Mladen Gladić Wer klagt hier an? NSU-Tribunal Ein Aktionsbündnis will in Köln den Opfern rechtsterroristischer Gewalt zu Gerechtigkeit verhelfen
Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter: zehn Menschen, die zwischen 2000 und 2007 von Rechtsterroristen ermordet wurden. In Nürnberg und Hamburg, München und Rostock, Dortmund, Kassel und Heilbronn. In der Bundesrepublik Deutschland.
Die Terroristen haben auch drei Bombenanschläge verübt. Im Januar 2001 explodiert ein Sprengsatz in der Kölner Probsteigasse. Eine 19-Jährige wird verletzt. Im Juni 2004 detoniert eine Nagelbombe in der Keupstraße im rechtsrheinischen Kölner Stadtteil Mülheim. 22 Menschen erleiden teils lebensgefährliche Verletzungen. Schon im Juni 1999 verwundet eine Rohrbombe einen 18-Jährigen in Nürnberg. Bei 15 Banküberfällen schließlich erbeuten die Terroristen bis 2011 eine Summe von rund 600.000 Euro. Dass die genannten Verbrechen von Neonazis verübt wurden, davon ahnte die Öffentlichkeit lange nichts.
Erst als sich zwei der Terroristen im November 2011 nach einem Banküberfall in Eisenach und einem Schusswechsel mit der Polizei selbst getötet hatten, am selben Tag eine Wohnung in Zwickau ausbrannte, sich einige Tage später eine ihrer Bewohnerinnen bei der Polizei in Jena stellte, nachdem die Tatwaffe in der Mordserie, eine CZ 83, Kaliber 32, und ein Bekennervideo zu den Anschlägen gefunden wurden, war klar, dass man es mit so etwas wie einer „Braunen Armee Fraktion“ zu tun hat. Seither tagten und tagen zwölf Untersuchungsausschüsse. Es läuft ein Prozess vor dem Oberlandesgericht München gegen fünf Angeklagte, Aktenzeichen 620. Letzte Woche wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Neun Verfahren gegen Unbekannt und ein Strukturermittlungsverfahren gibt es.
Migrantisches Wissen
Das reicht nicht, findet das „Tribunal NSU-Komplex auflösen“, ein Zusammenschluss mehrerer Initiativen zur Unterstützung der Opfer. Es tagte jetzt in Köln. Es reicht nicht, weil die Gerichtsverhandlung nur einen Bruchteil dessen untersucht, was den „NSU-Komplex“ bildet, also alles, was zu den Taten des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds führte. Dazu gehört, dass der wahre Charakter dieser unerhörten Gewaltserie so lange unsichtbar blieb. Und dass er noch immer nur in Teilen sichtbar ist, wie Spitzen eines Eisgebirges.
Das Münchner Verfahren sei Teil des Problems, nicht der Lösung, weil die Betroffenen darin nicht gebührend zu Wort kämen, finden die Aktivisten in Köln. Deshalb veranstalte man ein eigenes Tribunal, ohne ein Urteil zu fällen, sagt Projektsprecher Tim Klodzko auf einer Pressekonferenz. „Das Urteil obliegt der Zivilgesellschaft.“
In München wiederholt sich, was vor der Selbstenttarnung des NSU 2011 diskriminierende Praxis der Ermittlungsbehörden war: Statt auf die Angehörigen und Opfer zu hören, die schon früh die Vermutung geäußert hatten, dass die Verbrechen eigentlich nur auf das Konto von Ausländerfeinden gehen könnten, ermittelte man vor allem gegen die Opfer und deren Familien selbst. Und so wurden diese, im Konzert mit einer Presse, die gerne über „Dönermorde“ unter orientalischen Mafiosi spekulierte, stigmatisiert und kriminalisiert. Auch dann noch, als Hinterbliebene unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ in Kassel und Dortmund demonstrierten und die Vermutung, es hier mit mordlüsternen Neonazis zu tun zu haben, öffentlich machten. Das war schon 2006.
Die Unterdrückung solchen auch spezifisch migrantischen Wissens, das sich aus den Erfahrungen als Einwanderer in eine oft feindliche neue Lebenswelt speist, ein Wissen, das auch eines von Kämpfen gegen Rassismen ist: Das Kölner Tribunal will diesem Wissen ausdrücklich eine Plattform, eine Bühne, ein Forum bieten.
Nicht nur dadurch, dass es migrantisches Wissen nicht hinreichend würdigt, ist das Münchner Verfahren ein Symptom des Problems. Wie juristisch kaum anders möglich, wird die Verantwortung für die Verbrechen bei Einzelnen gesucht. Das kann indes den Anschein erwecken, es habe eine isolierte Gruppe von Einzeltätern gemordet. Dagegen spricht, dass die Terroristen sich auf ein umfangreiches Netzwerk verlassen konnten. Anders ist ihr jahrelanges Agieren aus der Anonymität heraus kaum denkbar. Dass viele mutmaßliche NSU-Unterstützer als V-Leute des Verfassungsschutzes geführt wurden, dass der Verfassungsschutz selbst, indem er sie unterstützte, zum Aufbau von neonazistischen Netzwerken beitrug: All das macht ein Verfahren, das sich nur auf die Schuld einiger weniger konzentriert, hochproblematisch, so der Tenor in der Domstadt.
