Mehr als 300 Menschen haben am 29.12.2010 in der Leipziger Innenstadt unter dem Motto „Das Schweigen brechen, Rassismus bekämpfen“ demonstriert. Dazu hatte der „Initiativkreis Antirassismus“ aufgerufen. Anlass für die Demonstration war die Ermordung Kamals. Der 19-Jährige war in der Nacht zum 24. Oktober vor dem Leipziger Hauptbahnhof von zwei deutschen Rassisten niedergestochen worden und erlag wenig später seinen schweren Verletzungen.
Mit der Demonstration hat der Initiativkreis auf den rassistischen Mord an Kamal K. aufmerksam gemacht. Nötig ist
dies umso mehr, weil der Fall in der Öffentlichkeit kaum mehr
diskutiert wird. Kamal ist der 6. Mensch der in Leipzig von Nazis seit
1990 ermordet wurde. Bereits im Jahre 2008 wurde Karl-Heinz-Teichmann
nicht weit von jener Stelle ermordet, an der auch Kamal auf seine Täter
traf. Antifaschist_Innen wollen nicht weiter zu lassen, dass Nazis
morden und in Leipzig einfach darüber geschwiegen wird. An einer ersten
Demonstration des Initiativkreises am 4. November hatten etwa 1200
Menschen (Berichte auf Indymedia 1 / 2) teilgenommen.
Der
Initiativkreis hatte in seinem Demonstrations-Aufruf unter anderem
kritisiert, dass öffentliche Reaktionen auf den Fall weitgehend
ausbleiben. Die Staatsanwaltschaft informiert nicht über ihre
Ermittlungsergebnisse. Auch ein Statement des Oberbürgermeisters liegt
nicht vor. Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Fall verharmlost
werden soll. Tatsächlich haben Beamte der Kriminalpolizei jüngst
gegenüber den Angehörigen Kamals erklärt, sein Tod sei keinem
Verbrechen, sondern einem „Unfall“ geschuldet – weil seine Mörder, beide
sind erwiesenermaßen Neonazis, zum Tatzeitpunkt alkoholisiert gewesen
sein sollen.
Für den Initiativkreis ist das eine Schutzbehauptung, sonst nichts.
Unter
den Demonstrierenden waren auch Freunde und Verwandte Kamals, unter
anderem seine Mutter und der Bruder. Sie baten die Moderation der
Demonstration auch mehrmals daraufhin zu weisen, was ihnen die
Kriminalpolizei zu dem Mord an ihren Sohn und Bruder gesagt hat. Die
„Leipziger Internet-Zeitung“ (LIZ) hielt in ihrer Reaktion auf einen LeserInnen-Brief vom Initiativkreis demselben vor:
"Inwieweit Ihr Vorgehen in dieser Sache für die Verwandten Kamal K.s akzeptabel ist, entzieht sich unserer Kenntnis, da wir die Familie in Ruhe (trauern) lassen. Das gebietet allein der menschliche Anstand."
Da
die Familie auf der Demonstration anwesend war, steht es ausser frage,
dass die Initiative nicht ohne Akzeptanz der Familie von Kamal handelt.
Es
wird auch weiter nötig sein, dem Fall die nötige Öffentlichkeit zu
schaffen, damit er nicht wie die anderen 5 Morde in Leipzig
entpolitisiert wird. Bei der Demonstration am Mittwoch ist dies
gelungen, Störungen hat es nicht gegeben. Lediglich ein Anwohner des
Kolonnadenviertels hat in Richtung der vorbeilaufenden Demonstrierenden
eine Reichskriegsflagge geschwenkt.
In den kommenden Tagen werden
auch die Redebeiträge der Demonstration, wieder auf der Seite des
Initiativkreisses veröffentlicht.
An dieser Stelle wollen wir
jedoch einen Redebeitrag der Demonstration vom 29.12.2010 schon
veröffentlichen, er ist 13 Jahre alt und wurde zum Beginn des Prozesses
gegen die Mörder an Achmed Bachir gehalten. An einigen Stellen würde er
heute wahrscheinlich nicht mehr so geschrieben werden, jedoch zeigen
sich viel parallelen in Bezug auf den Umgang mit den ideologischen
Hintergründen der Täter, seitens der Justiz, als auch der Stadt Leipzig.
