Verzweigte Spur einer Mordwaffe

Erstveröffentlicht: 
12.06.2017

Um viele Puzzleteile im Prozess zur Terror-Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" ranken sich Verschwörungstheorien. Auch zur Herkunft der Waffe der Mordserie. Doch der Hypothese von der Stasi-Quelle folgen selbst Verteidiger aus der Neonazi-Szene nicht.

Von Jens Eumann

 

Chemnitz/Jena/München. Scharfschützen nutzen ihn, um ihren Standort vorm Gegner zu verschleiern. Bei der Jagd in bewohnten Gebieten schrauben Jäger ihn auf, um Lärmbelästigungen zu vermindern. Kampfeinheiten verwenden ihn, um ihr Gehör zu schonen. Im Prozess zum Terror des "Nationalsozialistischen Untergrundes" (NSU) aber gilt der Bundesanwaltschaft ein Schalldämpfer einzig als Werkzeug für leises Töten.

 

Auf diesem Umstand fußt im NSU-Prozess, der seit vier Jahren am Oberlandesgericht München läuft, der Vorwurf Beihilfe zum Mord, den die Bundesanwälte gegen zwei Mitangeklagte der mutmaßlichen Rechts-Terroristin Beate Zschäpe erheben. Während andere Helfer, die dem Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im Untergrund Waffen geliefert haben sollen, teils nicht mehr zu belangen sind, weil ihre Taten sich in illegalem Waffenhandel erschöpften und verjährt sind, verjährt Beihilfe zum Mord, wie Mord selbst, niemals.

 

Zu diesem Vorwurf müssen sich Carsten S. und Ralf Wohlleben verantworten. Wohlleben, ehemaliger Kreischef der Jenaer NPD, soll die schallgedämmte Ceska-83-Pistole finanziert haben, mit der Mundlos und Böhnhardt von 2000 bis 2006 neun ausländische Gewerbetreibende erschossen haben sollen. Der damals heranwachsende Carsten S. soll dem Trio die Pistole an dessen ursprünglichen Unterschlupfort Chemnitz gebracht haben.

 

Laut Bundesanwaltschaft nahmen Wohlleben und Carsten S. dabei bewusst in Kauf, dass es sich um ein Utensil für heimtückische Morde handelte. Deshalb sind für ihre Hilfsdienste um die Tatwaffe im Prozess auch die höchsten Strafen zu erwarten - von der Anklage gegen Beate Zschäpe einmal abgesehen. Ihr wird volle Mittäterschaft an allen Morden, Überfällen und Anschlägen des NSU vorgeworfen.Aus Sicht der Bundesanwälte ist die Lieferkette der Ceska 83 belegt. Nachdem ihre oberflächlich weggefeilte Seriennummer 034678 in aufwändigem Ätzverfahren wieder sichtbar gemacht worden war, ließ sich die Spur vom Waffengroßhändler Jan Luxik im Schweizerischen Solothurn übers Berner Waffengeschäft Schläfli-Zbinden zum Schweizer Erstkäufer nachverfolgen. Von diesem soll die Schalldämpfer-Ceska über einen windigen Geschäftsmann mit Kontakten nach Thüringen bis in die Jenaer Neonazi-Boutique "Madley" gelangt sein.

 

Deren Co-Betreiber gestand, Wohlleben und Carsten S. auf Bestellung eine Schalldämpfer-Waffe verkauft zu haben. Dass dies besagte Ceska 83 mit der Nummer 034678 gewesen sein muss, ergibt sich laut Bundesanwaltschaft aus deren Verkaufsweg. Dass dieser einwandfrei belegt sei, bestreitet die Verteidigung Ralf Wohllebens seit Prozessbeginn. Wohlleben selbst schwieg bis in die letzte Prozessphase. Seitdem behauptet er, mit dem Kauf gar nichts zu tun gehabt zu haben. Doch wird er von dem weitgehend geständigen Carsten S. schwer belastet.

