Die völkische Folklore ist auf dem Vormarsch

Erstveröffentlicht: 
27.02.2017

Die Zahl der Neonazi-Liederabende hat sich fast verdoppelt. Die Szene hat Schwierigkeiten, Bühnen für Konzerte zu finden. Doch selbst braune Großveranstaltungen überraschen zuweilen die Polizei.

 

Ein kühler, trockener Herbstabend im baden-württembergischen Örtchen Forst, keine halbe Stunde von Karlsruhe entfernt. Es ist Halloween, draußen gehen Kinder verkleidet von Haustür zu Haustür und versuchen, Süßigkeiten abzugreifen. Drinnen, in einer Gaststätte, betritt Michael Regener die Bühne. Dutzende Zuschauer sind gekommen, um einem Abend der gepflegten musikalischen Hetze beizuwohnen.

 

Regener ist ein Schwergewicht der rechten Musikszene. Bis zu deren Auflösung im Jahr 2003 war er Sänger der wohl bekanntesten Neonazi-Band Deutschlands: Landser. In ihren Texten heißt es etwa „Afrika für Affen. Europa für Weiße. Steckt die Affen in ein Klo. Und spült sie weg wie Scheiße“ oder „Und keine Türken werden mehr rumlaufen. Keine Pfaffen dürfen Kinder taufen. Keine Nigger deutsches Pils mehr saufen. Keine Juden unser Volk verkaufen. Das Reich kommt wieder“.

 

Landser gibt es nicht mehr, Michael Regener ist aber noch immer ein gefragter Mann. Kein anderer deutscher Neonazi dürfte im vergangenen Jahr häufiger bei rechtsextremen Balladenabenden, auf Konzerten, Festivals und NPD-Veranstaltungen gesungen haben. Mal solo mit Akustikgitarre auf seiner „Barhocker-Tour“, mal mit seiner neuen Rechtsrockband Die Lunikoff Verschwörung. Mindestens 14 Auftritte waren es 2016. Das geht aus den Antworten des Bundesinnenministeriums (BMI) auf parlamentarische Anfragen der Linksfraktion hervor, die die „Welt“ ausgewertet hat.

 

Die Abgeordnete Ulla Jelpke (Die Linke)  fragt regelmäßig, was Ministerium und Sicherheitsbehörden über die Musikveranstaltungen der rechten Szene wissen. Demnach zählten die Behörden im vergangenen Jahr insgesamt 194 solcher Ereignisse. Im Vergleich zu den Vorjahren ist insbesondere die Zahl der Balladen- und Liederabende enorm gestiegen: 106 solcher Veranstaltungen hat es 2016 nach Kenntnis der Verfassungsschützer gegeben, zuvor waren es im Schnitt rund 50 Liederabende jährlich.

 

„Rechtsrock und Nazigewalt stehen in einem engen Zusammenhang, das sagen alle Expertinnen und Experten. Insofern ist die weitere Zunahme rechtsextremer Musikveranstaltungen alarmierend“, sagt die Linke-Bundestagsabgeordnete Jelpke. Sie fordert, den Repressionsdruck auf die rechte Szene in diesem Bereich zu erhöhen. „Es bedarf koordinierender Absprachen zwischen Bund und Ländern. Denn neben der ökonomischen Bedeutung für die Nazi-Szene sind diese Konzerte häufig Ausgangspunkt und ideologische Legitimation für rassistische Gewalttäter. Deswegen ist jedes verhinderte Nazi-Konzert ein Sieg für die Demokratie.“

 

Szene fällt es schwer, Veranstaltungsorte zu finden

 

Neben den Liederabenden legte auch die Zahl der rechten Konzerte das zweite Jahr in Folge leicht zu, auf 74. Zudem registrierten die Behörden 14 andere rechtsextreme Veranstaltungen mit Musikbeiträgen. Alle Angaben sind noch vorläufig, die Zahlen dürften sich durch Nachmeldungen noch erhöhen, insbesondere bei den sonstigen Veranstaltungen – darunter fallen etwa Demonstrationen, Versammlungen und NPD-Parteitage.

