Im Mai 2000 kam es zu einem mysteriösen Treffen: Der V-Mann Mario A., ein bekannter Neonazi, übergab an den damaligen Referatsleiter Rechtsextremismus beim Verfassungsschutz einen Koffer voller Waffen. Der Ex-Geheimdienstmann musste nun vor dem Untersuchungsausschuss aussagen.
Dresden. Der Vorgang liest sich wie aus einem schlechten Agenten-Thriller: Ein Geheimdienstler trifft ganz konspirativ einen Neonazi, der nebenbei V-Mann ist, und lässt sich einen prall gefüllten Waffenkoffer beschaffen. Danach trägt eben jener Schlapphut den Koffer durch Dresden, bringt ihn unter „unbekannter Herkunft“ zum Landeskriminalamt und kann sich anschließend an kaum etwas erinnern. Doch nicht nur das: Auch der Herkunft des Kofferinhalts – immerhin drei Pistolen und ein Revolver, inklusive reichlich Munition – wird nicht weiter nachgegangen. Allerdings wird der V-Mann ein Jahr darauf wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Mini-Strafe von sechs Monaten Haft, die zur Bewährung ausgesetzt werden, verknackt. Der Geheimdienstmann steigt hingegen 17 Jahre nach der ominösen Waffenübergabe zum Chef der Kriminalpolizei in Dresden auf.
Es lässt sich bereits erahnen: Bei diesem Szenario handelt es sich keineswegs um einen Agenten-Thriller – sondern um sächsische Realität, mit der sich in dieser Woche der Landtags-Untersuchungsausschuss „Neonazistische Terrornetzwerke in Sachsen“ zum wiederholten Mal befasst hat und die von etlichen Aussagen und Protokollen gedeckt wird.
Der V-Mann ist längst als Mario A. aus Görlitz enttarnt. Über die Waffen liegen gleich mehrere aktenkundige Hinweise vor, die unabhängig voneinander sind. Einer dieser Hinweise geht auf den heutigen Landespolizeipräsidenten Jürgen Georgie zurück, der im Jahr 2012 als damaliger Polizeipräsident Südwest-Sachsen an seinen Vorgesetzten Bernd Merbitz schrieb: Eine Quelle des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) sei um die Jahrtausendwende „über den Auftrag hinaus tätig geworden“ und habe „Waffen beschafft“. Ein weiteres Indiz liefert Mario A. selbst, der laut Gerichtsprotokoll ausgesagt hat: „Wenn ich Herrn Lange nicht gekannt hätte, wäre ich nie in den Besitz der Waffen gekommen.“
Genau dieser Volker Lange ist von Ende 1998 bis Juni 2002 vom Landeskriminalamt als Referatsleiter Rechtsextremismus zum sächsischen Verfassungsschutz abgestellt gewesen – er war der Empfänger des besagten Koffers. In jener Zeit war der heute 57-Jährige unter anderem für die fehlgeschlagene Observation von Rechtsextremisten in Chemnitz zuständig, die als „Fall Terzett“ in keinem Nachschlagewerk über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) fehlen dürfte. Danach war er unter anderem sieben Jahre lang beim LKA für die Spezialeinheiten zuständig. Im vergangenen Herbst machte Lange noch einmal bundesweit Schlagzeilen: Er war der zuständige Einsatzchef bei der gescheiterten Festnahme des mutmaßlichen Terroristen Dschaber al-Bakr in Chemnitz. Die danach eingesetzte Expertenkommission attestierte dem seit Januar 2017 als Kripochef in Dresden amtierenden Lange, die Terrorgefahr verkannt, die Kräftelage falsch eingeschätzt und taktische Fehler begangenen zu haben.
Woher hatte der NSU seine Waffen?
Nachdem ihn der sächsische NSU-Untersuchungsausschuss vor vier Jahren schon einmal – ohne nennenswerte Ergebnisse – angehört hatte, musste Lange nun einem Untersuchungsausschuss mehr als zwei Stunden Rede und Antwort stehen. Dabei ging es um die genannte Waffenübergabe, mögliche Verbindungen des V-Mannes Mario A. zum NSU sowie um die Suche nach den untergetauchten Rechtsextremisten. Fragen warf auch die Tatsache auf, dass der Waffenkoffer im Mai 2000 auftauchte, also kurz nachdem die von Lange mitverantwortete Operation „Terzett“ angerollt war, mit der das Neonazi-Trio in Chemnitz aufgespürt werden sollte.
Damit ist Lange eine der wichtigsten Figuren in diesem Fallkomplex, zugleich aber auch einer der Zeugen mit den selektivsten Erinnerungen, wie es heißt. Schließlich hätte er nach all den Jahren aufklären können, woher die Waffen, darunter eine Ceska wie sie vom Rechtsterror-Trio NSU verwendet wurde, stammten, an denen bereits im Jahr 2000 zahlreiche Verbindungen zu Fällen im Ausland nachgewiesen worden waren. Lange sagte nun aus, er habe als Referatsleiter „keine Veranlassung“ gesehen, Querverbindungen zwischen dem Görlitzer Neonazi und Rechtsextremen in Chemnitz zu prüfen. Daneben habe er erst ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt beim Verfassungsschutz von dem untergetauchten Trio gehört. Denn dies sei „kein herausgehobener Fall“ für seine 40 bis 50 Mitarbeiter gewesen, so Lange.
Daran sind gleich zwei wesentliche Punkte brisant. Erstens ist bis heute unklar, woher der NSU sein Arsenal von mehr als 20 Schusswaffen hatte. Und zweitens stellt sich die Frage, ob durch einen stärkeren Einsatz, unter anderem von Lange, die zehn Morde hätten verhindert werden können. Pikant ist in diesem Zusammenhang auch, dass ausgerechnet in dieser Woche, nach gut vier Jahren, vor dem Oberlandesgericht München die Beweisaufnahme gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Terroristenhelfer abgeschlossen werden soll.
„Was wir jetzt durch langes Nachbohren erfahren haben, könnte eine neue Spur im NSU-Komplex sein“, stellt die Linken-Abgeordnete Kerstin Köditz, Vize-Vorsitzende des Untersuchungsausschuss „Neonazistische Terrornetzwerke in Sachsen“, fest. Ihr vorläufiges Fazit lautet: „Schon Anfang der 2000er-Jahre wussten das Landesamt für Verfassungsschutz und das Landeskriminalamt, dass die rechte Szene Zugang zu tödlichen Waffen hat.“
Von Andreas Debski