Chef des Thüringer Verfassungsschutzes: Kramer räumt den Laden auf

Erstveröffentlicht: 
01.12.2016

Als Generalsekretär des Zentralrats der Juden focht Stephan Kramer die großen politischen Debatten. Vor einem Jahr wurde er Chef des Thüringer Verfassungsschutzes. Seither läuft ein Experiment: Macht der Quereinsteiger das im NSU-Skandal blamierte Amt wieder groß – oder machen ihn die Umstände klein?

 

Von Stefan Schirmer

 

An einem Donnerstagabend im September sucht Stephan Kramer seine Bühne. Er ist nach Gotha gefahren, auf das Gelände eines früheren Schlachthofs. In einer Kneipe mit Kleinkunst-Saal, in dem sonst Coverbands auftreten oder "Deutschlands bekannteste Twitter-Oma" vorliest, ist diesmal er, Thüringens Verfassungsschutzchef, der Act des Abends.

 

Aber als Kramer eintrifft, erblickt er ein Malheur: viele Stühle, fast alle leer. Auf dem Podium baut schon jemand die Mikrofone ab, im Halbdunkel davor werden einige Tische und Stühle zusammengeschoben. Kramer stutzt, als er sieht, dass er keine Bühne mehr hat. Dann beginnt er, sie zurückzuerobern.

 

"Habt ihr noch Licht?", ruft er, zieht das Jackett aus und setzt sich an den Tisch, neben Gothas Landrat. Der hatte ihn hierher eingeladen, um vor Publikum über den Verfassungsschutz zu diskutieren, doch in den nächsten zwei Stunden kommt er kaum zu Wort. Das hier ist Kramers Vorstellung.

 

Kramer beginnt, von sich zu erzählen. Es sind Szenen wie aus einer Netflix-Serie. Wie er, Kramer, vor Jahren eines Sonntagabends daheim in Jogginghose saß, als ihn telefonisch das Jobangebot seines Lebens erreichte – vom Zentralrat der Juden, dessen Generalsekretär er später werden sollte. Wie er einmal einem Fremden, der ihn am Ku’damm belästigte, seine zum Selbstschutz mitgeführte Pistole zeigte. Nach 40 Minuten geht es erstmals um die Arbeit seiner Behörde. Da hat der Act des Abends die neun Zuhörer schon auf seiner Seite.

 

Es ist ein Jahr her, dass Stephan Kramer dort auftauchte, wo keiner ihn erwartet hatte. Thüringens rot-rot-grüne Regierung berief ihn damals an die Spitze ihres Verfassungsschutzes. Das ist ein Posten, den lange niemand hatte haben wollen. Seit 2011 die Mordserie des aus Jena stammenden NSU aufflog, ist dieses Amt blamiert. Es hatte sich als ahnungslos und arrogant erwiesen, teils geradezu als Komplize brauner Täter. Als Inbegriff staatlichen Versagens.

 

Den Totalschaden, den der Staat im Kampf gegen Neonazis erlitten hatte, sollte nun ein deutscher Jude reparieren. Nicht nur deshalb zog Kramers Berufung bundesweit Blicke auf sich. Sie war auch ein paradoxes Experiment: Kramer soll, erstens, einer Behörde zu Schlagkraft verhelfen, die einige seiner Auftraggeber eigentlich abschaffen wollen – vor allem die Linken um Bodo Ramelow, den Regierungschef. Mit ebendieser Mission wurde, zweitens, ein Mann betraut, der nicht aus dem Sicherheitsapparat kommt, der nie in einer Behörde gearbeitet, geschweige denn eine geleitet hat. Einer, der in seinen Jahren beim Zentralrat der Juden als beherzter Unruhestifter aufgefallen war. Es sah aus, als sei ein bunter Hund zum Anführer einer Camouflage-Truppe bestimmt worden.

 

Wenn Kramer erzählt, wie er zum Amt kam, klingt das eher nach einem Witz. Zu Ramelow, den er gut kenne, habe er mal im Scherz gesagt: Mach mich doch zu deinem Verfassungsschutzchef! Etwas später habe ihm Innenminister Holger Poppenhäger (SPD) den Posten tatsächlich angeboten. Von Kramer erhoffe er sich "neuen Spirit", sagte Poppenhäger. Die Personalie galt als Coup: Die Führung eines Amtes, das viele für dubios halten, ging an den Ex-Manager einer Institution, die für höchste moralische Integrität steht.

 

Nur, was wurde aus dem Experiment? Es ist, so viel sei vorausgeschickt, für viele Beteiligte eine Grenzerfahrung, auch für Kramer selbst: Die Grenzen, an die er in Thüringen stößt, sind welche, von denen er vorher vielleicht nicht geahnt hätte, dass es sie gibt. Und man fragt sich, wer hier wen schneller verändert: Der Mann das Amt? Oder das Amt diesen Mann? 

