Eskalation am Atommüll-Lager

GREIFSWALD - Darauf wird man sich einstellen müssen: Vereinzelt fliegen Demonstranten zu Boden, als sich in der Nacht zum Donnerstag im vorpommerschen Kemnitz der zweite Castor-Transport mit hochradioaktivem Atommüll aus Karlsruhe ins Zwischenlager Lubmin binnen weniger Wochen ankündigt. Kurzzeitig droht die Lage zu eskalieren, als ein Polizist mit lautem Geschrei auf einen Demonstranten zustürmt, ihn zu Boden reißt und mit voller Wucht ohne Vorwarnung ins Gesicht schlägt. Johannes Heimrath, parteiloses Mitglied der Lassaner Stadtvertretung (Ostvorpommern), liegt auf dem Boden, rappelt sich auf, Blut schießt aus seiner Nase - Eskalation am Gleisbett.


Jürgen Suhr kann es gestern immer noch nicht fassen: Demonstranten seien von der "Polizei massiv angegangen worden", erzählt der Landeschef der Grünen aus eigener Erfahrung. Die Beamten seien an der Strecke "ruppig, teilweise gewalttätig" gegen Protestler vorgegangen - "eine völlig unangemessene Reaktion der Polizei". Atomkraftgegner seien ohne Begründung bis zu drei Stunden festgehalten worden, heißt es bei den Demonstranten. Andere hätten sich im Polizeigewahrsam bis auf die Unterwäsche ausziehen müssen.

Weitere Transporte

Die Auseinandersetzungen könnten in den kommenden Jahren an Schärfe gewinnen. Lubmin ist auf dem Weg zum neuen Atomklo Deutschlands zu werden. "Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen", meint Suhr. Kaum ist die 60 Tonnen schwere Atomsuppe aus dem westdeutschen Karlsruhe in dem eigentlich nur für ostdeutschen Atommüll vorgesehenen Lager in MV angekommen, da kündigen sich weitere Transporte an. Die Betreiber würden das Lager "klammheimlich zur Großdeponie für Atommüll aus dem Westen" umfunktionieren wollen, heißt es bei den Grünen. Für die noch sechs freien Castor-Stellplätze gebe es inzwischen drei Reservierungsanfragen, weiß Suhr. "In aller Stille wurden Verträge über die Einlagerung von Atommüll abgeschlossen", erklärte Grünen-Parteichefin Claudia Roth. Offenbar wird der Transport weiteren Castor-Transporte nach Lubmin längst vorbereitet. "Es liegen neun Anfragen und Angebots erstellungen vor", bestätigt die Bundesregierung in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion. Mehr noch: Angaben der Bundesregierung zufolge gibt es darüberhin aus Planung über die Anlieferung weiterer atomarer Reststoffe und Großkomponenten bis 2013.

Bei den Atomkraftgegnern geht die Angst um: Inzwischen wird befürchtet, dass selbst Abfälle aus der maroden Asse nach Lubmin gebracht werden könnten. Innenminister Lorenz Caffier (CDU) wiegelte gestern ab: Es gebe keine Anträge der Energiewerke Nord für ein solches Vorhaben, sagte er in Anklam.

Bereits im Januar hatte der neue Chef der Energiewerke Nord, Henry Cordes, Pläne für eine unbefristete Zwischenlagerung fremder Materialien bekräftigt. Derzeit dürfen radioaktiv verstrahlte Materialien und Anlagenteile, die zur Zerlegung und Behandlung aus fremden kerntechnischen Anlagen nach Lubmin gebracht werden, nur maximal zehn Jahre am Bodden eingelagert werden. Die beim Land beantragte Genehmigung für eine unbefristete Übernahme sei für das Unternehmen notwendig, um weitere öffentliche Aufträge zu sichern und umstrittene Rücktransporte an die Herkunftsstandorte zu vermeiden, hatte Cordes erklärt. Beim Land stoßen die Pläne auf Widerstand - wie auch bei Atomkraftgegnern.

Proteste an 22 Orten

"Die Zeiten der stillen Atommülltransporte in den Nordosten Deutschlands sind definitiv vorbei", betonte Sophie Hirschelmann, Sprecherin des Anti-Atom-Bündnisses Nordost gestern. Bei den Protesten gegen den neuerlichen Transport hatten sich landesweit etwa 600 Menschen beteiligt. Bundesweit wurden Mahnwachen, "Gleisspaziergänge" oder Sitzblockaden an 22 Orten gezählt. "Studenten ebenso wie 65-Jährige", beobachtete Grünen-Chef Suhr: "Immer mehr Menschen machen selbst unter den widrigen Bedingungen der letzten Tage ihre Protest deutlich."

In der Nacht hatten Atomkraftgegner unter anderem bei Ludwigslust, in Schwerin, bei Ribnitz-Damgarten und nahe Stralsund mit Blockadeaktionen den Transport mehrfach aufgehalten. Auf dem letzten Streckenabschnitt hatten mehr als 50 Menschen an vier Stellen die Gleise besetzt.

Massiver Polizeieinsatz

Räumungsauftrag für Tausende Polizisten: Immer wieder schritten sie an der rund 900 Kilometer langen Transportstrecke ein. Rund 6230 Polizisten von Landes- und Bundespolizei waren zeitgleich im Einsatz. Die Polizei zog ein positives Fazit. Der Transport habe sicher sein Ziel erreicht, sagte der Einsatzleiter der Bundespolizei, Joachim Franklin. Zudem seien die Protestveranstaltungen überwiegend friedlich gewesen. Die Polizei wies die Kritik unangemessener Gewaltanwendung zurück. Die Vorwürfe, die Polizei sei "super brutal" gegen Demonstranten vorgegangen, träfen nicht zu, sagte Franklin. Er kündigte eine Prüfung der Vorgänge an. Der verletzte Atomkraftgegner hat inzwischen Strafantrag gegen die Polizei gestellt. Auch Innenminister Caffier sagte eine Prüfung der Beschwerden zu. Bei dem Einsatz zählte die Polizei 17 Festnahmen, sowie 367 Platzverweise und 104 Gewahrsamnahmen. Das waren mehr als beim letzten Castor-Einsatz im Dezember 2010. Damals hatte die Polizei 167 Platzverweise und 74 Gewahrsamnahmen dokumentiert.

Hoffen auf Touristen

Hundertfacher Protest, tausendfacher Polizeieinsatz: Die Anwohner Lubmins wollen von dem Atomstreit nichts mehr wissen. "Na endlich ist er drin, jetzt haben wir wieder unsere Ruhe", meint der Bürgermeister der 2000-Seelen-Gemeinde, Axel Vogt (CDU). Die Lubminer sind zufrieden. "Das mit dem Verkehr hat diesmal schon viel besser geklappt, als im Dezember beim Castor-Transport", so Vogt. Vor zwei Monaten noch waren Kinder stundenlang nicht von Schulen und Kindergärten nach Hause gekommen.

Den wochenlangen Protest hakt die Region ab: Bürgermeister Vogt befürchtet kein negatives Image für das Seebad. "Wir haben stetig steigende Gästezahlen und auch die Hauptsaison 2011 ist fast ausgebucht", erklärt Vogt und hofft auf weitere Touristen - am Atomzaun von Lubmin.