 

Im Zuge der Ermittlungen - wie auch im Münchner Prozess - kam es mehrfach zu Unstimmigkeiten bezüglich der Zeit der Waffenlieferung. Im Februar 2012 war Carsten S. festgenommen worden, laut Mitteilung der Bundesanwaltschaft zunächst unter dem Verdacht, dem Trio "zwischen 2001 und 2002" eine Waffe geliefert zu haben. Wäre das so gewesen, hätte es entweder nicht die Mordwaffe sein können, oder aber die ersten Morde der bereits im September des Jahres 2000 begonnenen Serie hätten von anderen Tätern verübt worden sein müssen.

 

Im Zuge späterer Vernehmungen korrigierte die Bundesanwaltschaft ihre zeitliche Eingrenzung. Die Lieferung sei schon vor den ersten Morden passiert und es habe sich um die schallgedämmte Tatwaffe Ceska 83 gehandelt.

 

In der frühen Prozessphase kamen an dieser Version erneut Zweifel auf. Denn Carsten S. entsann sich, am Tag der Waffenübergabe in Chemnitz mit Mundlos und Böhnhardt das Café der "Galeria" Kaufhof besucht zu haben. Besagte "Galeria" allerdings war erst im Oktober 2001 eröffnet worden. Erneut schwebte die Frage im Raum, wer in dem Fall mit der Tatwaffe die vier bis Oktober 2001 bereits geschehenen Morde hätte verübt haben sollen. Carsten S.' weitere Vernehmung nahm solchen Spekulationen den Wind aus den Segeln. Auf den augenscheinlichen Widerspruch hingewiesen, erklärte S. an einem der folgenden Prozesstage, er habe zwar von der "Galeria" Kaufhof gesprochen, damit aber nur ein Geschäft gemeint, das an die "Galeria" Kaufhof in seinem zwischenzeitlichen Heimatort Düsseldorf erinnere. Diese Beschreibung löste den unlösbar scheinenden Widerspruch auf. Das steinerne ehemalige Kaufhof-Gebäude "Tietz" in Chemnitz gleicht der Düsseldorfer "Galeria" Kaufhof in der Tat und zwar weit mehr als jener markante Glasbau des in Chemnitz erst später "Galeria" genannten Kaufhofs.

 

Zu späterer Prozessphase warf Beate Zschäpe dann neues Licht auf eine alte Spur. Der sächsische Kopf der im Jahr 2000 verbotenen Neonazi-Vereinigung "Blood & Honour" habe dem Trio eine der ersten Waffen besorgt. Auch dabei habe es sich um eine Schalldämpfer-Pistole gehandelt, erklärte Zschäpe. Gegenüber der "Freien Presse" bestritt der mutmaßliche Chemnitzer NSU-Helfer Jan W., je Waffen beschafft zu haben. Warum Zschäpe das erfinden solle, könne er sich nicht erklären, sagte Jan W. Immerhin passt Zschäpes Aussage zu jenem Tipp, den der Brandenburgische Verfassungsschutz-V-Mann "Piatto" bereits im Herbst 1998, also noch vor dem ersten NSU-Überfall, weitergegeben hatte. Konkret: Jan W. sei vom Trio beauftragt worden, eine Waffe zu besorgen. "Der hätte alles behauptet, sogar seine Mutter verkauft, wenn es dafür Haftverkürzung gegeben hätte", behauptet Jan W. über den V-Mann, der sich heute im Zeugenschutz befindet. Immerhin habe der Mann mit dem Klarnamen Carsten Szczepanski, der erst später als V-Mann enttarnt wurde, vormals andere Neonazis, die auf Waffensuche bei ihm vorsprachen, auffliegen lassen, sagt W. Insoweit entspricht seine Aussage den Fakten.

