Stuttgart 21: Tag des Abrisses spaltet Stadt

Erstveröffentlicht: 
26.08.2010

Stuttgart 21

 

Tag des Abrisses spaltet Stadt

 

Stuttgart - Die Trommelwirbel sind schon von weitem zu hören. Mitten auf der B 27, zwischen Bahndirektion und Hauptbahnhof, flackern Blaulichter. Zwischen dem Polizeikordon sitzen etliche Demonstranten auf dem Asphalt: "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns den Bahnhof klaut." Dessen Nordflügel ist verbotenes Gebiet. Vor dem mit Plakaten geschmückten Bauzaun hat die Polizei Bereitschaftspolizisten aufgereiht, die ein zusätzliches Absperrgitter beschützen sollen. In den Einsatzanzügen stecken junge Gesichter, die den Blickkontakt zum Gegenüber möglichst meiden. Ein Abrissbagger steht bereit. Als dessen Greifarm sich langsam hebt und die Hydraulikschläuche unter dem aufgebauten Druck zucken, schwillt auf dem Bahnhofsvorplatz ein Pfeifkonzert an. "Aufhören, aufhören", skandieren die anfangs rund 800 Demonstranten.

 

Es ist vergeblich. Um 14.25 krallt sich der Greifer in die Dachkante des Nordflügels, eine Staubwolke steigt in den blauen Himmel, Steine fallen. "Das ist eine Schande und Barbarei", schimpft eine Demonstrantin. Es sei beschämend, wie rücksichtslos Stuttgart mit seinen architektonischen Kulturdenkmälern umgehe. "Erst das Kaufhaus Schocken und das Kronprinzpalais und jetzt der Bahnhof."

Hinter dem Bauzaun fliegen weitere Steine

 

Immer wieder beißt sich der Bagger in den Nordflügel. Hinter dem Bauzaun fliegen weitere Steine, vor der Polizeikette wächst die Zahl der Demonstranten. Mittendrin steht einer der prominentesten Kämpfer gegen Stuttgart 21, der Schauspieler Walter Sittler. "Der Abbruch ist ein Zeichen der Überheblichkeit und Ignoranz gegenüber der Bevölkerung." Das Projekt Stuttgart 21 sei zu teuer, seine demokratische Legitimation fragwürdig.

 

Ein Rentnerehepaar aus Waiblingen ist eigentlich zum Einkaufen in die Landeshauptstadt gekommen. Jetzt schauen die beiden konsterniert auf die bröckelnde Fassade. "Der Hauptbahnhof ist doch ein Stück Stuttgart", sagt die Seniorin fassungslos. Für viele Demonstranten ist der Beginn des Abbruchs ein Symbol für die Entfremdung zwischen Staat und Bürgern. "Für mich wird gerade ein alter Freund umgebracht", sagt ein Rechtsanwalt im feinen Tuch. "Der Bonatzbau war eine Insel im Meer der seelenlosen Glas- und Betonmoloche, die die Innenstadt verschandeln."

 

Der Protest ist bestens organisiert. Die Parkschützer verschicken die Nachricht vom ersten Baggerbiss per SMS und E-Mail, "der Tag X ist da". Nach dem Schneeballprinzip geht die Botschaft rund um die Stadt. "Lieber ein Tag Stillstand als 20 Jahre Chaos", heißt es auf Flugblättern, die die Stuttgart-21-Gegner seit langem vorbereitet hatten. Die Stimmung ist friedlich, immer mehr Menschen strömen auf den Arnulf-Klett-Platz. Wo sonst Autos lärmen, spielen einige Demonstranten Frisbee, Pärchen liegen sich in den Armen, einer packt sein Instrument aus, ein anderer schlägt auf seine Trommel. Eine Frau hockt in ihrem Campingstuhl mitten auf der Kreuzung: "Das können die jetzt öfter haben," sagt sie zufrieden.

Der Architekt Roland Ostertag steht in der Menge und kann nicht fassen, was geschieht. "Ich habe eine Wut im Bauch, gleichzeitig ist es zum Heulen." Er verstehe nicht, warum Oberbürgermeister Wolfgang Schuster nicht herkomme und mit den Leuten rede. "Der verschanzt sich in seinem Rathaus wie im Bunker", kritisiert Ostertag. Der Rathauschef betone immer nur, dass Stuttgart 21 ein Projekt der Bahn sei. "Aber es ist doch unsere Stadt."

 

Das Volk ist auf der Straße und schimpft auf die Mächtigen, die seinen Willen missachten – dieser Eindruck drängt sich vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof auf. Es sind junge Mütter mit ihrem Kindern auf Fahrrädern, es sind Geschäftsleute in Anzügen und mit dem Laptop auf der Schulter. Sie kommen nach Dienstschluss und ziehen die Trillerpfeife aus der Aktentasche. Es sind junge Leute, die per Twitter Freunde aktivieren, genauso wie ältere Leute, die zum ersten Mal auf einer Demonstration sind. "So ein Dreckspack, am helllichten Tag mit dem Abriss anzufangen", schimpft eine Rentnerin. Ihr liegt der alte Bahnhof und der Park mit seinen mächtigen Bäumen am Herzen. "Die da oben machen, was sie wollen," sagt sie resigniert.

 

Eine Dreiviertelstunde und länger sitzen einige Autos fest

 

Dieses Gefühl der Ohnmacht, die zur Wut wird, treibt viele an: "Die 67.000 Unterschriften wurden ignoriert, der versprochene Bürgerentscheid nicht gemacht, die Studien der Kritiker werden nicht ernst genommen", zählt ein Mitsechziger auf. Er sei enttäuscht von den Politikern wie Schuster und Mappus, weil die sich nicht einmal den Diskussionen stellen würden, sagt er. Aber bei der nächsten Wahl werde der Denkzettel schon kommen.

Während die Demonstranten in Trillerpfeifen und Vuvuzelas blasen, ertönen auf der Schillerstraße Hupen. Eine Dreiviertelstunde und länger sitzen einige Autos fest, mitunter geht es zwei Meter voran. Später sind ebenfalls der Charlottenplatz und der Wagenburgtunnel komplett blockiert. Vier jungen Leuten in einem Auto, das ausgebremst wurde, fehlt für den Protest das Verständnis. "Warum hängen die an dem alten Kram", sagt der Fahrer. Eine junge Frau hat Verständnis für das Anliegen, nicht aber dafür, dass Straßen blockiert werden: "Ich muss dringend zu einem Termin."

Am Abend stehen die Bagger längst wieder still, die Demonstranten kommen dagegen erst richtig in Fahrt. 6000 sind es laut Polizei, von 30 000 sprechen die Veranstalter. Spontan kommt es zu einer Demonstration über den Cityring; vereinzelt gibt es Rangeleien und teilweise handgreifliche Auseinandersetzungen mit den im Stau steckenden Autofahrern. Aktivisten von Robin Wood und den "Parkschützern" erklimmen den demolierten Bonatzbau und entrollen ein Banner: "Brandstifter Schuster – Raus aus dem Rathaus" ist da zu lesen. Die Polizei lässt sie vorerst auf dem Dach gewähren. Die Gegner wollen bis zur nächsten Großdemo morgen zahlreich vor Ort bleiben: "Heute gehört Stuttgart uns, aber wir brauchen einen langen Atem."