Im Kölner Schauspiel, wo das Tribunal in nächster Nähe zum Tatort Keupstraße tagt, geht man sogar noch weiter: Die „akzeptierende Jugendarbeit“ der frühen Jahre nach der Wende etwa, ein Konzept, das während Angela Merkels Amtszeit als Jugendministerin Konjunktur hatte, habe befördert, dass aus manchen Jugendzentren zwischen Solingen und Jena (lesen Sie dazu auch die Reportage auf S. 23) Zentren neonazistischer Organisation wurden. Struktureller Rassismus in Gesellschaft, Presse und Staatsapparat, Vertuschung von Fehlern, Versäumnisse und Verstrickungen: Vieles, was das Tribunal in Köln beklagt, ist justiziabel – und muss Gegenstand von weiteren Gerichtsverhandlungen werden.
Fälle wie etwa die Anwesenheit des Verfassungsschützers Andreas Temme in dem Internetcafé, in dem Halit Yozgat das neunte Opfer der Mörder wurde. Von den Schüssen auf Yozgat will Temme nichts gehört haben, eine Durchsuchung bei ihm förderte Nazipropaganda und Waffen zutage. Mit einer Rekonstruktion des Cafés im Maßstab 1:1 und einem Reenactment, einem Nachspiel der Minuten rund um die Tat, hat die Londoner Gruppe „Forensic Architecture“ die Version Temmes höchstwahrscheinlich widerlegt. Vor dem Münchner Gericht durften sie nicht aussagen. In Köln kommen die Erkenntnisse der Forensik-Experten aber auf den Tisch. Eine solche Einbeziehung künstlerischer Praktiken in die Untersuchung rechtsterroristischer Umtriebe kann – auch in Zukunft – vielleicht dabei helfen, einer Auflösung des NSU-Komplexes näher zu kommen.
Vieles, was in Köln angeprangert wird, ist aber schlicht nicht justiziabel. Migrantischen Realitäten eine Plattform zu bieten, muss auf anderem als dem Gerichtswege erreicht werden. Oft gelingt das tatsächlich am besten mit den Mitteln der Kunst, wie beispielsweise die NSU-Monologe, ein „wortwörtliches“ Theaterstück, beweisen. Hier werden Texte gesprochen, die aus Interviews enstanden sind. Effekt dieser Verdichtungen: Menschenleben werden greifbar, Geschichten von Liebe oder Flucht, vom Aufbau einer Existenz in einem fremden Land, vom Schmerz des Verlustes und von der Demütigung durch Behörden und Medien, vom nicht zu stillenden Zorn.
Trauer und Tränen
Nie aber werden Trauer und Wut so präsent, wie wenn die Angehörigen der NSU-Toten sowie die Opfer fremdenfeindlicher Verbrechen selbst die Bühne betreten und erzählen. Manchmal stockend, manchmal tränenerstickt, manchmal diffus und sehr oft eben sehr zornig.
„Sind wir nicht Teil von Deutschland, sind wir nicht Teil von Köln?“, wiederholt ein Betroffener aus der Keupstraße wieder und wieder, ungläubig noch immer angesichts der Kriminalisierung, die eine ganze Straße nach dem hinterlistigen Angriff erlitten hat. Er fragt, ob wir denn hier in Afrika lebten! Ja, auch Rassismen gegen andere Einwanderer gehören zur migrantischen Realität. So wie der Kampf gegen Bevormundung, auch von links: Angesichts eines geplanten Antifa-Zuges durch die Keupstraße sagt ein Anwohner, wenn die kämen, dann lege er sich auf die Straße und blockiere den Weg. Ein dritter erzählt von der Schwierigkeit, die richtige Traumatherapie zu finden. All das, und das ist der eindrücklichste Effekt der Veranstaltung, wird gewürdigt, oft mit langem Applaus, der den Sprechenden sichtbar Kraft gibt.
Das klare Versprechen des Tribunal-Kollektivs – dass hier, anders als beim großen Vorbild, dem Russell-Tribunal zu den Kriegsverbrechen in Vietnam, weniger Experten als vielmehr die Betroffenen selbst zu Wort kommen sollen – wurde eingelöst. Dann kommt, am Ende von vier langen Tagen, die Verkündung der Anklage. Sie wird vorgelesen – und eine Grundsatzfrage blitzt grell auf: Wer spricht hier eigentlich? Wer verantwortet diese 60 Seiten Anklageschrift? Ist das die vielbeschworene Zivilgesellschaft? Die Opfer und ihre Angehörigen? Jemand ganz anderes? Hier gilt es jetzt, weiterzudenken.