Zehnter Todestag

Erstveröffentlicht: 
04.04.2017

Der NSU-Mord an Kubasik - ein Fall mit vielen offenen Fragen

 

DORTMUND Vier Schüsse. Zwei Treffer. Ein Toter. Heute vor zehn Jahren wurde der Dortmunder Kioskbesitzer Mehmet Kubasik von der rechtsradikalen Terrorgruppe NSU ermordet. Noch immer sind viele Fragen rund um die tödlichen Schüsse ungeklärt. Das liegt auch an Ermittlern, die konsequent einen rechtsradikalen Hintergrund der Tat ausschlossen.

 

Vielleicht das neugeborene Kind? Das könnte ein optimistischer Anfang sein: Ein klitzekleines Kind. Gibt es etwas, das mehr Aufbruch verheißt, als ein kleiner Mensch? Ein neuer Mensch also könnte ein Ende sein, das versöhnlich stimmt. Oder auch ein Anfang, der Hoffnung macht. Aber auch das wäre hier nicht mehr als ein Strohhalm. Brüchig und schwach. Nein, es gibt keinen guten Einstieg in diese Geschichte, es gibt nur einen grausamen, also bitte, dann von Anfang an, vor zehn Jahren also, als die Geschichte schrecklich wurde: Vier Schüsse. Zwei Treffer. Ein Toter. In einem Kiosk.

 

Bis der Hall der Schüsse in der Gesellschaft ankommt, wird es dauern, fünf Jahre lang. Und auch das ist schon wieder fünf Jahre her – und damit fast vergessen. 

 

Gewalt unter Ausländern interessiert nicht


Es gibt einen Boulevardjournalisten in Dortmund, er macht Fernsehbeiträge im gesamten Ruhrgebiet und hat ein Gespür für Themen, er ist lange dabei. Wenn irgendwo etwas passiert, ein Gewaltverbrechen zum Beispiel, dann weiß der Mann: Guck auf die Nationalitäten der Beteiligten.

 

Ist das Gewalt unter Ausländern, Türken etwa, interessiert das seine Abnehmer nicht, weil es ihre Kunden vor den Fernsehgeräten nicht interessiert. Es ist zu fremd, zu unverständlich. Sie schalten dann um. Ein Gesetz des Marktes, da kann er nichts machen. Er schickt dann in der Regel keine Leute raus. 

 

Wahrscheinlich irgendetwas untereinander


Am 4. April 2006 stirbt Mehmet Kubasik mittags in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße und die, die sich dafür interessieren, sind also die Polizisten. Und die Angehörigen. Obwohl Interesse bei den Angehörigen ein falsches Wort ist. Entsetzen würde es mehr treffen. Über die Tat. Über den Verlust. Und später über das, was dann geschehen sollte. Dafür hat sich aber lange niemand interessiert. Kubasik war ein Türke. Und Kurde, versteht man eh nicht. Wahrscheinlich irgendetwas untereinander.

 

Es gibt in Dortmund einen SPD-Ratsherr, er heißt Volkan Baran. Früher, in seiner Jugend, mehr der Typ langhaarig, heute trägt er in der Regel einen Anzug samt Schlips. Wenn Baran über das deutsch-türkische Verhältnis in Deutschland erzählt, kommt er immer wieder zu einer Geschichte, die das Problem ganz gut zusammenbringt: Wenn eine türkische Familie umzieht, ist es so, dass in der Türkei die Nachbarn unaufgefordert vorbei- kommen, sich vorstellen, etwas zu essen mitbringen und den Neuankömmling willkommen heißen. In Deutschland wiederum würden die Menschen erwarten, dass der Neuzugezogene bei den Alteingessenen vorbeikommt und sich vorstellt. Und so würden die Menschen aufeinander warten. Unverständnis. Bis heute. 

 

Kubasik plante, den Kiosk aufzugeben


Mehmet Kubasik, Alevit, Kurde, Mordopfer, beantragte 1991 Asyl in Deutschland. Nach einem Aufenthalt in der Schweiz und knapp zwei Jahren in einer Flüchtlingsunterkunft wurde dem Antrag stattgegeben. 2003 nahm die Familie die deutsche Staatsangehörigkeit an. Er arbeitete als Hilfsarbeiter in einem Großhandel für Obst und Gemüse, dann wurde er Bauarbeiter, erlitt einen Schlaganfall, erholte sich wieder und eröffnete dann 2004 den Kiosk in der Mallinckrodtstraße. Es gab Pläne, das Geschäft aufzugeben.

