In Halle wird bei einem rechten Angriff ein Student fast getötet. Der Ankläger sieht kein politisches Motiv und die Polizei schweigt. von Frank Jansen
Das Spiel heißt „Bierball“ und ist einer dieser Sommersuffspäße junger Leute. Zwei Teams stehen sich in Parks gegenüber, es wird viel gelacht und getrunken. So ist es auch in der lauen Nacht zum 4. Juni 2016 auf der Ziegelwiese in Halle, einem Naherholungsgebiet an der Saale. Eine Clique Studenten albert beim Bierball herum, Passanten schlendern vorbei, die Wiese ist ziemlich voll, der Freitagabend gleitet mild in den Samstag über. Doch dann kippt die Stimmung. Und ein Student aus Berlin wird beinahe durch Messerstiche getötet.
Offenbar missfiel die Frisur
„Ich hab’ gemerkt, dass Blut an meiner linken Seite runterlief“, sagt Heiko Schmidt, „ich hob das T-Shirt hoch und sah ein Stück von meinem Darm“. Heiko Schmidt ist nicht der richtige Name, den möchte der Student aus Berlin nicht in der Zeitung sehen, auch sonst bitte nur wenige Details zur Person. Beim Treffen mit dem Tagesspiegel erzählt Schmidt beinahe tonlos, was er in Halle erlebte. Als ein Trupp junger Rechter meinte, die Bierballspieler provozieren zu müssen. Vermutlich wegen seiner Frisur und der eines Kumpels, sagt Schmidt. Beide tragen üppige Dreadlocks. Die Haartracht passt ins Feindbildalbum der braunen Szene. Wer mit Dreadlocks herumläuft, gilt als undeutsch. Was dann folgt, ist von diesem Donnerstag an der Stoff für einen Prozess am Landgericht Halle. Angeklagt ist ein Jugendlicher, zur Tatzeit erst 15 Jahre alt, wegen versuchten Totschlags.
Gegen Mitternacht, so erinnert sich Schmidt, stellte sich neben die Bierballspieler die Gruppe der Rechten. „Wir sind Faschos“, habe einer gesagt. Und ob sie ein Bier kriegen. Vielleicht ging es auch um eine „Kippe“. Schmidt gibt ungefiltert wieder, wie er und seine Freunde reagierten. „Die sollen sich verpissen, haben wir gesagt.“ Prompt habe ein der Rechten „einem aus unserer Gruppe ins Gesicht geschlagen“. Schmidt und ein Kumpel nahmen den Angriff nicht hin, „wir haben angefangen, uns zu wehren. Es war sehr unübersichtlich“.
Notoperation im Krankenhaus
Schmidt weiß noch, dass er am Boden lag, dass Freunde dazwischen gingen, dass die Rechten weiter attackierten. Und dass er am T-Shirt das Blut sah ohne großen Schmerz zu spüren. Schmidt war offenbar benommen. Freunde riefen einen Krankenwagen, im Universitätsklinikum Halle wurde der Student notoperiert. Die Ärzte stellten neun Stichverletzungen fest. Am Bauch, an der Brust, am linken Arm, an beiden Oberschenkeln. Die Milz war durchstochen. Die Ärzte mussten sie entfernen.
Halle ist einer der Brennpunkte rechter Kriminalität in Sachsen-Anhalt. Die Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt nennt in ihrer Chronik für 2016 insgesamt 23 Angriffe. Es trifft meist Migranten, von Prügelattacken bis hin zu einem Brandanschlag auf eine Unterkunft von Flüchtlingen. Aber auch Linke werden Opfer, der Fall Schmidt steht in der Chronik nicht allein. Er ist allerdings der einzige aus Halle, den Sachsen-Anhalt dem Bundeskriminalamt als rechts motiviertes Tötungsdelikt gemeldet hat. Im März 2017 erwähnt die Bundesregierung auf Anfrage der Abgeordneten Martina Renner (Linke) den Angriff in einer Liste mit lebensbedrohenden Gewalttaten rechter Täter.
Die Strafverfolger in Sachsen-Anhalt sind jedoch uneinig. Für die Staatsanwaltschaft Halle ist in der Messerattacke kein rechtes Motiv zu erkennen. „Das gefällt mir überhaupt nicht, die Geschichte in so eine Ecke reinzudrücken“, sagt Staatsanwalt Klaus Wiechmann. Die Frage, ob der Angeklagte der rechten Szene zuzuordnen sei, wehrt er ab, „nein, nein, das ist ein 16-Jähriger, nee“. Kann ein Jugendlicher kein Rechtsextremist sein? Wenn selbst die Bundesregierung den Fall als rechtes Tötungsdelikt nennt? Wiechmann ist genervt, „die Bundesregierung war nicht dabei“. Dann belehrt er: „Wir machen kein Gesinnungsstrafrecht, es wird die Tat bestraft, nicht die Gesinnung.“ Ende des Telefonats. Der Angeklagte selbst schweigt, doch Freunde von Schmidt belasten ihn.
Ein weiterer Angriff
Die Polizei verweist auf den Prozess und äußert sich sonst nicht. So bleibt offen, ob die Vorwürfe stimmen, die Schmidts Freunde erheben. Nachdem er ins Krankenhaus gebracht war, soll es auf der Ziegelwiese einen weiteren Angriff der Rechten gegeben haben, im Beisein der Polizei. Ein Beamter habe über Schmidts hilfesuchende Freunde gesagt, „wir können denen ja auch noch den Hintern abwischen, wenn sie das auch noch wollen“, erinnert sich ein Zeuge.
Heiko Schmidt scheint den Messerangriff halbwegs überstanden zu haben. Ohne die Milz sei sein Immunsystem geschwächt, sagt er. Und „ab und zu habe ich Schlafstörungen“. In Halle hat er nochmal Freunde besucht, „aber zur Ziegelwiese gehe ich nicht mehr hin“.