Vor einem Jahr überfielen 250 rechte Hooligans ein alternatives Leipziger Wohnviertel. Fast alle mutmaßlichen Angreifer sind der Justiz bekannt, passiert ist nichts. Linksextreme gehen nun eigene Wege.
Thomas Schmoll
Der Tag, an dem der Angriff erfolgte, war mit Sicherheit kein Zufall. Legida, der Leipziger Ableger des rechten Bündnisses Pegida, marschierte am 11. Januar 2016, dem Jahrestag seines erstmaligen Auftritts, durch die Innenstadt. Die Polizei hatte deshalb dort starke Kräfte im Einsatz, um Zusammenstöße mit Gegendemonstranten zu verhindern. Zur gleichen Zeit suchten ungefähr 250 Neonazis und rechtsextreme Hooligans, zum Teil polizeibekannt, die Wolfgang-Heinze-Straße im Leipziger Stadtteil Connewitz heim.
Die Vermummten demolierten auf mehreren Hundert Metern Schaufensterscheiben. In einem Dönerimbiss warfen sie einen Sprengsatz in eine Spüle. Durch die Detonation stürzte ein Teil der Decke ein. Mehrere Gäste und das Personal brachten sich durch den Hinterausgang in Sicherheit. Die rechte Szene jubelte später, beim „Sturm auf Leipzig“ sei „die Hurensohn-Antifa platt gemacht“ worden. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) sprach von „Straßenterror“.
In dem Szeneviertel wohnen vor allem politisch Linke im Spektrum zwischen Grünen und gewaltbereiten Autonomen, aber auch Leute, die schon immer dort leben oder ihr Geschäft haben. Wie die Buchhändlerin Ilona Fleischmann, die ihren Laden seit beinahe vier Jahrzehnten in der Wolfgang-Heinze-Straße betreibt. Sie hatte Glück: Ein Feuerwerkskörper, der in ihrem Geschäft landete, verschmorte lediglich etwas Ware, darunter einen Katzenkalender.
Unmittelbar nach der Horrornacht war Fleischmann eines der ganz wenigen Opfer, die offen darüber sprachen. Heute schweigt auch sie. „Versuchen Sie es woanders. Aber Sie werden niemanden finden, der etwas sagt“, erklärte sie auf Anfrage der „Welt“ freundlich, aber bestimmt. Die Frau behielt recht. Auch andere Geschäftsleute wollten sich nicht äußern.
„Wenn es die Strategie der Neonazis war, die Betroffenen einzuschüchtern, dann ist sie aufgegangen“, konstatierte die Radiojournalistin Ine Dippmann nach ähnlichen Erfahrungen. Dafür entlockte sie Bernd Merbitz, dem Präsidenten der Polizeidirektion Leipzig, Aussagen, die tiefe Einblicke in sächsische Zustände ermöglichen.
Merbitz, der einen tadellosen Ruf genießt, ist zugleich Chef des Operativen Abwehrzentrums Sachsen, das gegen extremistisch motivierte Straftäter ermittelt. 215 mutmaßlich Verdächtige überwiegend aus Sachsen, aber auch aus anderen ostdeutschen Ländern sind den Fahndern namentlich bekannt. Die Polizei hatte sie noch in der Tatnacht festgesetzt. Der Vorwurf lautet auf schweren Landfriedensbruch. Das bedeutet: Jedem Einzelnen muss nicht nur die Teilnahme nachgewiesen werden, sondern auch, dass er Teil einer Gruppe war, die gemeinschaftlich handelte.
Mehr als 170 Personen seien „schon kontaktiert beziehungsweise vernommen worden“, zitierte der MDR den Polizisten kurz vor Weihnachten. Es gebe viele positive Spurenauswertungen, etwa über DNA oder Kleidung. Jedem Einzelnen muss individuell eine Beteiligung nachgewiesen werden.
Laut Merbitz arbeiteten sechs bis acht seiner Leute an dem Fall. „Natürlich wäre es mir auch lieber, wenn mehr Personal zur Verfügung stehen würde. Dass das schneller geht. Aber so eine DNA-Analyse – und es gibt in Sachsen nicht nur diesen Fall zu klären – nimmt auch ihre Zeit in Anspruch.“ Das gelte ebenso für die Auswertung von Daten beschlagnahmter Handys.