Redebeitrag der Kundgebung am 29.09.1997 zum Mord an Achmed Bachir
Wir stehen hier an der Stelle, an der Achmed Bachir vor 11 Monaten von deutschen Rassisten erstochen wurde. Heute hat der Prozeß gegen die beiden Mörder vor dem Leipziger Landgericht begonnen. Es ist nicht das einzige, sondern eines von mehreren Gerichtsverfahren, in welchem zur Zeit deutsche Rassisten oder Neonazis angeklagt sind wegen ihrer mörderischen Angriffe auf MigrantInnen und andere Menschen, die dem Bild des "anständigen Deutschen" nicht entsprechen.
Manche werden sich fragen, warum wir heute hier demonstrieren. Schließlich können wir damit weder den toten Opfern helfen noch die Täter bestrafen. Das stimmt - aber eben nur fast. Wir stehen hier, weil die Art und Weise, in der deutsche Justizbehörden diese Morde pflichtgemäß abwickeln, einmal mehr die Motive und die gesellschaftlichen Hintergründe solcher Verbrechen verleugnet. Und somit dafür sorgt, dass sie als unausweichliche Naturkatastrophen hingenommen und die Opfer schnell vergessen werden. Während die Ursachen für den Morde an Achmed Bachir und anderen unangetastet belieben und weiter bestehen.
Erinnern wir uns deshalb zunächst, was geschehen ist:
Achmed Bachir arbeitete hier in diesem Gemüseladen an der Karl-Liebknecht-Straße, letztes Jahr am 23. Oktober. Unmittelbar vor Geschäftsschluss stürmten die beiden Täter Daniel Z. und Norman E., damals 20 und 18 Jahre alt, in den Laden und randalierten. Sie schmissen Obst- und Gemüsekisten um, sie bedrohen die Verkäuferinnen und beschimpfen mit rassistischen Sprüchen: "alte Schlampen, Türkenweiber" brüllten sie. Achmed versuchte die Täter zu beschwichtigen. Er schaffte es noch, sie bis zur Tür zu begleiten. Dann zog einer der beiden Deutschen plötzlich ein Messer und stach zu. Einfach so, ohne Warnung und ohne Skrupel. Wie so oft in diesem Land. Achmed Bachir hatte keine Chance. Für ihn kam jede Hilfe zu spät: er starb kurze Zeit später am Tatort. Die Mörder wurden noch am selben Abend von der Polizei gefaßt.
An ihrer Täterschaft gibt es keinen Zweifel. Umso mehr wird hingegen versucht, die rassistischen Motivationen auszublenden.
Von Anfang an hat die Staatsanwaltschaft Leipzig deutlich gemacht, dass Rassismus als Tatmotiv für sie nicht in Frage kommt. Die rassistische Beschimpfung der Verkäuferinnen, die selbst die Leipziger Lokalpresse nicht leugnen konnte, wurde als belangloses Gerede abgetan: Aus "irgendeinem ausländerfeindlichen Ausdruck", könne man noch nicht auf eine entsprechende Gesinnung schließen, erklärte der Leipziger Staatsanwalt Moser am Tag nach dem Mord gegenüber der Tageszeitung "junge Welt".
An dieser Sichtweise hat sich auch elf Monate später offensichtlich kaum etwas geändert. Nach "umfangreichen ergebnislosen Recherchen" kam Oberstaatsanwalt Röger, der die Anklage gegen Daniel Z. und Norman E. vertritt, zu dem gewünschten Ergebnis: " die bisherigen Hinweise haben den Verdacht eines ausländerfeindlichen Angriffs nicht bestätigt." behauptete er kurz vor Prozessbeginn (jungle world 25.09.97).
Wir fragen uns: was für Hinweise hätten diese Staatsanwälte denn überhaupt durch ihre schwarz-rot-gold gefärbten Brille durchgehen lassen? Vielleicht hätten die Täter erst Mitglied im Bundesvorstand der NPD oder der DVU werden müssen, damit ihre ausländerfeindliche Motivation staatlich anerkannt wird?!
Doch wie der andere zur Zeit laufende Mordprozeß gegen die vier Neonazis aus Wahren zeigt, würde wohl selbst das noch nicht ausreichen: Obwohl dort die Täter offensichtlich zur Wahrener Nazi-Szene um den dort wohnenden NPD-Bundesvorsitzenden Jürgen Schön gehören, schweigt die Leipziger Staatsanwaltschaft sich auch hier beharrlich über die Gesinnung dieser Mörder aus.
