»Die haben ja auch Dreck am Stecken«

Erstveröffentlicht: 
02.02.2017

Bei der Suche nach jüdischem Leben im Kyffhäuserkreis trifft man bis heute auf offenen Hass

 

Juden haben wir nie gerne gehabt. Die wurden eben vernichtet. Und aus. Da hatte niemand großes Interesse daran, dass die weiterlebten.« Das sagt ein Thüringer 2016. Er sagt es unumwunden, bei zugesicherter Anonymität.

Der Mann ist nicht der Einzige, der zur Nazizeit noch Kind war, ein politisch hellwacher Heranwachsender, der einer Familie mit NS-Funktionsträgern angehörte, und der heute unter vier oder sechs Augen Klartext redet.

Buchenwald »Die Vernichtung der Juden hat den Leuten nichts ausgemacht – nee, das hat keinen interessiert«, bekräftigt ein anderer Mann bei dieser Spurensuche in Thüringen. »Aber was im KZ Buchenwald passierte, wussten alle hier in der Gegend, auf den Dörfern.« Am detailliertesten wissen es die Leute in Weimar selbst. »Beim Thema Juden ging in der Stadt der Riss durch die Familien«, erinnert sich eine betagte Bewohnerin. »Da mochte die Mutter die Juden – und der Sohn war ein hohes Tier bei den Nazis, so was gab’s«, sagt sie und fügt hinzu: »Komisch. Über die Juden haben die sich aber nicht gestritten.«

Als jüdische Kaufhäuser und Geschäfte in Weimar geschlossen, Juden immer brutaler traktiert wurden, hatte keiner protestiert, sagt ein Rentner auf dem Markt mit den vielen Bratwurstständen. Auf der einen Seite steht das nach Hitlers Vorstellungen errichtete Hotel »Elephant«, auf der anderen befand sich einst das jüdische Tietz-Kaufhaus. »Die Leute dachten damals, na, irgendwie haben die Juden ja auch Dreck am Stecken. In den Kirchen predigten das sogar die Pfarrer.«

Zurück in die Provinz, in ein Dorf bei Mühlhausen, zur weiterhin vergeblichen Suche nach Zeitzeugen, die persönliche Erfahrungen mit Juden hatten, die welche kannten. »Nein, das wollte ich nie, ich habe niemals mit einem Juden gesprochen, nie einen getroffen. Ich will das bis heute nicht«, sagt 2016 beim Nachmittagskaffee mit Thüringer Kuchen eine 89-Jährige, die ihre damalige NS-Eliteschule über alle Maßen lobt: »Wunderbare Zeiten, Tanzstunde mit den Pimpfenführern, sogar ein Osteinsatz. Theaterspielen und Volkstänze bei den Frontsoldaten in der Ukraine.«

Lodz Damals, in Lodz, sieht sie wenigstens einmal im Leben viele Juden ganz aus der Nähe: »Zum Stadtzentrum ging’s mit der Straßenbahn immer durchs Ghetto. Da waren rechts und links Gitterzäune, da liefen die Juden rum.«

So viele Jahre nach Kriegsende und Entnazifizierung sind vergangen. Haben sie und manche ihrer Bekannten und Freunde inzwischen ein anderes Verhältnis zu Juden? »Nein, bei dieser Erziehung steckt das einfach noch so drin. Juden mag ich auch heute nicht! Wir dachten eben damals, Juden sind Verbrecher, wenn wir welche unter SS-Bewachung mal in Weimar auf dem Bahnhof sahen.« Ein Verwandter war im thüringischen Kranichfeld bei der SS, trieb jüdische Häftlinge aus dem KZ Buchenwald auf den Todesmärschen durch Felder und Dörfer. Die 89-Jährige erwähnt beiläufig, dass da viele Juden umkamen.

Dann entrüstet sie sich: »Die Russen haben mitten im Winter einen Verwandten von mir gezwungen, tote, verscharrte Juden wieder auszugraben und in einen eigens angelegten Friedhof nach Kranichfeld zu bringen.« Dann leuchten ihre Augen wieder: »Ja, ich war stolzes NSDAP-Mitglied, bin mit den anderen durch die Dörfer gezogen und habe gerne gesungen: ›Wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt.‹«

Zu Führers Geburtstag wurde auch in den Zuckerfabriken der Kyffhäusergegend die Produktion gestoppt, mussten alle Arbeiter zum Appell antreten, strammstehen, »Heil Hitler« brüllen. So gut wie alle hatten es gerne getan. Ein Mann aus einem winzigen Dorf Thüringens, er war kein Kommunist, nicht einmal links angehaucht, machte laut Gestapo »Äußerungen gegen Hitler«. Er wurde verhaftet und sah tagtäglich aus nächster Nähe, wie Tausende von Juden endeten. Erst auf dem Totenbett gestand er einem Freund: »Ich war in Auschwitz, musste nach den Erschießungen an der Schwarzen Wand immer das Blut zusammenkehren.«

