Unter Verdacht

Erstveröffentlicht: 
18.08.2017

Überwachung

Die sächsische Justiz hat jahrelang Bürger abhören lassen. Ihr Vergehen: Sie haben sich gegen rechts engagiert. Man benutzte sie als Lockvögel

 

Es war so ähnlich wie früher im Stasi-Staat. Beamte in Zivil folgten Holger S. (Name geändert) mit ihrem Dienstwagen. Sie beobachteten ihn in der Freizeit. Sie machten Aufnahmen. „Ich habe ein Foto vorliegen, bei dem ich gerade meine Einkäufe in den Kofferraum meines Autos lege“, sagt S. konsterniert. Der Mann war einer der führenden Leute bei der „Betriebssportgemeinschaft Chemie Leipzig“, einem bekannten örtlichen Fußballverein. Die Fans des Viertligisten gelten als links, als engagiert, manchmal eifernd. Die Staatsanwaltschaft ordnete eine Überwachung an. Sie ging offenbar davon aus, dass sie über die BSG Chemie Aktionen gegen Rechtsradikale und Neonazis ermitteln könnte.

 

Es war eine gigantische Abhörmaßnahme, die sich gegen 14 Leipziger richtete. Allein über Holger S. wurden 24.000 Seiten von Abschriften der Mitschnitte angelegt. Die Behörden wollten so nachweisen, dass der Beschattete einer kriminellen linken Vereinigung angehört habe. Die Gruppe soll in 16 konkreten Fällen Rechtsextreme angegriffen haben. „Die Personen wurden als Nazis beschimpft, verunglimpft und verprügelt“, hatte Oberstaatsanwalt Oliver Möller die Vorwürfe im Herbst, kurz nach Bekanntwerden der Überwachung, begründet. Um den vermeintlichen Tätern auf die Spur zu kommen, warf die Dresdner Justiz ein regelrechtes Big-Brother-Netz aus. 32 Telefonanschlüsse wurden observiert und dabei 838 Telefonkontakte abgefangen. Nach drei Jahren, unzähligen Stunden Ermittlungsarbeit und hunderttausenden Blatt Papier war das Ergebnis bescheiden: Aus Mangel an Beweisen wurde das Verfahren im November 2016 eingestellt. 

 

Journalisten abgehört


Freilich sind die Folgen der Wühl- und Mithörarbeit für einige Betroffene nicht zu Ende. Manche der Abgehörten wissen noch nicht einmal, dass Beamte ihre Telefongespräche mitgeschnitten hatten. Erst im Juli 2017 erhielt zum Beispiel ein Reporter der Leipziger Volkszeitung Post von der Staatsanwaltschaft. Sie informierte den Journalisten darüber, dass er bis Ende 2016 in die Fänge der Spitzel geraten war. Insgesamt acht Monate nach Einstellung des Verfahrens teilten die Behörden ihm die Überwachung mit. Er hatte mit einem der Verdächtigen telefoniert – und war als sogenannter Beifang in die Mitschnittmaschinerie geraten. Die Staatsanwälte wollen den illegal abgehörten Reporter erst so spät informiert haben, weil „zunächst keine Privatanschrift bekannt“ war, teilte Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein dem Freitag mit. „Das ist lächerlich“, erbost sich der Chefredakteur der LVZ, Jan Emendörfer. „Der Kollege lebt seit Jahren in Leipzig und ist auch beim Einwohnermeldeamt registriert.“

 

Der Fall des LVZ-Mannes ist deswegen so heikel, weil Journalisten wie andere Berufsgruppen einen besonderen Schutz vor Abhörmaßnahmen genießen. Daten zu Gesprächen von Berufsgeheimnisträgern dürfen laut Paragraf 160a Strafprozessordnung nicht aufgezeichnet oder verwendet werden. „Dass sich Aufzeichnungen zu Gesprächsinhalten mit einem Journalisten in den Akten befinden, ist ein Skandal“, kommentiert Valentin Lippmann, Landtagsabgeordneter der Grünen in Sachsen. Im Juli wurde öffentlich, dass insgesamt drei Journalisten abgehört wurden. Es geht um einen Kollegen der Leipziger Internet Zeitung, einen freien Autor von Vice und den genannten Redakteur der auflagenstarken Leipziger Volkszeitung. Nach Recherchen des Freitag sind das aber nicht alle Kollegen, die mit in die Abhörfalle gerieten.