Und damit steht sie alles andere als alleine da:
Erinnern wir uns nur an "unseren" sensiblen Oberbürgermeister Lehmann-Grube, dem bis zum 1.Mai dieses Jahres angeblich nie ein rechtsradikales Potenzial in seiner Stadt begegnet sei. Oder seinen Ausländerbeauftragten, welcher den Mord an Achmed Bachir mit den Worten kommentierte: " Es hätte auch irgendeinen Deutschen treffen können".
Oder jenen Journalisten der Leipziger Volkszeitung, der damals die Frage: "Woher kommt nur so viel Gewalt?" für unbeantwortbar erklärte, dafür aber eines ganz genau wusste, nämlich "Hass sät nur neue Gewalt". Gemeint waren damit nicht die Rassisten, sondern die antirassistischen Gruppen, die auf diese Weise mit den Tätern gleichgesetzt wurden.
Tun wir also nicht so, als handele es sich hier nur um einige reaktionäre deutsche Beamte, um ein paar Idioten mit Brett vorm Kopf. Die Linie der Staatsanwaltschaft entspricht im Grunde genau der Art und Weise, wie die deutsche Gesellschaft seit mehr als 50 Jahren mit ihrem Verbrechen umgeht. Mit allen Mitteln wird verleugnet, dass die Täter aus den eigenen Reihen, aus den eigenen Familien, aus dem eigenen rassistischen, antisemitischen Milieu kamen und kommen. Wenn überhaupt, dann waren es immer DIE NAZIS, also die anderen, und auch das waren nur ziemlich wenige verrückte Einzeltäter, angeblich nur unglücklich verführte Mitläufer.
So auch heute: wenn Deutsche sogenannte Ausländer ermorden, soll das nicht mit Ausländerfeindlichkeiten zu tun haben, sondern eher z. B. mit Alkohol, Angst, Arbeitslosigkeit, Familienkrach, schlechte Laune, schlechtem Wetter. Dabei zeigt dies ans Lächerliche grenzende Beliebigkeit, mit der all diese sogenannten Gründe immer wieder zur Entschuldigung der Täter herangezogen werden, vor allem eines: Es genügt offenbar tatsächlich ein nichtiger Anlaß, ein beliebiger Auslöser, damit ganz normale Deutsche zu Killern werden und sie ihre Vernichtungsphantasien in die Tat umsetzen. Manche von ihnen sind organisierte Nazis, andere sind es nicht. Manche sind betrunken, andere sind nüchtern. Wenige werden bestraft, unzählige laufen frei herum. Sie wissen, was sie tun, und vor allem wissen sie, wem sie es anzutun haben.
Aber davon wollen Staatsanwalt und deutsche Öffentlichkeit nichts wissen. Sie wollen nicht aus irgendwelchen rassistischen Äußerungen auf eine entsprechende Gesinnung und schon gar nicht auf eine daraus motivierte Mordbereitschaft schließen. Wie sollten sie auch? Schließlich müssten sie dann auch ihre eigene Ausländerfeindlichkeit, ihre eigenen Vorstellungen von deutscher Ordnung, ihren eigenen Umgang mit dem als fremd Stigmatisierten betrachten und daraus schließen, dass vielleicht auch sie potenzielle Mörder sind.
Und gerade das wollen sie am allerwenigsten. Die anständigen guten Deutschen wollen sich in den mörderischen Taten, die aus ihrem gemeinsamen Ausgrenzungs- und Vernichtungswahn gegenüber Nichtdeutschen entstehen nicht mehr wiedererkennen. Und so können sich die Täter auch weiterhin sicher sein, dass sie für ihr mörderisches Handeln zwar manchmal ins Gefängnis kommen, im Großen und Ganzen aber mit akzeptierender Sozialarbeit, Jugendkulturprojekten, neuen rassistischen Gesetzen, noch umfassenden Kriminalisierung von MigrantInnen und noch schnelleren Abschiebung jener sogenannten Kriminellen belohnt werden. Leipzigs Staatsanwälte und Richter sorgen dafür, dass die Ausblendung des rassistischen deutschen Alltages auch institutionell abgesichert und aktenkundig wird. So wie es aussieht, werden wir sie leider nicht daran hindern können. Aber zumindest ein wenig stören wollen wir sie. Und gehen deshalb gleich weiter zum Landgericht.