 

Die neue Offenheit ist demonstrativ

 

 

Ein Besuch bei Stephan Kramer. Sein Geheimdienst mit 100 Mitarbeitern sitzt in einem Gewerbegebiet am Rande Erfurts, neben einem Krankenhaus und – als sei dies eine Detlev-Buck-Komödie – einem Kostümverleih. Hinter der Plattenbaufassade, die sich gar nicht erst wohnlich tarnt, liegen Flure mit Krankenhaus-Charme; hier strebte einst der VEB Mikroelektronik nach sozialistischem Weltniveau. Auf Etage acht hat Kramer sein Büro.

 

Der mit Akten gespickte Safe in einer Ecke des Raums steht weithin sichtbar offen, was Kalkül ist. Kramer, kariertes Sakko, Zehn-Tage-Bart, weiß um die Wirkung so eines Details auf Besucher. Die neue Offenheit ist demonstrativ. "Anfangs gab es viel Geraune über mich", sagt er. "Manche hielten mich für ein U-Boot mit dem Ziel, diese Behörde abzuwickeln. Das Gegenteil stimmt." Zwar hatte Kramer nach dem NSU-Schock, als von seinem neuen Job noch keine Rede war, selbst für die Auflösung des Verfassungsschutzes plädiert. Doch davon ist nicht mehr viel zu hören.

 

"Schon wegen der Gefährdungslage braucht das Land einen funktionierenden Nachrichtendienst", sagt er. "Letztens haben wir die 3.500 Teilnehmer eines Neonazi-Konzerts ziemlich genau prognostiziert." Er sagt jetzt "Wir", wenn er über den Verfassungsschutz spricht. Er habe eben Monate der "Druckbetankung" mit Wissen hinter sich. Viel Aktenarbeit. Der 48-Jährige redet über Extremisten, Salafisten, Wirtschaftsspione; "G 10", "TKÜ" – das Amtssprech flicht er lässig ein. Ein Mann, aufgegangen im Amt. Trotzdem läuft eine Wette, ob Kramer seine Behörde wieder groß machen kann, oder ob doch am Ende die Umstände ihn kleinkriegen werden.

 

Kramer strotzte vor Tatendrang, als er kurz nach Dienstantritt damit begann, Unruhe zu stiften. Er gab Interviews. Erst forderte er für sein Amt mehr Befugnisse bei der Überwachung digitaler Kommunikation – in einer rot-rot-grünen Koalition! Wenig später verlangte er, in der rechten Szene wieder V-Leute einsetzen zu dürfen. Dabei waren die in Thüringen als Lehre aus dem NSU-Desaster gerade erst "abgeschaltet" worden. Nun gab es erst recht Unruhe. Schon streuten einige Linke, Kramer sei eine Fehlbesetzung. "Ich glaube, die Opposition hat Sekt und Knabbergebäck bereitgestellt, wenn Kramer sich wieder einmal geäußert hat", sagt eine Führungskraft der Koalition. Kramer selbst sagt: "Ich gebe zu, ich habe anfangs ein paarmal die Leitplanken geschrammt. Aber auch ich lerne dazu."

 

Was bei einem Linksbündnis auf Bundesebene die explosive Ja-oder-Nein-Frage nach der Nato ist, ist auf Landesebene die nach dem Verfassungsschutz. Viele Linke betrachten den Geheimdienst als Teufelszeug. Ramelow und andere wurden jahrelang selbst beobachtet; die "Kommunistische Plattform" der Partei wird es bis heute. "Über mich hatte das Amt ein Personendossier angefertigt", sagt Steffen Dittes, Innenpolitiker der Linken im Landtag.

 

"Zum Teil sitzen noch dieselben Leute im Amt, die es angelegt haben." Dittes klingt wenig versöhnlich. Wie er Kramer findet? "Wie er als Mensch ist, interessiert mich nicht", sagt er. "Für mich ist er Amtsleiter, kein politischer Akteur." Als sich Dittes einmal mit Kramer traf, legte er Wert darauf, dass dessen Vorgesetzter dabei war, der Staatssekretär. Viele in der Linken und auch bei den Grünen wollen an der Spitze des Verfassungsschutzes nur einen gefügigen Amtsverweser, keine starke politische Stimme.