 

Die Täter, mutmaßlich Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt, müssen den Kiosk an diesem 4. April 2006 zwischen 12 und 13 Uhr betreten haben. Dass eine Kamera im Raum stand, hat die Männer nicht gestört. Sie schossen und verschwanden wieder. Am Tatort blieben vier Projektile und eine Hülse zurück. Und Mehmet Kubasik in seinem Blut. Er ist das achte Opfer einer Serie. 

 

Ermittlungen gegen die Kubasiks, nicht für sie


Seine Angehörigen, die Frau und die drei Kinder, werden danach noch öfter Opfer werden. Die Beamten, die sich des Mordfalls annehmen, ermitteln gegen die Kubasiks. Und nicht für sie. So sehen das die Hinterbliebenen heute. Wenn man dafür einen Fachbegriff suchen würde, müsste man ihn „strukturellen Rassismus“ nennen. War ein Türke. Versteht man eh nicht. Wahrscheinlich irgendetwas untereinander.

 

Man habe, so sagte die Leiterin der damals eingerichteten Mordkommission „Kiosk“ im Jahr 2016 vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtags NRW, versucht, das Umfeld des Opfers zu durchleuchten. Es habe Hinweise auf Rauschgifthandel und die PKK gegeben. Auch der zuständige Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper betont dort, dass es bei Mordermittlungen üblich sei, zuerst das Umfeld des Opfers auszuleuchten. Und es habe Spuren von Drogen in den Räumlichkeiten gegeben. Die stammten, das weiß man heute, von dem Vorbesitzer. 

 

Wohnung der Familie wurde mit Spürhunden durchsucht


Es ist mit Sicherheit richtig, sich zunächst das Umfeld eines Opfers anzuschauen. Die meisten Täter stammen von dort, warum sollte man jemanden töten, zu dem man keinen Bezug hat? Wer sollte so etwas tun? Aber was ist, wenn all diese Ermittlungsarbeiten ins Nichts führen? Muss man dann nicht neu denken? Besonders dann, wenn man hier einen Mord vor den Füßen hat, der Teil einer sechs Jahre alten Serie ist, bei der die üblichen Ermittlungen und Annahmen zu keinem Erfolg geführt haben?

 

Fakt ist, dass wegen Drogen ermittelt wurde, auch weil in der Nähe ein Drogenschwerpunkt lag. Zwei Tage nach der Tat wurde die Wohnung der Familie mit Spürhunden durchsucht. Unter den Augen der Nachbarn. Später befragen Polizisten Jugendliche auf der Straße, halten ihnen ein Foto von Mehmet Kubasik vor und fragen sie, ob dieser Mann ihnen etwas verkauft habe. Es wurde in Richtung PKK ermittelt, wegen Mafiakontakten und Ehrenmorden. 

 

Rechtsradikale hatten in der Nähe einen Treffpunkt


In Richtung Rechtsradikalismus wurde nie ermittelt. Doch auch Rechtsradikale hatten in der Nähe einen Treffpunkt. Auf einen rechtsradikalen Hintergrund habe es keine Hinweise gegeben, sagt Artkämper. Und das, obwohl es kurze Zeit später einen Profilerbericht der BAO (Besondere Aufbauorganisation) Bosporus gab, der eindeutig in Richtung einer rassistisch geprägten Tat ging.

 

Der Staatsanwalt, der sich selbst als „Dortmunder Jung“ bezeichnet, verortet die Dortmunder Rechtsradikalen in Dorstfeld und nicht in der Nordstadt. Eine erstaunlich falsche Einschätzung. Bis mindestens 2005 trafen sich die Rechtsradikalen nur wenige Hundert Meter entfernt vom Tatort in einer Gaststätte, mehrere Neonazis wohnten in der Nähe. 

 

Die Angehörigen von Kubasik erfahren aus den Medien vom NSU


2011 enttarnt sich der NSU selbst. Mundlos tot. Bönhardt tot. Zschäpe stellt sich nach einigen Tagen. Es dauert etwas, bis verstanden wird, wer sich da in einem Wohnmobil erschossen und was danach für eine Wohnung gebrannt hat. Danach, sagt Artkämper heute, habe er sich gefragt, ob er darauf hätte kommen können: „Ich habe für mich gedacht, ich kann einen Fehler bei der Bearbeitung der Akte nicht feststellen, selbst mit dem Wissen von heute. Ich kann nicht sagen, dass es mir wie Schuppen von den Augen fiel.“ Die Angehörigen von Kubasik erfahren aus den Medien vom NSU.

