Wenn Gotthard Deuse (69) zehn Jahre zurückblickt, erinnert er sich an ein Mügelner Altstadtfest in ganz entspannter Atmosphäre. „Als ich mit meiner Frau gegen 0.30 Uhr nach Hause gegangen bin, war noch alles Friede, Freude, Eierkuchen. Für mich ist heute noch völlig unklar, wie die Situation so eskalieren konnte“, erzählt der Mann, der seinerzeit für die FDP im Chefsessel der 6000-Einwohner-Stadt saß.
Keine Viertelstunde später – um 0.43 Uhr – ging bei der Polizei ein Notruf ein: Schlägerei beim Altstadtfest. Im Zuge der Auseinandersetzung flüchteten acht indische Besucher in die nahe Pizzeria „Picobello“ eines Landsmanns – verfolgt von 50 Deutschen. Der Mob vor dem Haus riss Pflastersteine aus dem Boden, zertrümmerte Türen, grölte fremdenfeindliche Parolen.
Dann schritten 70 Polizisten ein. Bilanz der Nacht: Acht Inder und vier Deutsche erlitten zum Teil schwere Verletzungen. Hinzu kamen zwei verletzte Polizisten.
Als der Gewaltexzess in den folgenden Tagen bundesweite Empörung auslöste, mühte sich der Bürgermeister, seine Stadt gegen Pauschalurteile in überregionalen Medien zu verteidigen – und ließ dabei keinen Fettnapf aus. Als ihn die Zeitung „Financial Times Deutschland“ auf die Ausländer-raus-Rufe ansprach, soll Deuse gesagt haben: „Solche Parolen können jedem mal über die Lippen kommen.“ In einem Interview des Rechts-außen-Blattes „Junge Freiheit“ teilte der Lokalpolitiker mit, er sei stolz, ein Deutscher zu sein – was angesichts der Vorfälle zumindest missverständlich war.
Deuse ist alles andere als ein Rechtsextremist, doch vielerorts löste sein Agieren Kopfschütteln aus, in der FDP-Führung wurde der Vorwurf der Verharmlosung erhoben.
In der Heimatstadt schadete ihm sein Auftreten indes nicht. Bis 2011 blieb er im Amt. Bei der Verabschiedung in den Ruhestand wurde zu seiner Ehre eine Eiche gepflanzt, ein Gedenkstein gesetzt und ihm der Titel Altbürgermeister verliehen.
Vor zehn Jahren bestritt er einen rechtsextremen Hintergrund der Auseinandersetzung beim Fest. Heute behauptet er, die Ereignisse seien nicht vollständig aufgeklärt.
Fakt ist hingegen, dass die Justiz umfangreiche Aufklärungsarbeit leistete. Nach den Übergriffen wurden fünf Männer wegen Volksverhetzung zu Geldzahlungen oder Bewährungsstrafen verurteilt – zum Teil kamen noch Körperverletzung oder Sachbeschädigung hinzu. Die durchweg männlichen Täter waren allesamt Mügelner oder Leute aus der Umgebung. Ihre indischen Opfer handelten – sofern sie selbst Gewalt anwendeten – laut Justiz in Notwehr.
Das „Picobello“ gibt es noch immer – der einstige Betreiber Kulvir Singh hat der Stadt aber den Rücken gekehrt. Der Inder wohnte 2007 bereits zehn Jahre in Deutschland und fühlte sich als Mügelner. Seit rund acht Jahren lebt er mit seiner Familie im Westen Deutschlands, wie es aus der Pizzeria heißt.
„Egal ob in Mügeln, Berlin oder München. Es gibt überall Rassismus. Je früher man etwas dagegen unternimmt, umso besser lässt er sich vermeiden“, sagt Britta Schellenberg (45). Die Politikwissenschaftlerin aus der bayerischen Landeshauptstadt analysierte die damaligen Diskussionen in der und über die Stadt im Rahmen ihrer Doktorarbeit.
Schellenberg ist überzeugt, „dass es sich definitiv um eine rassistische Auseinandersetzung gehandelt hatte“. Sie unterhielt sich mit Einheimischen, hielt Vorträge. „Es gab viel positives Feedback, aber natürlich auch hin und wieder kritische Stimmen.“
Ein scharfes Urteil fällt Solvejg Höppner. Vor der Pizzeria habe es eine „pogromartige Situation“ gegeben, schätzt die Mitarbeiterin des Vereins Kulturbüro Sachsen ein. „Doch es waren nicht nur Nazis, die davor standen. Auch andere Bürger ließen ihren Vorurteilen freien Lauf. Es war eine Selbstjustiz gegen Menschen. Sie waren bereit dazu, anzugreifen.“ Höppner war 2007 beratend vor Ort, besuchte die Stadt auch danach regelmäßig.
Als der linke Verein „Vive le Courage“ hier gegen Rassismus mobil machen wollte, sei es erneut zu bedrohlichen Menschenaufläufen gekommen. „Auch das waren nicht vorrangig Nazis, sondern Einwohner des Ortes“, berichtet Höppner.
Sie sieht das Problem in der Stadt selbst. „Es ist eine Nichtzulassung von anderen Lebensabläufen. Es gibt eine Idee von Ordnung, Herrschaft und Kontrolle. Was davon abweicht, ist nicht geduldet.“ Der Verein „Vive le Courage“ ist verschwunden.
Der heutige Bürgermeister Johannes Ecke (56, Freie Wähler) betont vor allem die Weltoffenheit seiner Heimat. „Die Geschehnisse von damals sind natürlich zu verurteilen. Wie sich alles genau zugetragen hat, lässt sich aus meiner Sicht schwer beurteilen, da ich damals nicht beim Stadtfest dabei war.“
Ecke fungierte 2007 als ehrenamtlicher Vize des Bürgermeisters. Die Situation habe sich nach diesem Vorfall bereinigt, betont er. „Die Menschen haben erkannt, dass es ausländerfeindliche Attacken gab. Damit sind die Bürger nicht einverstanden und sagen: Wir sind keine fremdenfeindliche Stadt.“
Diese Einstellung habe sich auch bei der Zuwanderungswelle von Flüchtlingen in den Jahren 2015/16 gezeigt. „Aus der Bürgerschaft heraus hat sich eine Initiative entwickelt, die die Asylbewerber bei ihren ersten Schritten in Mügeln begleitet, aufgenommen und unterstützt hat“, so Ecke. Die Stadt sei „multikulti“, denn hier würden unter anderem Libanesen, Iraker, Afghanen und Syrer leben.
Die städtische Kulturmanagerin Kerstin Helbig (37) sieht das nicht anders. „Unsere ausländischen Mitbürger nutzen die Stadtbibliothek, zum Beispiel drei Jungen und ein Mädchen aus Syrien. Es gibt auch Lesungen mit ausländischen Schülern und alles ist entspannt. Die Syrer sind sehr freundlich und fragen viel nach.“
Von einer rechtsextremen Szene
in Mügeln weiß sie nichts – und Bürgermeister Ecke teilt diese
Einschätzung: „Wir als Stadt und die Polizei beobachten ganz ge-
nau,
was sich in Mügeln für Gruppierungen bilden. Zurzeit ist nichts
bekannt, was das linke oder rechte Spektrum betrifft.“ Sein Vorgänger
Gotthard Deuse bringt es auf den Punkt: „In Mügeln ist absolute Ruhe
eingezogen.“