Merbitz verwies zugleich auf ein anderes Problem. Die Polizei hoffte vergeblich auf Hinweise aus der Connewitzer Szene. Seinen Ermittlern sei gesagt worden, „dass sie der Polizei gegenüber keine Aussagen machen werden und selbst diese Personen besuchen werden“. Mit anderen Worten: Selbstjustiz.
Die Chancen dafür sind da, denn die Liste der 215 festgesetzten Neonazis gelangte an die Öffentlichkeit. Die Wohnung eines Beschuldigten wurde bereits von Linksautonomen zerstört. „Die Art der Selbstjustiz bringt uns kein Stück voran, ganz im Gegenteil“, sagte Merbitz. Damit schaukele sich die Gewalt nur hoch. Außerdem halte derlei gesetzeswidrige Rache von den Ermittlungen an den Verdächtigen ab. Er möchte, dass vor Ablauf eines Jahres Signale an die Öffentlichkeit gesendet werden. Soweit die Äußerungen vor Weihnachten.
„Die Ermittlungen dauern in allen Fällen noch an“
Auf Anfrage der „Welt“ wollte Merbitz, der schon öfters wegen seiner Äußerungen mit Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) aneinandergeraten ist, nichts mehr sagen. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft die Federführung übernommen.
„Die Ermittlungen dauern in allen Fällen noch an“, teilte eine Sprecherin der „Welt“ mit. Bislang sei kein Verfahren abgeschlossen. Schon wegen der Zahl der Beschuldigten handele es sich um komplexe, umfangreiche Verfahren. Derzeit sei nicht abschätzbar, wann „mit einem Verfahrensabschluss zu rechnen ist“ und ob Beweismaterial für eine Klageerhebung ausreiche.
Der sächsische Landeschef der Grünen, Jürgen Kasek, hat angesichts der Belastung Verständnis für die Justiz. Der Rechtsanwalt aus Leipzig vermisst allerdings – wie viele Bewohner von Connewitz auch – das von Merbitz angekündigte „Signal an die Öffentlichkeit“ und nennt den Ermittlungsstand „höchst unbefriedigend“. Es existierten Videoaufnahmen, zudem seien die Verdächtigen quasi auf frischer Tat „angetroffen“ worden. Die Verzögerungen würden das Vertrauen in die Justiz untergraben. „Die Bereitschaft zur Selbstjustiz könnte wachsen“, sagte Kasek, der aus der rechten Szene angefeindet wird wie kaum ein anderer sächsischer Politiker.
Das mit dem Gustav-Heinemann-Bürgerpreis der SPD ausgezeichnete Linksbündnis „Leipzig nimmt Platz“ klagt, zivilgesellschaftlicher Protest gegen Legida werde „immer wieder“ kriminalisiert. Gemeint ist damit ein Verfahren der Staatsanwaltschaft gegen die Leipziger Grünen-Bundestagsabgeordneten Monika Lazar. Sie hatte zu „friedlichen Blockaden“ gegen Legida aufgerufen, was die Anklagebehörde zunächst als öffentliche Aufforderung zu einer Straftat wertete. Das Verfahren ist inzwischen ergebnislos beendet.
„Wir interpretieren das als eine Mischung aus Unvermögen und mangelndem Interesse, möglicherweise auch politisch intendiert“, erklärte Carolin Franzke, Mitglied des Aktionsbündnisses, der „Welt“: Hinsichtlich der Handlungsbereitschaft des Rechtsstaates könne dies als „fatales Signal“ wirken. Das Aktionsnetzwerk stehe für friedlichen Protest.
Diesen Montag will Legida aus Anlass seines zweijährigen Bestehens auf die Straße gehen. Die Bewegung, die sich zwischenzeitlich mit Pegida überworfen hat, erwartet rund 2000 Teilnehmer. „Leipzig nimmt Platz“ will mit einer Kundgebung dagegenhalten. Auch in Connewitz ist eine Demonstration geplant. Im Aufruf einer „antifaschistischen Kampagne“ heißt es: „Ihr bestimmt selbst die Außenwirkung und Wahrnehmung der Demonstration.“
Wie hatte Oberbürgermeister Jung nach dem Überfall vor einem Jahr gesagt: „Das Schlimmste wäre, wenn die Menschen das Gefühl bekämen, sie wären in ihrer Stadt nicht mehr sicher.“