 

Für ein political animal wie Kramer schwer zu akzeptieren. Man muss sich nur in seinem Büro umschauen. An den Wänden hat er sein altes Leben ausgebreitet. Da hängen viele, teils mit Widmungen versehene Fotos von Leuten, mit denen er zu tun hatte. Es wirkt wie ein Panini-Album politischer Prominenz. Man sieht: Helmut Kohl ("traf ich als kleiner Abgeordnetenmitarbeiter im Bundestag"), Richard von Weizsäcker ("schrieb das Vorwort für eines meiner Bücher"), Frank-Walter Steinmeier, Henry Kissinger, Kardinal Lehmann. Neben der Tür: Papst Benedikt beim Handshake mit Kramer! Kramers politisches Herz ist weit. Wer sonst hängt sich Bilder von Edmund Stoiber und Claudia Roth auf? Als seien das Familienmitglieder.

 

Als Generalsekretär des Zentralrats der Juden von 2004 bis 2014 vernetzte Kramer sich bestens. Der gebürtige Westfale profilierte sich als Hansdampf in allen Debatten. Ob NPD-Verbot, Zuwanderung oder Nahostkonflikt: Kramer war omnipräsent, hatte einen Hang zum Polarisieren, manchmal schoss er über das Ziel auch deutlich hinaus. 2009 rückte er Thilo Sarrazin wegen migrantenfeindlicher Äußerungen in eine Reihe mit Hitler (was er später zurücknahm). Der Kramer sei hochintelligent, aber stets eine Spur unberechenbar, sagt ein Ex-Kollege. Kramer, der erst als Erwachsener den jüdischen Glauben annahm, agierte so auffällig und machtbewusst, dass er, obwohl ursprünglich nur Verwaltungschef, bald als politisches Gesicht des Zentralrats galt. Sehr zum Ärger des damaligen Präsidenten Dieter Graumann. Schließlich trennte man sich.

 

In Erfurt ist er nun selbst Präsident. Qua Titel. Faktisch ist der studierte Sozialpädagoge Kramer Abteilungsleiter im Innenministerium; einer von fünf. Der Ministerpräsident, den Kramer in seinem alten Leben als Gleichrangigen betrachtete, arbeitet nun drei Führungsebenen über ihm. "Ohne Bodo Ramelows Wohlwollen würde dieser Stunt, dieses Experiment nicht laufen", sagt Kramer. Das stimmt, einerseits. Andererseits schwebt der Premier so weit über den Niederungen des politischen Alltags, dass andere Faktoren wichtig wurden. Manche hat Kramer wohl unterschätzt. Nicht nur, dass er jetzt drei Viertel der Zeit mit dröger Aktenarbeit verbringe.

 

Er hatte auch gedacht, sein Status als Quereinsteiger könne ihm helfen. Etwa seine Erfahrung aus jahrelangem Engagement gegen Neonazis. Aber, sagt da die Thüringer Grünen-Abgeordnete Madeleine Henfling, "Herr Kramer muss einsehen, dass er die Seiten gewechselt hat. Als Chef eines Geheimdienstes kann er nicht mehr Akteur der Zivilgesellschaft sein!" Einmal war Kramer eingeladen zu einer Tagung der Amadeu-Antonio-Stiftung, deren Stiftungsrat er angehört. Er sollte ein Grußwort halten. Doch einzelne Linke und Grüne intervenierten bei Twitter. Bald hieß es bei der Stiftung: Man habe Angst, dass die Tagung gesprengt würde, falls der Verfassungsschutzchef dort spräche. Die Rede wurde abgesagt. "Aber aus dem Vorstand muss ich nicht austreten?", twitterte Kramer zurück. 

 

Stillhalten war nie Kramers Stärke


Da hat er, für jeden sichtbar, einen Streit im Social Web ausgetragen. War das klug? "Auch in meinem Haus gab es kritische Fragen, wieso ich mich öffentlich, wie es im Jiddischen heißt, anpischen lasse", sagt er. "Aber hätte ich nicht reagiert, hätte es geheißen: Schau an, er schweigt!"

 

Stillhalten war nie Kramers Stärke. Als er eines Tages bei Twitter gefragt wird, wieso auf Bildern von seinem Büro eine US-Flagge zu sehen sei, schreibt er: "Warum nicht? In meinem Büro stehen auch eine Thüringen-, Europa- und Deutschland-Fahne." Darauf der Fragende: "Wir wollen Fotos sehen :)" Acht Minuten später postet Kramer eins. Es geht hin und her. Wieso er gleich zwei US-Flaggen habe? Ob er sich der Symbolik bewusst sei? Seine Amerika-Neigung hat Kramer nie verheimlicht. Im Büro ist eine US-Admiralsmütze ausgestellt, die er, selbst Reserveoffizier der deutschen Marine, in den USA geschenkt bekam. Seine Frau ist Amerikanerin. Der Subtext bei Twitter: Sind Sie bei der CIA? Irgendwann tippt Kramer entnervt: "Blödsinn".