 

Aus den Protokollen der observierten Führungskraft Holger S. der BSG Chemie geht hervor, dass er Kontakt zu drei weiteren Journalisten hatte, die im Auftrag von FAZ, Spiegel und taz mit ihm sprachen. Diese Kontakte wurden dokumentiert. Das sei illegal, finden die Betroffenen. Die Staatsanwaltschaft argumentiert, dass der Beifang selbst von Journalisten nicht zwingend zu löschen sei, sondern einer Abwägung unterliege. Dem Vernehmen nach wurden Gespräche mit Journalisten als „Privatgespräche“ angesehen. Für die Journalistin Jennifer Stange zum Beispiel aber war es kein privater, sondern ein Rechercheanruf. Im Auftrag der taz schrieb sie einen Artikel. Dabei ging es um die Verurteilung des Vereins BSG Chemie vor einem Sportgericht, weil seine Fans einen NPD-Funktionär als „Nazi“ beschimpft hätten. Die freie Journalistin, die unter anderem für den Freitag und diverse Radiosender berichtet, ist empört über den Fall. „Er zeigt, mit welcher Dreistigkeit Polizei und Staatsanwalt Persönlichkeits- und Berufsrechte bewusst übergehen“, sagte Stange zum Freitag. „So etwas behindert meine Arbeit, weil es Quellenschutz erschwert.“ Was nicht für die Ohren Dritter bestimmt sei, könne offenbar am Telefon nicht mehr besprochen werden.

 

Das Justizministerium erklärte, dass die Mitschnitte „versehentlich nicht vollständig gelöscht“ wurden. Und Generalstaatsanwalt Klein beruft sich darauf, dass „wegen des Wechsels von Bearbeitern bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft“ bestimmte Mitschnitte nicht getilgt worden seien. Das sei ein Fehler: „Wir haben dies im Nachgang zu dem Ermittlungsverfahren zum Anlass genommen, die Abläufe zu analysieren, um derartige Fehler in der Zukunft zu vermeiden.“

 

Die Geschichte der Bespitzelung von Führungskräften des BSG Chemie Leipzig mutet auf den ersten Blick wie eine Posse der bundesweit berüchtigten sächsischen Justiz an. Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden indes war nicht dämlich, es war strategisch. Die Experten für Observation und Zersetzung des Genossen Feliks Dzierzynski hätten es wahrscheinlich nicht planvoller angehen können. Holger S. ist sich sicher, dass nur deswegen gegen ihn und andere ermittelt wurde, weil sie über den Verein Kontakt zu fußballbegeisterten Linken hatten – und damit zu mutmaßlichen Gegnern der rechten Szene, zum Beispiel rechtsextremen Fans im Umfeld von Lok Leipzig. Holger S. scheint für die Ermittler als Verbindungsmann interessant gewesen zu sein, als Schlüsselperson ins linke Milieu. Wurden also Menschen abgeschöpft, wie es bei der Stasi früher hieß? Wurden sie unfreiwillig zu Spitzeln gemacht – und dabei ihrer Grundrechte auf Privatsphäre und Telefongeheimnis über Jahre beraubt? 

 

Wahllos ins Visier genommen


„Es wurden wahllos Leute zusammengesucht, die sich auf unterschiedlichen Ebenen gegen Neonazis engagieren – egal ob im Stadtteil, im Stadion, im Rahmen von Netzwerkarbeit oder auf Demonstrationen“, erzählt Holger S., der sich seit vier Wochen durch seine 24.000 Seiten Überwachungsprotokolle wühlt. Man habe keinen konkreten Verdacht erwecken müssen, um ins Visier zu geraten. Bei der Überwachung wurden laut Staatsanwaltschaft von über 800 Abgehörten 240 dieser Personen namentlich erfasst. Die Anwälte der Spitzelopfer prüfen nun die Rechtmäßigkeit der Maßnahme. „Die Beschuldigten haben sich teils noch nie im Leben gesehen“, so Holger S. „Es genügten häufige Telefonate mit Personen, damit aus Gesprächspartnern Beschuldigte werden.“ Allein räumliche Nähe diverser Personen hätte dazu geführt, „eine vermeintlich kriminelle Gruppierung zu konstruieren“.

 

Auch ein anderer Verdächtiger, Sozialarbeiter eines Fanprojekts von BSG Chemie, geht davon aus, dass er unbewusst zu einem Lockvogel der Spitzel gemacht wurde. Er geriet ins Visier der Ermittler, weil er eine mögliche Kontaktperson für Linke war. Dem Freitag berichtet er, dass keine konkreten Verdachtsmomente vorgelegen hätten. Er sei allein wegen seines Jobs kriminalisiert worden, glaubt er.

