Die FAGC (Federación Anarquista de Gran Canaria, Anarchistische Föderation von Gran Canaria) setzt seit einigen Jahren anarchistische Theorien wie direkte Aktion und gegenseitige Hilfe in die Tat um. So initiierten sie unter anderem das Wohnprojekt Esperanza. „Die größte Hausbesetzung derzeit in Spanien“, wie es spanische Medien beschrieben. Dort sind mittlerweile über 70 Familien untergekommen, die Opfer von Zwangsräumung oder häuslicher Gewalt wurden. Einige Wohnungen mussten instandgesetzt werden, da die vier Wohnblocks in Santa María de Guía eine Bauruine aus Zeiten der Immobilienblase sind. BewohnerInnen und FAGC legten dabei selber Hand an. Eine weitere Herausforderung war es, die Familien in den besetzten Häusern mit Strom zu versorgen. Auch dabei brachte sich die FAGC tatkräftig ein. Das Projekt Comunidad la Esperanza ist vollkommen selbstverwaltet. Die BewohnerInnen helfen sich gegenseitig in ihrem Alltag.
Die FAGC legte auch Gärten auf brachliegenden Flächen an, um eine Grundversorgung mit Lebensmitteln von armen Familien zu gewährleisten. Eine Wiederaufbereitungsanlage für Regenwasser wurde ausgetüftelt und gebaut. Die FAGC besetzte gemeinsam mit illegalisierten migrantischen Familien Gebäude – La Masía I und II – um ihnen eine Zuflucht zu erschaffen. Die FAGC steht an vorderster Linie, wenn es darum geht, Zwangsräumungen zu verhindern. Sie waren Anfang des Jahres an der Gründung eines MieterInnensyndikats beteiligt. Am internationalen Frauentag 2017 beteiligten sie sich daran, das selbstverwaltete Frauenhaus El Nido in einem besetzten Haus ins Leben zu rufen.
Als Reaktion auf diese lebendigen Beispiele von funktionierenden und effektiven anarchistischen Strukturen wird die FAGC mit massiver staatlicher Repression überzogen. Ruymán Rodríguez ist als Sprecher des Wohnprojekts Esperanza dabei aufgrund seiner Sichtbarkeit eine besondere Zielscheibe. So wurde er von der Guardia Civil verschleppt, zusammengeschlagen und anschließend von eben diesen Guardias Civiles wegen „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ angezeigt. Um die Gerichtskosten stemmen zu können, bittet die FAGC um Solidarität.
In einer Kette von Tweets mobilisiert eine Genossin der FAGC für Unterstützung für Ruymán. Außerdem erzählt nicht nur, wie sie ihn kennenlernte, sondern auch, wie sie zur Anarchistin wurde. Über die Praxis zur Theorie. Weil wir den Text lesenswert und die FAGC unterstützenswert finden, hier eine dt. Übersetzung der Tweets [in eckigen Klammern Erklärungen von uns]:
Ich lernte Ruymán Mitte 2013 kennen. Sie gaben mir seine Nummer und ich erklärte ihm meinen Fall über Whatsapp. Ich hatte einen Typen, der mich misshandelte, verlassen.
Mit 3 Kindern in meiner Obhut und ohne Zuhause. Auf der Flucht vor den Sozialarbeiterinnen. Ich vereinbarte einen Termin mit ihm. Wir trafen uns an der Plaza de San Telmo.
Ich fing mit Vorurteilen an. „Anarchisten? Die, die vermummt unterwegs sind?“ dachte ich. Bei einem Kaffee erklärte er mir das Projekt der FAGC.
Er verlangte kein Geld, noch, mich irgendwo anzumelden, noch, irgendwas zu kaufen. Das beeindruckte mich. Ich sollte ihm eine Dokumentation meines Falls aushändigen.
Er bat mich lediglich darum, dass mich dabei engagiere, anderen Leuten zu helfen und mich zu zu erinnern, dass ich nicht anschließend diejenigen anzeige, die mir geholfen hatten. Er beeindruckte mich erneut.
Andere Kollektive hatten mich nicht empfangen. Und dieser junge, intelligente aber herzliche Mann bot mir Hilfe an, als ob das normal wäre.
Innerhalb zweier Wochen hatte ich ein Zuhause für meine Kinder. Ich lernte langsam die anderen von der FAGC kennen und es machte mich sprachlos vor Begeisterung, dass so wenige AnarchistInnen so viel auf die Beine stellen.
Ich lernte Ru (so nennen ihn wir, die wir ihn mögen) nach und nach kennen und stellte fest, wie sensibel jemand ist, den die „Legalistas“ dermaßen fürchten. [„Legalistas“ bezieht sich auf Anhänger und Befürworter der Gesetze. Sei es in Parteien, sozialen Kollektiven oder auch Leute aus einem libertären Umfeld]
Bei einem Treffen von Kollektiven kam ein Mann auf mich zu und sagte mir: „Pass auf, mit wem du dich einlässt. Den mit dem Bart nennen sie ‚die menschliche Guillotine'“. [Bei dem Bärtigen handelt es sich um Ruymán]
Aber das erschreckte mich nicht. Dank der AnarchistInnen konnte ich meine Kinder behalten, hatte ein Dach über dem Kopf und mein Selbstwertgefühl war stark. Ich fühlte mich nützlich.
Bei den Plena der FAGC sprachen gleichermaßen diejenigen, die gerade dazugestoßen waren, wie die Veteranen, der Bettler oder der Akademiker. Du fühltest dich nicht als Zierwerk.
Ich erlebte wie Ru Arbeit, Partnerin und Zuhause durch Sanktionen verlor während er 200 Menschen zu einem neuen Zuhause verhalf. Wir alle hatten Angst, Gebäude zu besetzen.