 

Besonders häufig finden rechte Musikveranstaltungen in Thüringen und Sachsen statt. Wiederholt berichtete die „Welt“ über Orte wie Kirchheim und Torgau, in denen einzelne Immobilienbesitzer den Rechtsextremen regelmäßig ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Alle paar Wochen reisen Neonazis aus ganz Deutschland hierher zu Konzerten an.

 

Die Veranstaltungen werden ordnungsgemäß angemeldet, die Behörden sehen keine Handhabe, und auch Proteste der Anwohner blieben ohne spürbare Wirkung. Doch auch in Baden-Württemberg ist die Szene hoch aktiv. Hier organisierten Neonazis zuletzt auffällig viele Liederabende. Bei dieser Veranstaltungsart rangiert das westdeutsche Bundesland gleich hinter Thüringen.

 

„Ein Liederabend ist im Vergleich zu einer Konzertveranstaltung für die rechtsextremistische Szene leichter zu organisieren, da zum einen die Teilnehmerzahl deutlich geringer ist. Zum anderen benötigt der Balladensänger auch weniger Platz und Equipment für seinen Auftritt“, teilte ein Sprecher des baden-württembergischen Verfassungsschutzes auf Nachfrage mit. Die rechte Szene habe Probleme, geeignete Lokalitäten für größere Konzerte zu finden.

 

Rechtsextreme Kleinstparteien als Unterstützer

 

Ein weiterer Grund für die steigende Zahl der Liederabende sei vermutlich auch die Gründung der rechtsextremen Kleinstparteien wie Die Rechte und Der Dritte Weg. „Liederabende wurden und werden oft von Parteien organisiert, während für Konzerte eher die subkulturelle Szene verantwortlich zeichnet“, so der Sprecher des Verfassungsschutzes. Insgesamt aber bewege sich die Zahl rechter Musikveranstaltungen in Baden-Württemberg weiter auf einem niedrigen Niveau.

 

Liederabende erreichen in der Regel weniger als hundert Zuschauer – bei rechtsextremen Rock- und Rap-Konzerten hingegen sind es meist deutlich mehr als hundert Teilnehmer. Darüber hinaus war im vergangenen Jahr eine Zunahme größerer Festivals zu beobachten.

Im Mai schockte die rechte Szene mit der Veranstaltung „Rock für Identität“, bei der rund 3500 Neonazis im thüringischen Hildburghausen ausgelassen feierten. Sieben Jahre lang hatte es in Deutschland kein Event mehr mit solchen Zuschauerzahlen gegeben. Die Gäste waren aus ganz Deutschland und dem Ausland angereist und prägten auch das öffentliche Bild der Kleinstadt: Beobachter sprachen von einem „Angstraum“, den die Neonazis an diesem Wochenende geschaffen hätten.

 

Polizei von Rechtsrockparty völlig überrascht

 

Drei weitere Festivals in Thüringen zogen zwar deutlich weniger Besucher an, erreichten aber mit jeweils rund 300 Personen immer noch mehr als ein übliches Rechtsrock-Konzert: Im Mai veranstaltete die NPD in Leinefelde ihren jährlichen „Eichsfeldtag“, im Juli stand in Sondershausen das Open Air „In Bewegung“ an, und im August war die Szene wieder einmal in Kirchheim zu Gast, wo sie beim „Rock gegen Überfremdung“ feierte.

Den imposanten Abschluss der rechten Festivalsaison 2016 bildete ein Ereignis, das in dieser Dimension kaum einer hatte kommen sehen: Im Oktober reisten mehr als 5000 Neonazis, viele von ihnen aus Deutschland, in das Schweizer Dorf Unterwasser.

 

Die Polizei wurde davon völlig überrascht, sie war von einem Konzert von Schweizer Nachwuchsbands mit maximal 600 Besuchern ausgegangen. Stattdessen sah sie sich mit einer der größten europäischen Rechtsrockpartys aller Zeiten konfrontiert. Events dieser Größe spülen den Veranstaltern mindestens sechsstellige Umsätze in die Kasse. Die Einnahmen werden angeblich unter anderem verwendet, um die Prozesskosten angeklagter Neonazis zu finanzieren.