 

Die Telefonüberwachung erfolgte mit einem Instrument, das den Standort bestimmen und Bewegungsprofile von Personen erstellen kann. Auch die Kommunikation über das Internet wurde bei vermeintlichen Verdächtigen überwacht, selbst intime Inhalte wurden dabei abgefischt. Die Ermittler gingen noch weiter: „Bei einer Person, die auch in die Netze der Ermittler gerutscht ist, wurde in einer gegenüberliegenden leeren Wohnung eine Kamera installiert, um dann direkt in die Wohnräume linsen zu können“, berichtete Holger S. Behörden-Unterlagen bestätigen den ungeheuerlichen Verdacht: „Für Observationszwecke erfolgte die Intallation technischer Mittel, namentlich Videokomponenten“, heißt es darin. 

 

Auch Abgeordnete im Beifang?


Laut den vorliegenden Akten wurden auch andere Personen abgehört, deren Daten illegal gespeichert wurden: Rechtsanwälte, Politiker, auch über Ärzte fanden sich Einträge, die aber später wieder gelöscht wurden. Alle diese Personengruppen sind Berufsgeheimnisträger, die unter Paragraf 160a fallen.

 

Bewiesen ist die Abhörung für die jetzige Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linke), damals war sie noch Stadträtin in Leipzig. Bei ihr finden sich knapp 100 Seiten abgehörte Gesprächsprotokolle. „Dabei wurde auch Kommunikation über Stadtratsangelegenheiten aufgezeichnet, was einer Einschränkung der Ausübung eines Mandats gleichkommt“, sagt Nagel auf Nachfrage. Bis März 2014 wurde sie für etwa sechs Monate bei Gesprächen mit einem Verdächtigen abgehört.

 

Aus den Unterlagen des Sozialarbeiters der BSG Chemie geht hervor, dass mutmaßlich auch Daten von damaligen Landtagsabgeordneten im Beifang enthalten waren. Der Sozialarbeiter hat eine Bildungsreise in den sächsischen Landtag organisiert, bei der Fußballfans die Arbeit der Linken-Fraktion vorgestellt wurde. Dabei kam es zu Absprachen mit Verena Meiwald und Volker Külow, beides damalige Abgeordnete der Linken. Ob die Gespräche mit den zwei Politikern ebenfalls aufgezeichnet wurden oder nur die Namen erwähnt wurden, ist aus den Akten des Sozialarbeiters nicht ersichtlich.

 

All das drängt die Frage auf, wie groß die Dimension des Skandals wirklich ist. Der Grüne Valentin Lippmann hat einen Antrag in den Landtag eingebracht, der eine umfassende Aufklärung des gesamten Ermittlungsverfahrens fordert. Sachsens Justizminister wird aufgefordert, umfassend über das gesamte Verfahren zu berichten und aufzuklären, wie viele Berufsgeheimnisträger betroffen waren und warum sie nicht über die Überwachung informiert wurden.

 

Juliane Nagel spricht von einer Normalisierung der illegalen Praxis. Sie will in dem Vorfall eine spezifisch „sächsische“ Dimension erkennen. Es sei „sächsische Normalität“, sagt sie, mutmaßlich links eingestellte Personen zu kriminalisieren. Auf dem rechten Auge seien die Ermittler dagegen blind: „Die Terrorgruppe Freital ist ein gutes Beispiel. Die sächsischen Behörden haben es zuerst abgelehnt, gegen diese wegen einer kriminellen Vereinigung vorzugehen. Daher hat dann die Bundesanwaltschaft übernommen.“

 

Tatsächlich kommt dem Freistaat Sachsen laut einem Bericht von Reporter ohne Grenzen eine besondere Rolle dabei zu, dass die Bundesrepublik auf dem jährlichen Pressefreiheitsindex etwas weiter hinten rangiert. Im Jahr 2016 kommt Deutschland nur auf Platz 16, hinter Jamaika, knapp vor der Slowakei und Australien. Um die Pressefreiheit muss eben auch in Demokratien gerungen werden. Die Platzierung habe wesentlich mit den Übergriffen rechter Demonstranten auf Journalisten in Sachsen zu tun, mutmaßen die Reporter ohne Grenzen.

 

Aus Unterlagen, die dem Freitag vorliegen wird deutlich, dass die Ermittler im Überwachungsskandal nicht lockerlassen. Dem Anwalt eines Beschuldigten wurde von der Staatsanwaltschaft mitgeteilt, dass seit 2015 ein gesondertes Verfahren wegen Verdachts auf Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung läuft. Wie die Maßnahmen aussehen, wurde nicht mitgeteilt. Die Opfer müssen also weiter um ihre Grundrechte bangen. Sie fürchten, dass sie bald wieder observiert werden könnten.