 

Damals, im Herbst 2011, ist in den Räumen, in denen einmal ein Kiosk war, ein Kulturverein untergebracht. Zwei Männer sitzen dort, sie rauchen und sagen, von einem Vorbesitzer, der hier getötet wurde, wüssten sie nichts. Ein paar Häuser weiter liegt eine Kneipe, wenige Männer am Tresen, auch sie rauchen, einer sagt, er glaube nicht, dass man jetzt nachweisen könne, wer den Türken damals in seinem Kiosk erschossen habe. Das seien Profis gewesen, die bekomme man nie zu fassen. 

 

Durch ballistische Untersuchung wurden Fingerabdrücke zerstört


Vielleicht hätte die Hülse damals helfen können. Schon als die Polizisten am Tatort ankamen, hatten sie sie auf der Kasse des Kiosks liegend gefunden. Alles, die Auffindesituation von Kubasik, das Fehlen von Zeugen, das Kaliber der Waffe, deutete darauf hin, dass diese Tat Teil einer Serie war. Ein Waffenexperte des Bundeskriminalamts soll untersuchen, ob die Hülse in der gleichen Waffe war, die auch schon zuvor eingesetzt worden war.

 

Er fragt bei dem Kontaktbeamten aus dem Dortmunder Polizeipräsidium noch einmal nach, ob auch auf DNA-Spuren oder Fingerabdrücke geprüft werden soll. Aufgrund der Dringlichkeit verzichtet man darauf. So wird etwas bestätigt, was man eh schon vermutet. Das Problem ist, dass nach der ballistischen Untersuchung mögliche DNA-Spuren verloren sind. Man habe da womöglich einen Fehler gemacht, so der Experte im Ruhestand heute. Der Staatsanwalt seinerseits gibt 2016 an, sich an diese Hülse nicht mehr erinnern zu können. 

 

Zeugin beschreibt Männer als "Junkies oder Nazis"


Es findet sich dann doch eine Zeugin, sie hatte am Tattag zur fraglichen Zeit zwei Männer gesehen. Eigentlich wollte die Frau am Kiosk von Kubasik Zigaretten kaufen, da seien ihr diese Männer entgegengekommen. Einer von ihnen starrte die Zeugin derart böse an, dass sie lieber nicht in den Kiosk ging. Bei der Polizei sagte sie später aus, die beiden hätten auf sie gewirkt wie „Junkies oder Nazis“. In den Akten der Polizei wird das aufgenommen, später wird dann nur noch von Junkies die Rede sein. Warum das so ist, das können Beamte 2016 vor dem Ausschuss nicht mehr sagen. Nur, dass es so ist.

 

Der Staatsschutz der Polizei Dortmund, der sich mit Rechts- und Links- sowie Ausländerextremismus und Islamismus beschäftigt, war in die Ermittlungen rund um den Mordfall so gut wie nicht involviert. Es gab lediglich eine Anfrage zu einer möglichen PKK-Arbeit des Mordopfers. 

 

Theoretischer Überbau des führungslosen Kampfes


Der damalige Leiter der Staatsschutz-Abteilung erklärt 2016, dass ihm die sogenannten Turner-Tagebücher nicht bekannt sind. In den Turner-Tagebüchern, die seit den 90er-Jahren auch in der deutschen Neonazi-Szene kursierten, ging es um eine geheime Organisation, die den Kampf gegen das „System“ und „Überfremdung“ Amerikas führt. Das Buch ist fiktiv und diente Vielen als Quelle: So sagte Timothy McVeigh, der 1995 in Oklahoma City 168 Menschen bei einem Bombenanschlag tötete, die Tagebücher hätten ihn zu seiner Tat inspiriert.

 

Sie sind der theoretische Überbau des führungslosen Kampfes gegen das „System“, in dem autonome Zellen unabhängig voneinander und autonom operieren. Taten, die für sich alleine sprechen, statt Worte. So, wie es der NSU in Deutschland tat. 

 

Mögliche Anschlagsziele in Dortmund


Bis heute ist nicht klar, warum Mehmet Kubasik Opfer wurde. Wieso er ausgewählt wurde. Bekannt ist dagegen, dass in den Überresten der Wohnung von Mundlos, Zschäpe und Bönhardt in der Zwickauer Frühlingstraße Kartenmaterial gefunden wurde. Darauf sind mögliche Anschlagsziele in Dortmund eingezeichnet, teilweise sind sie mit detaillierten Zusatzinformationen versehen. Wie hätten die Täter eine solche Karte von Zwickau aus ohne Ortskenntnis erstellen sollen?

