Der Trend setzt sich fort: In Deutschland steigt die Zahl rechtsradikaler Musikveranstaltungen, bis Mitte Juli wurden bereits 13.000 Besucher gezählt. Nutzt der Staat seine Eingriffsmöglichkeiten nicht genügend?
Die Konzertbesucher machten keinen Hehl aus ihrer Gesinnung. Auf ihren T-Shirts Slogans wie „Bin ich zu braun, bist du zu bunt“ und „Bündnis 88 – Die Braunen“. Oder: „Sturm auf Themar. Ich war dabei“. Der 3000-Einwohner-Ort in Thüringen war Mitte Juli Gastgeber wider Willen für eines der größten Neonazi-Konzerte der vergangenen Jahre, zu dem rund 6000 Neonazis kamen.
Zweimal war das Landratsamt gegen das Konzert vor Gericht gezogen und gescheitert. Am Ende durften die Bands unter strengen Auflagen auftreten. Das Konzert wurde nicht aufgelöst, obwohl offenbar etliche Neonazis den Hitlergruß zeigten und „Sieg Heil“ grölten.
So wie Themar werden viele Orte ungewollt zum Schauplatz rechtsextremer Musikveranstaltungen. Ein Blick auf die Zahlen für 2017 zeigt: Der Trend hält an, die Zahl solcher brauner Events nimmt bundesweit zu. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (Linke) hervor, die der WELT vorliegt. Demnach fanden allein von April bis Juni 2017 im Bundesgebiet 47 solche Konzerte und Liederabende statt (seit Jahresanfang: 92).
Hinzu kommen 22 weitere Veranstaltungen im zweiten Quartal, bei denen entsprechende Bands und Liedermacher auftraten. Dazu zählen unter anderem Versammlungen und Kundgebungen, aber auch szeneinterne Feiern wie Geburtstage, Hochzeiten und Sonnenwendfeiern. Im ersten Halbjahr organisierte die extreme Rechte 134 Musikveranstaltungen. Im Vorjahr waren es im gleichen Zeitraum 123 gewesen.
Von Januar bis Juni wurden bisher offiziell knapp 7000 Besucher bei Konzerten und Liederabenden gezählt; von einigen Veranstaltungen sind keine Teilnehmerzahlen bekannt. Inklusive der 6000 Neonazis in Themar haben bis Mitte Juli 2017 also bereits knapp 13.000 Menschen solche Musikveranstaltungen besucht. Das entspricht etwa der Besucherzahl im Zeitraum von Januar bis September 2016 (13.188).
Jelpke äußert sich alarmiert: „Welche Rolle die Netzwerke dieser ‚Begleitmusik zu Mord und Todschlag‘ im NSU-Fall gespielt haben, sollte allen Verantwortlichen noch bewusst sein.“ Man dürfe nicht erst über ein schärferes Vorgehen gegen „diese musikalische rechte Hetze“ nachdenken, wenn sich 6000 Nazis zu einem einzelnen Konzert versammeln. „Mein Eindruck ist, dass Polizei und Verwaltungsbehörden ihren Spielraum für rechtliche Maßnahmen gegen solche Konzerte nicht genug nutzen.“
Die Polizei hat in diesem Jahr noch kein Konzert dieser Art aufgelöst. Zwei Musikveranstaltungen der Szene wurden jedoch im Vorfeld verboten – darunter ein Konzert, das Ende April im nordrhein-westfälischen Hückelhoven geplant war. Untersagt wurde es zwei Tage vorher durch die Stadt, um Verstöße gegen strafrechtliche Bestimmungen zu vermeiden, sagte eine Sprecherin der WELT. Das Verwaltungsgericht Aachen bestätigte die Ordnungsverfügung später im Eilverfahren. Dagegen wurde inzwischen Klage eingereicht.
Auch ein weiterer Trend hält an: Die Rechtsextremen suchen sich für ihre Konzerte und Liederabende weiterhin vor allem Orte in Ostdeutschland aus. Bei 24 der 47 Veranstaltungen von April bis Juni sind die Veranstaltungsorte bekannt. Elf davon fanden in Sachsen statt, fünf in Thüringen.
Neonazis auch aus dem Ausland
„Jede Veranstaltung von Extremisten ist eine Veranstaltung zu viel“, sagte Christian Hartmann, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag, der WELT. Das schließe Konzerte ein, zumal mit der Musik auch Geld verdient werde. Ein Verbot extremistischer Musikveranstaltungen sei aber nur aufgrund gesetzlicher Regelungen möglich, sagte Hartmann.
Birgit Pelke, amtierende Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag, findet es „unerträglich, dass sich Rechte den Freistaat Thüringen als ihren Haupt-Erlebnisort zu eigen machen“. Fünf Konzerte in drei Monaten seien eine bemerkenswerte Zahl. Viele Rechtsradikale reisten auch aus dem Ausland nach Thüringen – etwa Mitglieder von in Deutschland verbotenen Netzwerken wie Blood and Honour.
Wolfgang Fiedler, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag, sagt: Durch eine „konzertierte Aktion“ der Behörden wäre mehr möglich, um solche Veranstaltungen zu erschweren. Von der rot-rot-grünen Landesregierung erwartet der CDU-Politiker, dass „sie die Kommunen in diesem Sinne intensiver berät und die eigenen Möglichkeiten konsequenter ausschöpft“. Damit meint er etwa schärfere Auflagen, etwa zu Besucherzahl und Sicherungsmaßnahmen, und Kontrollen.
Das habe die Regierung im Fall Themar getan, betont hingegen SPD-Politikerin Pelke. Insbesondere das Landesinnenministerium habe seine Expertise angeboten, um die Veranstaltung doch noch zu verhindern. „Leider ist das nicht gelungen.“ Zudem unterstütze man Gemeinden dabei, juristische Schritte gegen Immobilienkäufe durch Rechtsextreme zu unternehmen, indem sie beispielsweise ein Vorkaufsrecht geltend machen. Dadurch soll die Entstehung Veranstaltungszentren der Szene verhindert werden. „Letztendlich ist unser Ziel, es Neonazis so schwer wie möglich in Thüringen zu machen.“
Vor einer Einschränkung oder Präzisierung der Versammlungsfreiheit, wie sie Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) nach Themar ins Gespräch brachte, warnt Pelke: Dieses Grundrecht wäre damit nicht nur für Rechtsradikale eingeschränkt, sondern für alle. Vorerst wolle man daher das von Ramelow in Auftrag gegeben Gutachten abwarten.
Aus der Anfrage der Linken geht zudem hervor, dass in diesem Jahr bereits 41 Tonträger von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien auf den Index gesetzt wurden. 18 davon stammen aus dem Jahr 2016. Rockmusik gilt nach wie vor als wichtigstes Einstiegsmittel in die Szene.