Brasilien Max L. gehörte zu Hitlers Pilotenelite. Für ihn ist das Liquidieren von Juden Kriegsnormalität, nichts Besonderes. Wenige Monate, bevor er starb, war er zu einem Interview bereit. »Der Jude ist der Todfeind aller Nichtjuden!«, rief er aus. Das gab er sogar schriftlich: In einem kopierten Brief an seinen engsten Fliegerkumpan, der sich sofort nach dem Krieg nach Brasilien abgesetzt hatte, schrieb er das. »Später erfuhr ich, dass mein Schwager mal eine jüdische Frau hatte, die nach Argentinien gegangen war«, erzählte er im Interview. »Sein Schulfreund war Bertolt Brecht. Sie kamen alle zwei aus Augsburg. Der Schwager wurde von der Gestapo überwacht. Er hatte auch Brecht zur Emigration verholfen.«

Max L., der im Zweiten Weltkrieg zahlreiche britische Kampfflugzeuge abschoss, verlor zu DDR-Zeiten kein Wort über die Kriegszeit, über seine engen Kontakte zur SS und zum Reichsluftfahrtministerium in Berlin. Er hing an der Gegend, wollte nicht nach Brasilien zu seinem Freund, spazierte gerne über die einstige Piste des damaligen Militärflugplatzes von Esperstedt, wo er Piloten auf einer von Hitlers scheiternden »Wunderwaffen«, der Messerschmitt ME 163 mit Raketenantrieb, ausgebildet hatte, die als erstes Flugzeug der Welt die Schallgeschwindigkeit erreichte. Im nahen Bad Frankenhausen logierte er mit den anderen Piloten luxuriös im Schloss »Hoheneck«.

Es gab Juden in diesen Thüringer Dörfern. Aus Bad Frankenhausen wurden mindestens fünf andere jüdische Bürger in Vernichtungslager deportiert und ermordet, oder sie kamen in Theresienstadt um.

Interessant ist, dass der einstige Kampfflieger Max L. nicht den berühmtesten jüdischen Bürger Bad Frankenhausens erwähnt hat, den Luftfahrtpionier Sigmund Israel Huppert. Der hatte 1902 das dortige private Kyffhäuser-Technikum als Direktor übernommen und zu Weltruhm geführt. Luftfahrtgeschichte schrieb Huppert, indem er 1908 Deutschlands ersten Studiengang für Flugzeugbau nebst Flugbetrieb startete und Propellermaschinen mitentwickelte. Studenten aus aller Welt kamen zu ihm, sogar aus dem fernen China.

Emigration Am Technikum widerstand Huppert jahrelang heftigen antisemitischen Anfeindungen, bis ihn die 1931 gewählte NSDAP-Landesregierung Thüringens aus dem Amt drängte – er konnte noch rechtzeitig nach Schweden emigrieren. 1945 starb er in Stockholm. Hitlers Reichsluftfahrtministerium nutzte Hupperts Pionierarbeit maximal – nicht wenige große Namen von Militär und Rüstung wirkten nach seiner Emigration im Technikum.

Ulrich Hahnemann ist Direktor des Regionalmuseums in Bad Frankenhausen, und er hat eine Biografie über Sigmund Huppert geschrieben. Besonders verweist Hahnemann auf »die beiden Steinhoffs«. Einer, Johannes Steinhoff, wurde hochdekorierter Nazi-Jagdflieger, nach 1945 Bundeswehrgeneral, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Den anderen, Ernst Steinhoff, machten die Nazis nach Hupperts Abgang zum Chef der Luftfahrttechnikabteilung. Die Amerikaner setzten ihn nach 1945 auf einen Chefposten im Air-Force-Raketenentwicklungszentrum.

Ein weiterer Technikum-Absolvent, Bernhard Hohmann, arbeitete gar als »Chief« in den US-Raumfahrtprogrammen, darunter an den Mondlandefähren, mit. »Viele weltbekannte Flugzeug- und Raketenkonstrukteure bauten auf dem Lebenswerk des Juden Huppert auf«, sagt sein Biograf Hahnemann.

Auf das Kyffhäuser-Technikum ist man in Bad Frankenhausen bis heute stolz. Dass es ein Jude war, der es groß gemacht hatte, haben die meisten vergessen. Und das Vergessen ist nicht einmal die schlimmste Form, mit dem Erbe umzugehen.