 

Die Karte ist Nahrung für die Theorie, dass es Unterstützer gegeben haben muss. Menschen also, die von den Anschlagsplänen wussten. Beweise dafür gibt es bis heute nicht, doch Menschen, die sich mit der Materie länger beschäftigt haben, gehen davon aus, dass der NSU nicht alleine operiert haben kann. Warum zum Beispiel störte die Täter überhaupt nicht, dass da eine Videokamera im Kiosk war? Die Videokamera zeichnete nicht auf, aber das konnte nur wissen, wer Kunde war und sich danach erkundigt hatte. 

 

Die Verbindungen der Dortmunder Naziszene in den Osten sind gut


Die Verbindungen der Dortmunder Neonaziszene in den Osten, wo es nachweislich Unterstützer des NSU gab, waren immer gut. Seit der Wendezeit bestanden sie. Die Zeit, in der sich die Mitglieder des NSU zu radikalisieren begannen. Die Kontakte sind immer noch sehr gut.

 

Man kann durchaus Parallelen ziehen zwischen der Zeit damals und heute. Es gab eine Asyldebatte, die Angst vor Überfremdung wurde politisch instrumentalisiert, das „Boot“ war „voll“. Rostock, Mölln und Solingen waren auf einmal mehr als lediglich Städtenamen, Häuser brannten. Heute spricht man wieder von Flüchtlingskrise, rechte Parolen rücken in den Mainstream.

 

Häuser brennen, mehr als je zuvor, Täter werden so gut wie nicht ermittelt und bundesweit sind über 100 Rechtsradikale, die mit Haftbefehl gesucht werden, untergetaucht. Das war auch der NSU lange. 

 

Ehefrau und Tochter von Kubasik wohnen immer noch in der Nordstadt


Gamze Kubasik, die Tochter von Mehmet Kubasik, wohnt heute noch nur wenige Hundert Meter von dem Kiosk entfernt. So wie ihre Mutter. Den Weg am Kiosk entlang scheuen sie seit dem Anschlag. Heute ist der Kiosk leer, hier verkauft niemand mehr etwas. Vor der Tür erinnert ein Gedenkstein an Mehmet Kubasik. Es gibt einen weiteren Gedenkstein hinter dem Hauptbahnhof, hier sind alle zehn Opfer des NSU versammelt. Das Mahnmal wurde im Juli 2013 eröffnet. Im Dezember 2014 demonstrieren Neonazis in der Nordstadt, sie skandierten unter anderem „Anne Frank war essgestört“ und „Mehmet hat’s erwischt …“.

 

Ob der Mord an Mehmet Kubasik, der vor zehn Jahren in Dortmund geschah, jemals aufgeklärt werden wird, ist fraglich. In München steht Beate Zschäpe vor Gericht, zu den gegen den NSU gerichteten Vorwürfen sagt sie de facto nichts, ein Urteil wird in diesem Jahr im Herbst erwartet. Mutter und Tochter Kubasik waren sowohl beim Prozess in München als auch im Ausschuss in Düsseldorf, große Hoffnung auf eine Aufklärung haben auch sie nicht mehr. Die alten Taten sind noch nicht aufgeklärt und eine neue Radikalisierungswelle zieht durchs Land und durch die Kommentarspalten im Internet. 

 

Enkel trägt den Namen des ermordeten Großvaters


Es gibt ein kleines Kind, einen Jungen, Gamze Kubasik hat ihn geboren, er heißt Mehmet. Wie sein Großvater. Wenn man dem Satz folgt, dass ein Mensch so lange nicht tot ist, so lange andere Menschen an ihn denken, wird sein Großvater noch lange leben.

 

Wenn man heute versucht, das Leben von Mehmet Kubasik nachzuzeichnen, dann ist da ein Mann, der versucht hat, seine Familie so gut wie möglich zu ernähren. Der sich ein gutes Leben aufgebaut hat, der in seiner Nachbarschaft beliebt war und sie als seinen Kiez, als seine Gegend begriff. Am heutigen Montag ist es zehn Jahre her, dass Kubasik in seinem Kiosk starb. 

 

"Wir gehören auch zu diesem Land"


Es gibt einen Prozess, es gibt Untersuchungsausschüsse, es gibt geschredderte Akten. Es gibt die Verfassungsschützer, die ihre V-Leute schützen, es gibt Kompetenzgerangel und es gab Ermittler, die nach dem Motto operierten, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

 

Es gibt eine Familie, deren Leben sich vielleicht normalisiert, aber nicht mehr normal sein wird. Es gibt keinen guten Einstieg in diese deutsche Geschichte, aber einen hoffnungsvollen Ausstieg. Als Elif Kubasik, die Witwe, im Landtag in Düsseldorf aussagte, lautete einer ihrer letzten Sätze: „Wir gehören zu diesem Land“.

So wie ihre Geschichte.