Von Rostock-Lichtenhagen zu Freital

Erstveröffentlicht: 
22.08.2017
Vor 25 Jahren brannte in Rostock eine Asylbewerberunterkunft. Die Prozesse dauerten Jahre, die Politik schränkte das Asylrecht ein. So konnte neuer Rechtsterror wachsen.

Ein Gastbeitrag von Christoph Butterwegge

 

Zum 25. Mal jährt sich das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Im August 1992 griffen dort rassistisch gesinnte Anwohner, aber auch aus weit entfernten Bundesländern angereiste Rechtsextremisten die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber von Mecklenburg-Vorpommern an.

 

Die Gewalttäter attackierten zudem benachbarte Unterkünfte vietnamesischer Vertragsarbeiter mit Steinen und Molotowcocktails. Mehrere Tage herrschte Ausnahmezustand. Zwar wurde niemand getötet, aber eine Gruppe von Migranten wurde in Todesangst versetzt. Ebenso ging es westdeutschen Journalisten, als sie in einem brennenden Wohnheim festsaßen, über das sie eigentlich im Fernsehen berichten wollten.

 

Schon zuvor hatten sich viele politisch Verantwortliche skandalös verhalten. So, dass Beobachter von heimlicher Komplizenschaft mit den Ausländerfeinden sprachen: Roma mussten vor der hoffnungslos überfüllten Asylunterkunft campieren und ihre Notdurft verrichten. Das brachte die Nachbarschaft gegen sie auf und heizte die Stimmung an. Polizeiführung und Mitglieder der Landesregierung versuchten, die Gewalt herunterzuspielen. Danach zog sich die Strafverfolgung hin. Erst fast zehn Jahre später begann das letzte Hauptverfahren wegen versuchten Mordes, schwerer gemeinschaftlicher Brandstiftung und Landfriedensbruchs. Von den 400 Festgenommenen wurde nur etwa jeder Zehnte verurteilt.

 

Der geistige Hintergrund des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen war eine öffentliche Debatte über den angeblich massenhaften Missbrauch von Sozialhilfe "durch Wirtschaftsasylanten". Rechtsextreme Medien, Boulevardpresse und konservative Politiker überboten sich monatelang in der Hetze gegen Flüchtlinge, die sie zu "Asylbetrügern" und "Sozialschmarotzern" stempelten, wodurch sich die Haltung der SPD in der Asylpolitik schrittweise veränderte. Die mediale Stimmungsmache erklärt auch, warum Tausende zuschauten, als Brandsätze auf das Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen flogen. Und warum biedere Kleinbürger und brave Familienväter vor laufenden Fernsehkameras dem brandschatzenden Mob applaudierten.

 

Nur ein paar Wochen später schlossen CDU/CSU, FDP und SPD auf Bundesebene den sogenannten Asylkompromiss. Gemeinsam schränkten sie das Grundrecht auf Asyl drastisch ein. Bis das Bundesverfassungsgericht die Aushungerungs- und Abschreckungspraxis gegenüber Flüchtlingen zehn Jahre später revidierte, erhielten politisch Verfolgte nur noch das Lebensnotwendigste. Dies werteten die Neonazis als Erfolg jener aggressiven Strategie, die sie in Rostock angewendet hatten. Dass Lichtenhagen durch die Herausbringen der angegriffenen Migranten ausländerfrei geworden war, galt als Beweis für die Effektivität brutaler Methoden.

 

Durch die Rostocker Randale gewann der rechte Terror – mehr noch als durch die Belagerung eines Vertragsarbeiterwohnheimes in Hoyerswerda knapp ein Jahr zuvor – eine neue Dimension: Organisierte Neonazis hatten über Ländergrenzen hinweg mobilisiert. Wirkungsvoller als jedes andere zeitgeschichtliche Ereignis hat das Pogrom von Lichtenhagen den Boden für spätere Wahlerfolge der NPD und die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) bereitet. Ohne dieses Fanal hätten sich die ostdeutschen Skinheads nicht so schnell radikalisiert, hätte sich die Kameradschaftsszene vielleicht gar nicht etabliert. Die Kader des Thüringer Heimatschutzes wären möglicherweise nicht zu Rechtsterroristen geworden.

 

Rostock-Lichtenhagen stand lange für das schlimmste Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte. Erst rassistisch motivierte Brandanschläge auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte in Bautzen, Clausnitz, Freital, Heidenau bei Dresden, Tröglitz und anderswo bildeten eine erschreckende Parallele zu Rostock.

 

Daraus müssen wir die richtigen Lehren ziehen. Rassistischen Ressentiments und rechten Parolen wie "Ausländer raus!" oder "Deutschland den Deutschen!" nachzugeben, ist das falsche Signal. Es bestärkt die Neonazis und ruft Nachahmungstäter auf den Plan. Ordnungskräfte, Polizei und Geheimdienste dürfen nicht wegschauen, wenn sich gewaltbereite Rechtsextremisten zusammenrotten, sondern müssen eingreifen, bevor diese angreifen.

 

Wichtig ist, das Denken der rechten Gewalttäter zu ächten – jenes Denken, das sie in der Vorstellung bestärkt, im Namen "des Volkes" zu handeln. Wir brauchen eine politische Kultur, die jeglichen nationalen Dünkel aus der Öffentlichkeit verbannt – etwa aus den Sportnachrichten, wo jede Bronzemedaille eines Deutschen bejubelt wird, während der Sieger anderer Nationalität häufig keines Wortes gewürdigt wird. Wir brauchen Solidarität mit allen sozial Benachteiligten und jenen Minderheiten, die von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werden. Nur in einem sozialen Klima, das (ethnische) Minderheiten nicht ausgrenzt, werden sich solch abscheuliche Vorfälle nicht wiederholen. Unser längerfristiges Ziel muss eine inklusive Gesellschaft sein, die niemanden ausgrenzt, der hier lebt oder Zuflucht vor politischer Verfolgung, Kriegen und Bürgerkriegen sucht.