Die Spuren vom NSU zum Fall Peggy

Erstveröffentlicht: 
17.10.2016

Nach dem Fund von DNA-Spuren des NSU-Terroristen Böhnhardt im Fall Peggy werden ab heute ungeklärte Tötungsdelikte neu aufgerollt. Der DNA-Fund wirft die Fragen auf, welche Rolle Kindesmissbrauch im NSU-Komplex spielte - und ob dies auch mit dem Fall Kiesewetter zu tun haben könnte.

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

 

Ab heute untersucht eine neue Sonderkommission der Thüringer Polizei ungeklärte Fälle von Kindstötungen nach 1990. In Thüringen gibt es nach Angaben des Innenministeriums seit 1990 etwa 70 ungeklärte Fälle, wie viele davon Kinder sind, war nicht bekannt. Die Ermittler reagieren damit auf die Sicherstellung von Genmaterial Böhnhardts in der Nähe der sterblichen Überreste der getöteten neunjährigen Peggy aus Oberfranken.

Die Hinweise verdichten sich somit, dass die mutmaßlichen NSU-Rechtsterroristen an weiteren schweren Straftaten beteiligt gewesen sein könnten. Eine Verunreinigung der DNA-Proben kann zwar weiterhin nicht ganz ausgeschlossen werden, wird aber von Experten als eher unwahrscheinlich eingeschätzt.

Fachleute wie der Kriminalbiologe Mark Benecke halten zudem eine Täterschaft des NSU-Terroristen für durchaus möglich. Schwer antisoziale Menschen wie etwa Serienmörder begingen häufig auch andere Delikte, sagte Benecke im Deutschlandfunk.

Kinderpornografie in Zwickauer Wohnung gefunden

Für einen Zusammenhang spricht auch, dass es Verbindungen zwischen Neonazi-Szene, organisierter Kriminalität und Delikten wie Kindesmissbrauch sowie Kinderpornografie gibt. So hatten Spezialisten im NSU-Komplex auf einem Datenträger aus der Wohnung des Trios in Zwickau kinderpornografisches Material gefunden. Das entsprechende Ermittlungsverfahren wurde allerdings eingestellt, da Beate Zschäpe sich vor dem Oberlandesgericht München noch schwererer, nämlich terroristischer, Straftaten verantworten muss.

Bereits in den 1990er-Jahren soll gegen Zschäpe im Zusammenhang mit kinderpornografischen Delikten ermittelt worden sein.

Im Umfeld des mutmaßlichen NSU-Trios finden sich ebenfalls Personen, die mit Kindesmissbrauch in Verbindung gebracht wurden. Zuallererst der langjährige V-Mann Tino Brandt, führender Neonazi-Kader in Thüringen und Weggefährte von Böhnhardt, Uwe Mundlos und Zschäpe. Derzeit sitzt Brandt im Gefängnis, nachdem er 2014 wegen Kindesmissbrauchs zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Der ehemalige V-Mann hatte sich demnach an Minderjährigen vergangen und Jungen auch an andere Männer vermittelt. Das Landgericht Gera sprach ihn in 66 Fällen schuldig. Bei seinen Machenschaften soll er mit mit mindestens einem anderen Neonazi kooperiert haben.

Ein weiterer bekannter Thüringer Neonazi, der bis heute in der Szene aktiv ist und zu den Weggefährten der späteren NSU-Terrorgruppe gehörte, geriet im Jahr 1995 in den Verdacht des Kindesmissbrauchs. Die Ermittlungen wurden schließlich allerdings eingestellt.

Tötungsdelikt in Jena

Neu aufgerollt wird nun auch der Fall des neunjährigen Bernd. In den Ermittlungen zu dem Mord an dem Jungen in Jena war 1993 Uwe Böhnhardt als Zeuge vernommen worden; ein damaliger Freund von ihm galt als Tatverdächtiger. Dieser belastete wiederum Böhnhardt in dem Fall schwer. Zahlreiche weitere ungelöste Fälle werden nach den neuen Hinweisen im Fall Peggy noch einmal überprüft, ob es Hinweise auf einen Zusammenhang zum NSU geben könnte.

Dazu kommen enge Kontakte von Thüringer Neonazis ins Rotlichtmilieu und die organisierte Kriminalität - insbesondere nach Litauen. So überfielen Neonazis vom "Thüringer Heimatschutz" - in dem auch die späteren NSU-Terroristen aktiv waren - im Jahr 1999 gemeinsam mit Personen aus Litauen einen Geldtransporter. Mit der Beute hatten sie die Übernahme eines Bordells finanziert. Rückblickend stellt sich die Frage, ob nicht ein Teil der Beute möglicherweise an Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe geflossen sein könnte, die 1998 untergetaucht waren.

Kiesewetter-Freundin an Suche nach Peggy beteiligt

Und dann ist da noch der Fall Michelle Kiesewetter. Die NSU-Terroristen sollen die Polizistin 2007 in Heilbronn erschossen haben. Dieser Mord wirft besonders viele Fragen auf: Warum wählten die mutmaßlichen Täter plötzlich zwei Polizisten als Ziel aus? Warum in Heilbronn? Warum endete danach die Mordserie? Und war Kiesewetter, die wie die NSU-Terroristen aus Thüringen stammt, ein zufälliges Opfer?

In diesem Fall gibt es also ohnehin mehr Fragen als Antworten - nun kommen neue Merkwürdigkeiten hinzu. So war an der Suche nach Peggy eine Polizistin aus Thüringen beteiligt, die eine enge Freundin von Kiesewetter war. Diese Freundin und Kollegin war 2001 von der "Soko Peggy" aus Bayern damit beauftragt worden, in Thüringen an Seen nach der Leiche des vermissten Mädchens zu suchen. Später wurde die Polizistin vorübergehend aus dem Dienst suspendiert, weil sie interne Informationen weitergegeben haben soll - an ihren Lebensgefährten, der eine Security-Firma betreibt, bei der wiederum Neonazis arbeiten sollen.

Zuvor war die Polizistin mit Kiesewetters Patenonkel liiert gewesen. Dieser hatte 2007 - nur wenige Tage nach dem Mord in Heilbronn - eine bemerkenswerte Aussage getätigt: Kiesewetters Patenonkel behauptete, die Tat in Heilbronn stehe im Zusammenhang mit den bundesweiten "Türkenmorden".

Neue Soko untersucht ungeklärte Fälle

Die neuen Indizien im Fall der kleinen Peggy könnten also in eine finstere Parallelwelt von rechtsextremen Schwerkriminellen führen. Vorausgesetzt, die DNA-Probe war tatsächlich nicht verunreinigt. Ob Böhnhardt in diesem Fall aber an dem Mord selbst beteiligt war, oder dem Täter geholfen hatte oder lediglich kannte, wäre auch dann noch längst nicht klar. Der NSU-Komplex gibt auch fast fünf Jahre nach der Selbstenttarnung der Terrorguppe viele Rätsel auf.