Die Esperanza hatte viel von seinem Einsatz, muss man heute zugeben. Er schuftete 16 Stunden täglich an dem Projekt.
Es war festzustellen, wie erschöpft er war und es fiel schwer, seinem Rhythmus zu folgen. Aber man sah ihn glücklich-verzückt, mit dem kindlichen Gesichtsausdruck, den er manchmal an den Tag legt.
Er nahm seine Liste mit den neu untergebrachten Familien und sagte einen Satz: „Wer ein Leben rettet, rettet die Welt“ und schlief lächelnd irgendwo ein.
In vier Jahren erlebte ich, wie er zusammenbrach, die eine oder andere Träne vergoss und am nächsten Tag lächelnd und anpackend weitermachte, wo wir am Vortag stehengeblieben waren.
Sein Beispiel spornt uns an weiterzugehen und über uns hinauszuwachsen. Aber er ist immer da, wenn dich die Kräfte verlassen. Jedes Jahr ist er noch ärmer. Hält sich mit Schwarzarbeit über Wasser. Ist ständig am umziehen.
Und so wurde ich, alleinerziehende Mutter ohne konkrete Ideologie, nach und nach Anarchistin. Stück um Stück. Mit Genossen wie ihm als Vorbild.
Ich bat ihn um Bücher und lernte dann die GenossInnen Malatesta, Goldman, Reclús kennen. Ich las seine Sachen und flippte aus, weil der Saukerl schreibt wie er spricht.
Im Plenum wurde vorgeschlagen, dass ein CM [Community Manager] den Twitter-Account der FAGC betreuen soll. Er schlug mich vor. Ich? Ich hab doch keinen höheren Schulabschluss? Umso besser. Du bist dran vom Anarchismus zu sprechen.
Heute bin ich Anarchistin mit Bewusstsein. Und wie ich sind viele aufgrund des Vorbilds dieser guten GenossInnen AnarchistInnen geworden.
Seit ich ihn kenne wurde er 3 Mal festgenommen. Einmal davon, um zu verhindern, dass sie uns andere festnehmen. Jedes Mal haben sie ihn misshandelt.
Ich war dabei, als er zum Sprecher gewählt wurde. Er wollte nicht, aber weder die Bewohner der Esperanza noch wir Mitglieder von der FAGC wollten im Fernsehen sprechen.
Mit einem ironischen Lächeln sagte er uns: „Die Bösen werden sich auf mich stürzen, aber gut. Es ist für mich so weit, wieder den Rubikon zu überqueren.“
Inzwischen haben wir dazu gelernt. Wir bereiten verschiedene SprecherInnen vor, weil uns bewusst ist, dass nicht eine einzelne Person das gesamte Gewicht tragen kann.
Wir sind dabei zu lernen, uns um einander zu kümmern. Mittlerweile isst er gut, aber zwei Jahre lang hatte das keinen hohen Stellenwert für ihn. „Was hast du heute gegessen?“ fragte ich ihn. „Ideen“, antwortete er und lachte.
Sie glaubten, er wäre allein. Die Guardia Civil schnappte ihn, sie schlugen ihn und versuchten, ihn zu erniedrigen. Aber sie konnten ihn nicht beugen.
„Ich war müde und hatte keine Kraft, um mich zu ergeben“, sagte er. Heute lebt er von 400 € monatlich und ihm steht wegen dieser Festnahme ein äußerst teurer Prozess bevor.
Die meisten von uns haben gesperrte Konten. Sie sind wegen Zahlungsverzug oder wegen politischer Angelegenheiten blockiert. Das macht es kompliziert, Hilfe zu empfangen.
Aber dann tauchte die Initiative der GenossInnen von @noticasalb [anarchistisches Onlineportal A Las Barricadas] auf. Sie teilen ihr Konto mit uns, um die Solidarität zu kanalisieren. Wir haben ihnen viel zu verdanken.
Ein freier Ruymán ist ein Ruymán, der dem System schadet. Er erteilt Rat, ohne Anwalt zu sein, er besetzt Häuser, ohne Maurer, Elektriker oder Schlosser zu sein.
Er ist kein Anführer. Er ist jemand, der organisieren kann, den Funken der Aktivität entfacht, wenn alles tot scheint. Wir Armen mögen ihnen, weil er einer von uns ist.
Die Wohnungsfront auf den Kanaren schuldet ihm mehr als jedem Politiker oder Akademiker. Das ist, was sie ersticken wollen. Wir werden es nicht zulassen.
Ich habe gesehen, wie er in diesen Jahren immer mehr weiße Haare bekommen hat („1 für jeden Neuuntergebrachten“, sagt er) Er büßte einen Muskel des Daumens ein für Leute, die es nicht verdienten.
Er gibt 5 €, damit eine Familie an diesem Tag etwas zu essen hat, obwohl er dann deswegen später kilometerlang zu Fuß zur Arbeit gehen muss.
Und er ist eine Maschine, die AnarchistInnen erzeugt. Ohne Theorien oder Philosophie. Mit seinem Beispiel und seiner Zuneigung. Wenn du ihm helfen willst: http://www.alasbarricadas.org/noticias/node/38081 [eine Zusammenfassung davon auf deutsch: Linksunten]
Spendenkonto:
Bank: Caixa d’Enginyers
BIC: CDENESBBXXX
Kontonummer: ES04 3025 0002 4014 3336 6743
Name: CHZ
Oder über das Paypal-Konto: contact@alasbarricadas.org
Am 9. März berichtete die FAGC auf Twitter, dass bereits die nötigen 2700 Euro an Spenden zusammengekommen sind, um die Gerichtskosten zu bezahlen. Alles, was darüber hinaus geht, wollen sie dem MieterinnenSyndikat zur Verfügung stellen.