Reichsbürger in Deutschland - Absurd unterschätzt

Erstveröffentlicht: 
29.11.2016

Seit den tödlichen Schüssen eines Reichsbürgers auf Polizisten in Bayern beschäftigt sich die Öffentlichkeit mit dem Milieu. Die Gefahr, die von den Rechtsextremen mit absurden Fantasieausweisen ausgeht, wurde unterschätzt. Nun diskutiert die Politik über Konsequenzen.

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

 

Aufrufe zur Gewalt, Holocaust-Leugnung, Neonazi-Propaganda: Die Szene der Reichsbürger überbietet sich immer wieder selbst in ihrer radikalen Rhetorik. Beispiele gibt es reichlich. Er sei "kein Staatsangehöriger der BRD und dieser gegenüber zu keinerlei Loyalität verpflichtet", schrieb der Rechtsextremist Gerhard Ittner am 11. November 2016 in einer Rundmail. Ittner ist seit vielen Jahren in der Neonazi-Szene aktiv, im Umfeld von DVU sowie NPD - und auch im NSU-Komplex tauchte sein Name am Rande auf.

 

Obwohl er bereits vorbestraft ist, hetzt er offen weiter. In einer E-Mail, die er unter anderem an den Autoren schickte, schrieb er am 25. November:

 

"Ich halte die Geschichten von den 'Gaskammern', den '6 Millionen' und den ganzen Schmarrn für ERSTUNKEN und ERLOGEN! Das Fremdherrschaftsregime des antideutschen Hasses und des Vernichtungsauftrags gegen das Deutsche Volk, es hat KEIN RECHT, Freien Deutschen Menschen - die NICHT seine Staatsangehörigen sind! - wie entmündigten Sklaven vorzuschreiben, welche Ansichten über den 'Holocaust' diese nicht äußern dürfen."

 

Ittner beleidigte den Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel in dem Schreiben als "allerübelsten Holocaustlügner". In einem Video auf YouTube sprach Ittner im August 2016 zudem von den "haarsträubend absurden Geschichten" des "sogenannten Holocausts". 

 

"Geschäftsführer Gauck"


Die Reichsbürger behaupten, die Bundesrepublik sei kein Staat, sondern eine Firma; vermeintlicher Beweis: der Personalausweis. Denn mit diesem würden die Bürger zu Personal gemacht - und solches gebe es nur in Firmen. Der Bundespräsident wird dementsprechend als "Geschäftsführer" bezeichnet. Selbst sieht man sich nicht an die Gesetze gebunden und ruft eigene Fantasiestaaten aus: den Freistaat Preußen beispielsweise, der ein eigenes "Auswärtiges Amt" betreibt und "öffentliche Bekanntmachungen" im Netz verbreitet.

 

Die Reichsbürger sind zwar oft Einzelkämpfer, aber bestens vernetzt. So haben sich beispielsweise auf einer Internet-Seite "Gruppengründer und Administratoren" registriert; das Motto der Seite lautet: "Aufstand und Widerstand ist Pflicht." Zu diesem Pflichtprogramm gehören antisemitische Videos, in denen verkündet wird, nun beginne "der Kampf gegen das Judentum". Viele Reichsbürger treten dabei ganz offen auf - und auf einer interaktiven Karte haben sich Dutzende Personen aus ganz Deutschland und dem Ausland eingetragen, um sich in der Szene zu vernetzen.

 

Dazu kommen zahlreiche Splitterorganisationen und Vereine in ganz Deutschland. Trotz dieser Strukturen beobachtete das Bundesamt für Verfassungsschutz das Netzwerk bislang nicht, weil es keine bundesweite Organisation gebe. Allerdings hatte es bereits eine ganze Reihe von Waffenfunden und Vorfällen mit Reichsbürgern in mehreren Bundesländern gegeben - vom nicht bezahlten Strafzettel bis zu Waffenfunden und SEK-Einsätzen. Allein in Nordrhein-Westfalen registrierten die Behörden zwischen 2012 und September 2016 67 Straftaten, bei denen die Tatverdächtigen zumindest im Verdacht stehen, den Reichsbürgern anzugehören oder entsprechendes Gedankengut vertreten zu haben. In 19 Fällen davon handelte es sich bei den Geschädigten um Mandatsträger, Beamte oder andere Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. In vier Fällen wurden Gewaltdelikte begangen.

 

Trotz dieser einschlägigen Erfahrungen habe es bislang in NRW weder eine einheitliche Erfassung gegeben noch würden Reichsbürger im Kriminalpolizeilichen Meldedienst "Politisch motivierter Kriminalität" oder im staatsanwaltlichen Registrierungssystem mit einem eigenen Schlagwort erfasst. "Selbst in den Justizstatistiken kommen Reichsbürger in NRW überhaupt nicht vor", kritisiert der Linken-Abgeordnete Daniel Schwerd, der eine Anfrage zu dem Thema an die Landesregierung in Düsseldorf stellte. Diese teilte mit, in NRW gingen die Sicherheitsbehörden davon aus, dass das Personenpotential "derzeit bei etwa 200-300 Reichsbürgern liegt". Die Zahl könne sich durch "die weitere Aufhellung des Dunkelfelds allerdings noch erhöhen".

 

Hunderte bewaffnete Reichsbürger allein in Bayern?

 

Genau das ist in Bayern bereits geschehen, wo man seit den tödlichen Schüssen eines Reichsbürgers auf einen Polizisten in Georgensgmünd genauer hinschaut, wie Innenminister Joachim Hermann betont. Waren Sicherheitsbehörden bis vor wenigen Wochen noch von einigen Hundert Reichsbürgern in ganz Deutschland ausgegangen, heißt es nun, allein in Bayern könnte es rund 1600 Bürger geben, die zu diesem Milieu zählten. Jeder Fünfte davon sei bewaffnet.

 

Bundesjustizminister Heiko Maas regte daher nun in der ARD an, über die Waffengesetze nachzudenken - und der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger will auch auf der heutigen Innenministerkonferenz in Saarbrücken auf eine frühe Regelabfrage durch den Verfassungsschutz dringen. Es müsse alles getan werden, damit Extremisten nicht in den Besitz von Waffen gelangten, sagte Jäger der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Es mache wenig Sinn, erst die waffenrechtliche Erlaubnis zu erteilen, dann über einen Abgleich der Verfassungsschutzbehörden festzustellen, dass über den Betreffenden Erkenntnisse vorlägen, und eine erteilte Erlaubnis dann wieder zurückzunehmen.

 

Mehrere Polizisten unter Verdacht

 

Besonders brisant: In Bayern stellte sich mittlerweile heraus, dass zwei Polizisten Kontakte zu dem Reichsbürger von Georgensgmünd hatten. Zudem sollen sich zehn Polizisten im Freistaat offen zu den Reichsbürgern bekennen, wie der BR berichtete. Diese Zahl könne sich noch erhöhen. Auch in Sachsen-Anhalt, Sachsen und NRW sowie bei der Bundespolizei gibt es Verdachtsfälle, wonach Polizisten mit Reichsbürgern sympathisierten oder sich sogar offen zu der Bewegung bekennen. In mehreren Bundesländern wurden bereits Polizisten suspendiert, so beispielsweise auch in Rheinland-Pfalz. Der Polizeipräsident von Trier betonte in diesem Fall, die Öffentlichkeit habe einen Anspruch darauf, dass die Polizeibediensteten "rückhaltlos für unsere Verfassung eintreten".