uns ist es bewusst, dass wir nicht das Leben lang Plätze besetzen können», sagte Manu Simarro. Die Arbeit in den Kommissionen und Versammlungen sollen danach weitergehen.

 

Einzelne Teilnehmer fordern: bis zum Schluss zu kämpfen. Welches der Schluss ist, sei aber nicht klar, sagte Edurne Bagué. Einzelne fordern den Rücktritt von Politikern. «Eigentlich würde es heissen 'todos los políticos a la mierda' (alle Politiker sollen zur Hölle fahren), aber das ist unrealistisch», sagte sie lachend. Wenn sie mit dem Schreiben des ersten Kapitels beginnen, ergibt sich der Schluss wohl irgendwann von selbst.