Debatte Deutsche Bahn und Geflüchtete - Zynische Zweiklassenhilfe

Erstveröffentlicht: 
16.11.2016

Gestrandete Bahnfahrer können auf Rettung hoffen – Geflüchtete aber nicht. Was sagt das über unsere Gesellschaft?

 

 

Vergangene Woche überraschte uns der Winter in der Lüneburger Heide mit bis zu 20 Zentimetern Schnee. Züge fielen aus. In der ersten Kältenacht strandeten offenbar um die 50 Fahrgäste am Hundertwasserbahnhof Uelzen, der nachts verschlossen ist. Also standen die Leute, darunter Kinder, in der Kälte. Das Deutsche Rote Kreuz rückte an und verteilte Heiß- und Kaltgetränke. Die Familien brachte man in ein Hotel.

 

Und ich hatte ein Déjà-vu. Vor exakt einem Jahr nämlich – da waren an allen großen Bahnhöfen bereits Freiwillige im Einsatz, um ankommende Flüchtlinge zu versorgen und zu beraten – erfuhren ein Arzt aus dem Wendland und ich, dass auch im besagten Uelzen jede Nacht Geflüchtete ankamen und nicht weiterfahren konnten. Nicht etwa wegen des Wetters, sondern weil die Züge nachts in Uelzen enden und in ein Depot fahren.

 

Erst gegen vier Uhr morgens nehmen sie ihre Fahrt wieder auf; von dieser Eigenart des niedersächsischen Bahnverkehrs konnte niemand in Syrien oder Afghanistan vorab wissen. Auch damals blieb der Bahnhof nachts geschlossen. Auch damals froren auf Uelzener Bahnsteigen Erwachsene und Kinder, oft 20, manchmal 40 Menschen pro Nacht.

 

Und hier endet das Déjà-vu. Das Deutsche Rote Kreuz rückte an: null Mal. In ein Hotel gebracht wurden: null Flüchtlinge. Die Stadt Uelzen versorgte mit Betten, Essen, Rat oder Wärme: keinen Einzigen nächtlich Gestrandeten. Wir beknieten zig Stellen und Vereine, führten Dutzende von ergebnislosen Gesprächen.

 

Ein Bundespolizist äußerte mir gegenüber einmal, das sei „unverantwortlich, dass die Leute mit Kindern so spät reisen“. Wurde auch den Fahrgästen letzte Woche „Unverantwortlichkeit“ vorgeworfen?Warum nicht gleich so?

Was, wenn vergangenen Winter ein Kind in der Kälte am Uelzener Bahnhof umgekommen wäre? Ein Mitarbeiter vom Deutschen Roten Kreuz sagte uns damals zynisch, man könne ja „jeden Tag nach Passau fahren und sich 20 neue holen“. Wir versuchten, seine Vorgesetzten darauf aufmerksam zu machen, dass dies möglicherweise keine passende Einstellung für einen DRK-Mitarbeiter sei. Der Effekt war, Sie ahnen es schon: gleich null.

 

 

Ein Netz von Freiwilligen entstand, die Nacht für Nacht, ab dem 20. November fünf Monate lang, die gestrandeten Geflüchteten von den Bahnsteigen abholten, im Warmen übernachten ließen, mit Essen, Pampers und trockenen Socken versorgten.

 

Als ich jetzt in der Lokalzeitung las, dass das DRK die 50 Reisenden mit „Heiß- und Kaltgetränken“ versorgte, wurde ich wahnsinnig wütend. Natürlich sei all diesen Leuten der Tee gegönnt. Aber warum kann das DRK jetzt plötzlich nächtens anrücken und Tee für 50 Menschen kochen? Warum nicht letztes Jahr? Haben Menschen aus Zentralafrika oder Nahost einen irgendwie anderen Stoffwechsel, der ohne Flüssigkeit und Wärme auskommt? Frieren afghanische und syrische Kinder anders?

 

Kommen offizielle Helfer also nur, wenn es, wie vergangene Woche, unerwarteter Schneefall ist, der Menschen in eine Notlage brachte, nicht aber bei einer geradezu läppischen Fluchtursache wie Krieg?

Willkür und Ohnmacht

Die Lokalzeitung schrieb, in der vergangenen Woche habe man mit einem eigens bereitgestellten Zug den Reisenden Asyl geboten. Das Wort „Asyl“ hat hier einen äußerst bitteren Nachgeschmack. Wie viele von den über tausend Menschen, die wir in jenen fünf Monaten für eine Nacht aufnahmen, haben wohl das erhoffte Asyl erhalten?

 

Ende 2015 waren die Aufnahmequoten noch hoch; nahezu 100 Prozent der Eritreer, Syrer und Iraker erhielten Asyl. Schon im April 2016 sah es, so informiert pro asyl, anders aus: Da bekamen rund 16 Prozent der Syrer nicht mehr den Flüchtlingsstatus laut Genfer Konvention zugesprochen, sondern erhielten nur noch subsidiären Schutz; im Juni 2016 waren es dann 46 und im August 2016 bereits rund 70 Prozent.

 

Diese Syrer erhalten Aufschub, viele Afghanen nicht. Zu der afghanischen Sicherheitslage vertreten die deutsche Regierung und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) nämlich eine ganz eigenwillige Auffassung. Kein*e Bundesbürger*in würde dort Urlaub machen, und unsere Politiker, wenn sie denn mal hinmüssen, hüllen sich in schusssichere Westen, bis sie aussehen wie Michelinmännchen.

 

Für Nichteuropäer aber ist Afghanistan anscheinend gut genug. Seit dem Abkommen Anfang Oktober gibt Europa Afghanistan Geld dafür, dass es die Menschen, die dort nicht leben wollen, zurücknimmt. Wenn sie keine gültigen Papiere haben, stellt man ihnen eine Art Ersatzpass aus. Nein, an der Bürokratie soll es ja nicht scheitern, nicht wahr? Bis zu 50 Flüchtlinge in ein Flugzeug, und weg damit!

Und das nennt man „politische Lösung“?

Wir begegneten vielen Afghanen nachts auf dem Bahnhof in Uelzen. Ich sehe ihre Gesichter noch vor mir und hoffe so sehr, dass sie bleiben durften. Der Familienvater, der hyperventilierte, weil sein Sohn in Hannover abhandengekommen war (er wurde wiedergefunden). Seine Frau, die nicht einmal mehr Angst empfinden konnte, sondern so erschöpft war, dass sie einschlief, kaum dass sie sich gesetzt hatte.

 

Das vielleicht 15-jährige Mädchen mit der Bommelmütze, wir lachten über wortlose Witze. All die jungen Männer in dünnen Jacken, die uns ihren Weg über Iran und Türkei in die Luft malten: Vier bis sechs Wochen hatten sie oft dafür gebraucht, dort und dort lang und dann rüber nach Lesbos mit einem Boot.

 

Wie kann man Menschen, die solche Gefahren und Strapazen auf sich genommen haben, um herzukommen, überhaupt abweisen? So viele alteingesessene Deutsche lernen mit den Neuankömmlingen Deutsch, musizieren, lesen und kochen gemeinsam mit ihnen. Doch sie sind machtlos, wenn eine Behörde entscheidet, dass die neuen Nachbarn und Freund*innen wieder zurückgeschickt werden sollen.

 

Diese Ohnmacht, diese Willkür; all dieses Geld, das den Besitzer wechselt, um Menschen unter Zwang an einem Ort festzuhalten, dem sie entfliehen wollen. Und das nennt man eine „politische Lösung“? Es macht mich krank, daran zu denken.