Stuttgart 21
Tag des Abrisses spaltet Stadt
Stuttgart - Die Trommelwirbel sind schon von weitem zu hören. Mitten auf der B 27, zwischen Bahndirektion und Hauptbahnhof, flackern Blaulichter. Zwischen dem Polizeikordon sitzen etliche Demonstranten auf dem Asphalt: "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns den Bahnhof klaut." Dessen Nordflügel ist verbotenes Gebiet. Vor dem mit Plakaten geschmückten Bauzaun hat die Polizei Bereitschaftspolizisten aufgereiht, die ein zusätzliches Absperrgitter beschützen sollen. In den Einsatzanzügen stecken junge Gesichter, die den Blickkontakt zum Gegenüber möglichst meiden. Ein Abrissbagger steht bereit. Als dessen Greifarm sich langsam hebt und die Hydraulikschläuche unter dem aufgebauten Druck zucken, schwillt auf dem Bahnhofsvorplatz ein Pfeifkonzert an. "Aufhören, aufhören", skandieren die anfangs rund 800 Demonstranten.
Es ist vergeblich. Um 14.25 krallt sich der Greifer in die Dachkante des Nordflügels, eine Staubwolke steigt in den blauen Himmel, Steine fallen. "Das ist eine Schande und Barbarei", schimpft eine Demonstrantin. Es sei beschämend, wie rücksichtslos Stuttgart mit seinen architektonischen Kulturdenkmälern umgehe. "Erst das Kaufhaus Schocken und das Kronprinzpalais und jetzt der Bahnhof."
Hinter dem Bauzaun fliegen weitere Steine
Immer wieder beißt sich der Bagger in den Nordflügel. Hinter dem Bauzaun fliegen weitere Steine, vor der Polizeikette wächst die Zahl der Demonstranten. Mittendrin steht einer der prominentesten Kämpfer gegen Stuttgart 21, der Schauspieler Walter Sittler. "Der Abbruch ist ein Zeichen der Überheblichkeit und Ignoranz gegenüber der Bevölkerung." Das Projekt Stuttgart 21 sei zu teuer, seine demokratische Legitimation fragwürdig.
Ein Rentnerehepaar aus Waiblingen ist eigentlich zum Einkaufen in die Landeshauptstadt gekommen. Jetzt schauen die beiden konsterniert auf die bröckelnde Fassade. "Der Hauptbahnhof ist doch ein Stück Stuttgart", sagt die Seniorin fassungslos. Für viele Demonstranten ist der Beginn des Abbruchs ein Symbol für die Entfremdung zwischen Staat und Bürgern. "Für mich wird gerade ein alter Freund umgebracht", sagt ein Rechtsanwalt im feinen Tuch. "Der Bonatzbau war eine Insel im Meer der seelenlosen Glas- und Betonmoloche, die die Innenstadt verschandeln."
Der Protest ist bestens organisiert. Die Parkschützer verschicken die
Nachricht vom ersten Baggerbiss per SMS und E-Mail, "der Tag X ist da".
Nach dem Schneeballprinzip geht die Botschaft rund um die Stadt. "Lieber
ein Tag Stillstand als 20 Jahre Chaos", heißt es auf Flugblättern, die
die Stuttgart-21-Gegner seit langem vorbereitet hatten. Die Stimmung ist
friedlich, immer mehr Menschen strömen auf den Arnulf-Klett-Platz. Wo
sonst Autos lärmen, spielen einige Demonstranten Frisbee, Pärchen liegen
sich in den Armen, einer packt sein Instrument aus, ein anderer schlägt
auf seine Trommel. Eine Frau hockt in ihrem Campingstuhl mitten auf der
Kreuzung: "Das können die jetzt öfter haben," sagt sie zufrieden.
Der Architekt Roland Ostertag steht in der Menge und kann nicht fassen,
was geschieht. "Ich habe eine Wut im Bauch, gleichzeitig ist es zum
Heulen." Er verstehe nicht, warum Oberbürgermeister Wolfgang Schuster
nicht herkomme und mit den Leuten rede. "Der verschanzt sich in seinem
Rathaus wie im Bunker", kritisiert Ostertag. Der Rathauschef betone
immer nur, dass Stuttgart 21 ein Projekt der Bahn sei. "Aber es ist doch
unsere Stadt."
Das Volk ist auf der Straße und schimpft auf die Mächtigen, die seinen Willen missachten – dieser Eindruck drängt sich vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof auf. Es sind junge Mütter mit ihrem Kindern auf Fahrrädern, es sind Geschäftsleute in Anzügen und mit dem Laptop auf der Schulter. Sie kommen nach Dienstschluss und ziehen die Trillerpfeife aus der Aktentasche. Es sind junge Leute, die per Twitter Freunde aktivieren, genauso wie ältere Leute, die zum ersten Mal auf einer Demonstration sind. "So ein Dreckspack, am helllichten Tag mit dem Abriss anzufangen", schimpft eine Rentnerin. Ihr liegt der alte Bahnhof und der Park mit seinen mächtigen Bäumen am Herzen. "Die da oben machen, was sie wollen," sagt sie resigniert.
Eine Dreiviertelstunde und länger sitzen einige Autos fest
Dieses Gefühl der Ohnmacht, die zur Wut wird, treibt viele an: "Die
67.000 Unterschriften wurden ignoriert, der versprochene Bürgerentscheid
nicht gemacht, die Studien der Kritiker werden nicht ernst genommen",
zählt ein Mitsechziger auf. Er sei enttäuscht von den Politikern wie
Schuster und Mappus, weil die sich nicht einmal den Diskussionen stellen
würden, sagt er. Aber bei der nächsten Wahl werde der Denkzettel schon
kommen.
Während die Demonstranten in Trillerpfeifen und Vuvuzelas blasen,
ertönen auf der Schillerstraße Hupen. Eine Dreiviertelstunde und länger
sitzen einige Autos fest, mitunter geht es zwei Meter voran. Später sind
ebenfalls der Charlottenplatz und der Wagenburgtunnel komplett
blockiert. Vier jungen Leuten in einem Auto, das ausgebremst wurde,
fehlt für den Protest das Verständnis. "Warum hängen die an dem alten
Kram", sagt der Fahrer. Eine junge Frau hat Verständnis für das
Anliegen, nicht aber dafür, dass Straßen blockiert werden: "Ich muss
dringend zu einem Termin."
Am Abend stehen die Bagger längst wieder still, die Demonstranten kommen
dagegen erst richtig in Fahrt. 6000 sind es laut Polizei, von 30 000
sprechen die Veranstalter. Spontan kommt es zu einer Demonstration über
den Cityring; vereinzelt gibt es Rangeleien und teilweise handgreifliche
Auseinandersetzungen mit den im Stau steckenden Autofahrern. Aktivisten
von Robin Wood und den "Parkschützern" erklimmen den demolierten
Bonatzbau und entrollen ein Banner: "Brandstifter Schuster – Raus aus
dem Rathaus" ist da zu lesen. Die Polizei lässt sie vorerst auf dem Dach
gewähren. Die Gegner wollen bis zur nächsten Großdemo morgen zahlreich
vor Ort bleiben: "Heute gehört Stuttgart uns, aber wir brauchen einen
langen Atem."