 

Der Umstand, das Szczepanski potenzielle Waffenkäufer ans Messer lieferte, sei damals auch schon in der Szene bekannt gewesen, behauptete Jan W. im Gespräch mit der "Freien Presse". Das allerdings will so gar nicht zu jenem anderen Umstand passen, den Jan W. auch nicht erklären kann. Zur fraglichen Zeit seiner angeblichen Waffenbeschaffung im Jahr 1998 wurde Jan W.s Handy abgehört. Aus dieser Überwachung ist eine SMS-Nachricht überliefert, die von Jan W.s Handy ausgehend auf dem Handy von Szene-Spitzel "Piatto" einging. Die Botschaft war kaschiert, aber vor dem jetzt bekannten Hintergrund dennoch verständlich: "Hallo, was ist mit den Bums?"

 

Angesichts dieser Fakten und Zschäpes Aussage forderte Ralf Wohllebens Verteidigerin Nicole Schneiders vor der im Prozess jüngst abgelaufenen Frist für letzte Beweisanträge, der Chemnitzer Waffenspur noch einmal nachzugehen. Zumal Jan W. viele Kontakte in die Schweiz gehabt habe. Dass die Mordwaffe aus der Schweiz stammt, scheint somit selbst die Szene-Anwältin zu glauben. Bei einem Großteil der Verschwörungstheoretiker, die sich im Internet tummeln, ist das anders. Im Netz wird besonders über zehn schallgedämmte Ceska-83-Pistolen aus Stasi-Beständen orakelt. Diese waren nach der Wende in den Fundus des BKA übergegangen.

 

Zusammen mit ihrem jetzigen Mandanten Wohlleben führte Nicole Schneiders in Jena einst den Kreisverband der NPD. In ihrer Heimat Baden-Württemberg hielt sie mitunter Schulungen in Sachen Recht für Kader der Neonazi-Szene ab. Sie steht demnach dieser Szene nahe und somit kaum im Verdacht, der Bundesanwaltschaft als Anklagebehörde die Stange halten zu wollen. Dennoch rechnete sie im Gespräch mit der "Freien Presse" mit Verschwörungstheoretikern ab, die das Internet mit teils haarsträubenden, weil völlig unbelegten, Hypothesen fluten und dazu Teile der durchgesickerten Prozessakten ins Netz stellen, sehr selektiv versteht sich. "Da wird alles unterschlagen, was nicht in die Verschwörungstheorie passen will", sagt Schneiders. Einen inzwischen als Bauunternehmer aus dem Vogtland geouteten Theoretiker, der sich "Fatalist" nennt, erwähnt Schneiders explizit.

 

Zunächst werde ausgewählt - manches werde passend gemacht. Schneiders entsinnt sich jenes Vergleichs von einem Foto der verkohlten und rostigen Ceska, wie sie aus dem Brandschutt des von Beate Zschäpe angezündeten Zwickauer Hauses Frühlingsstraße 26 gezogen wurde, mit einem weiteren Bild angeblich neueren Datums. Nach Angaben der Verschwörungsanhänger im Netz soll das neuere Bild im NSU-Prozess verwendet worden sein und nach Version der Ermittler die angeblich selbe Waffe zeigen.

 

Der Vergleich beider Bilder lässt in der Tat schon auf den ersten Blick stutzig werden. Nicht nur, dass das angeblich aus dem Prozess stammende, jüngere Ceska-Foto eine penibel saubere statt einer rostigen Waffe zeigt. Auf den Waffenschlitten beider Fotos ist auch das Wort "CZECHOSLOVAKIA" zu sehen. Allerdings mutet der zweite Buchstabe des Wortes auf der rostig-verkohlten Version der Waffe als oben gerundete "2" an. Auf dem neueren Bild ist es anders. Dort steht eindeutig ein "Z" auf dem Waffenschlitten, sodass statt "C2ECHOSLOVAKIA" in der Tat "CZECHOSLOVAKIA" zu lesen ist. Auch dieser Spur ging Wohlleben-Verteidigerin Schneiders nach, doch entpuppte sich der angebliche Widerspruch für ihren Mandanten als wenig hilfreich. "Wir leben im Zeitalter von Photoshop", winkt die Anwältin ab, "was glauben Sie, was so alles im Netz zu finden ist."