 

@Blogzentrale Warum nicht? In meinem Büro stehen auch eine Thüringen, Europa und Deutschland-Fahne.

— Stephan J. Kramer (@Stjkramer) 13. August 2016

 

Mit Kramer bei Twitter, frotzelt ein Linker, könne jeder ein bisschen mit dem Verfassungsschutz spielen. Wobei: Ein Geheimdienstchef, der für Öffentlichkeit und Transparenz sorgt, folgt der nicht schon linken Idealen? "Es ist doch schizophren", sagt Kramer, "dieselben Linken haben dem Amt nach dem NSU Geheimniskrämerei vorgeworfen." Er habe Kritikern die Hand gereicht, doch er werde geschnitten. "Ich wusste zwar, dass Thüringen politisch ein schwieriges Pflaster ist. Ich hätte aber nicht gedacht, dass sich Streit hier so schnell von der sachlichen auf die persönliche oder ideologische Ebene verlagert. Oft wird nicht um das beste Argument gerungen, sondern nur darum, dem Gegenüber Schaden zuzufügen. Das enttäuscht mich."

 

Man fragt sich, wieso der in Berlin gestählte Kramer sich in Thüringen so schwertut. Aber es mag sein, dass es auch an seiner politischen Biografie liegt. Er ist heute SPD-Mitglied, aber war erst in der CDU, dann in der FDP, auch in einer Kommission der Grünen arbeitete er mal mit. Wer parteipolitisch so geschmeidig ist, kann mit Ideologie wenig anfangen. Die Frage, wie man das schlimmste Staatsversagen reparieren kann, ist zu einer schnöden Frage von Parteipolitik mutiert. Ausgerechnet die, die anfangs mit Kramers Berufung am wenigsten anfangen konnten, preisen ihn. Er sei "erfrischend anders", sagt der Top-Verfassungsschützer eines anderen Landes. Kramer habe sich prima eingearbeitet, lobt Wolfgang Fiedler, CDU-Innenpolitiker in Thüringen. "Ich hatte erst Bedenken, weil er kein Jurist ist, aber ich muss mich korrigieren." Das Problem sei, dass Kramers Behörde kaputt gespart werde, sagt Oppositionsführer Mike Mohring (CDU). "Die haben ihn geradezu gefesselt im Amt. Ihm bleibt als einziges Instrument nur sein Wort."

 

Kramer wirkt inzwischen wie gezähmt. Er betont, wie eng er sich nun vor Interviews mit seinem Minister abspreche. Der Mann, der früher die große Hauptstadtbühne bespielte und als Zentralratsfunktionär jederzeit einen Termin im Bundeskanzleramt bekommen hätte, macht es nun ein paar Nummern kleiner. Er sei viel zu Besuch bei Landräten, sagt Kramer.

 

Man kann es durchaus als Erfolg werten, dass sein Amt unter seiner Führung nicht weiter in Verruf geraten ist, obwohl es kurzgehalten wird. "Kramer kämpft da um jeden PC", sagt ein SPD-Mann. Und trage ein einseitiges Risiko: Sollte in Thüringen ein Anschlag gelingen, werde es nicht heißen: Okay, wir müssen den Verfassungsschutz besser ausstatten. Die Linke werde sagen: Da sieht man es, dieses Amt taugt nichts!

 

Am Tag, als die Amerikaner Donald Trump wählen, gastiert Kramer abends im Wirtshaus Goldene Henne, Arnstadt. Dicke Tischdecken, 30 Zuhörer. Die örtliche SPD hat geladen. Wieder einmal blitzt Kramers Talent zum Netzwerken auf. Beim Bürgermeister lädt er sich zum Kaffeetrinken ein. Lokalgrößen nennt er beim Vornamen. Dann referiert er: "Der Thüringer Verfassungsschutz im Spannungsfeld zwischen Reichsbürgern und IS", darum geht es. Vor allem aber geht es um Kramer. Ein Abend im Kramer-Sound. Er sagt nicht: "Ich musste mich einarbeiten." Sondern: "Ich bin nicht aus der Wiege gefallen und hatte eine Nachrichtendienstflasche im Mund." Täter nennt er "Dumpfbacken" und "schlimme Finger". Sich selbst "Onkel Kramer".

 

Was er denn zur jüngsten Schelte der Linken-Fraktionschefin gegen sein Amt sage?

 

"Sie ist mir noch nie im Landtag begegnet, weil sie jedes Mal einen Umweg macht, wenn sie mich sieht." Die Linke, sagt er, solle ihn endlich arbeiten lassen. Irgendwann meldet sich ein Zuhörer. Er müsse ein Lob loswerden, sagt er: "Sie sind sehr unterhaltsam, Herr Kramer!"