Wie mit dem NSU umgehen? Zum Jahrestag der Explosion des Verstecks in der Frühlingsstraße flammt die Debatte wieder auf.
Von Michael Stellner
Zwickau. Am Schwanenteich lässt ein Vater mit seinen drei Kindern Drachen steigen, während vom Hauptbahnhof her durch den leichten Nieselregen schon Reggae-Musik wummert. Dort formiert sich die Antifa. "Zwickau - Stadt des NSU" steht auf einem Transparent. "Genug ist genug. Zwickauer Zustände in die Öffentlichkeit zerren" auf einem anderen, "Hate your Heimat" auf einem Dritten. Über Lautsprecher informieren die Veranstalter, wie man sich verhält, sollte man von der Polizei festgenommen werden. Tenor: nichts sagen, keinen verraten. Dann setzt sich der Tross von mehreren Hundert überwiegend schwarz gekleideten Menschen in Bewegung. Der Zug führt im immer stärker werdenden Regen quer durch Zwickau.
Einen Tag zuvor war der fünfte Jahrestag der Explosion in der Frühlingsstraße. Beate Zschäpe vernichtete damals das Haus, das dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) so lange als Unterschlupf gedient hatte. Nicht nur ein Gebäude war damals in sich zusammengefallen, sondern auch ein Gesellschaftsbild der Bundesrepublik. Wie soll eine Stadt damit umgehen, dass Mörder elf Jahre lang dort unbehelligt gelebt haben? Dass sie dort ein Netzwerk von Unterstützern hatten?
Während in anderen Städten, in denen die Neonazis mordeten, Gedenkstätten existieren, erinnert in Zwickau nichts daran. Oberbürgermeisterin Pia Findeiß (SPD) musste sich dieser Tage wieder einmal Fragen zur Aufarbeitung stellen lassen. Dem MDR sagte sie, man müsse die Ideologie in den Köpfen bekämpfen. Der Nachrichtenagentur dpa sagte Findeiß, eine sichtbare Erinnerung vor der abgerissenen Wohnung in der Frühlingsstraße 26 sei kein Thema. Stattdessen brachte sie erneut ins Gespräch, der Opfer des NSU am Mahnmal der Opfer des Faschismus zu gedenken.
Ein Vorschlag, der Franz Knoppe zum Lachen bringt. Knoppe, der mit dem Künstlerbündnis "Grass Lifter" für aktives Erinnern eintritt, sagt am Freitagabend auf einer Podiumsdiskussion: "Diese Idee ploppt jedes Mal zum Jahrestag kurz wieder auf. Aber eine richtige Debatte wird in der Stadt gar nicht geführt."
Eigentlich hatte es sich das Zwickauer Demokratie-Bündnis auf die Fahne geschrieben, daran etwas zu ändern. Deshalb finden zurzeit die "Novembertage" statt, die sich in Zwickau mit dem NSU und seinen Opfern auseinandersetzen. Doch die Veranstaltungsreihe findet kaum Resonanz. Nur 30 Besucher folgten der szenischen Lesung im Theater- Malsaal am Freitag, bei der Schauspieler Auszüge aus den Gerichtsprotokollen des NSU-Prozesses rezitierten. Die anschließende Diskussion über eine Erinnerungskultur in Zwickau krankte daran, dass sich für das Podium einfach niemand gefunden hatte, der sich gegen ein sichtbares Erinnern aussprechen wollte. Mehrere Stadträte seien angefragt worden, sagt Franz Knoppe, aber keiner habe zugesagt. Bei einem Theaterprojekt am Mittwoch in der Pestalozzischule spielten die extra aus Hamburg angereisten Schüler vor fast leeren Reihen. "Noch nicht einmal der Schulleiter hat mit uns gesprochen", sagt Knoppe. Der Schulleiter ist Jens Heinzig, ein SPD-Stadtrat. Was Knoppe darüber denkt, will er nicht zitiert wissen.
"Leute von außerhalb blicken auf Zwickau und fragen: Wie geht ihr damit um?" sagt René Hahn, Linken-Stadtrat und Mitarbeiter im Demokratie-Bündnis. "Aber setzt man sich mit dem NSU auseinander, wird man in Zwickau schnell als Nestbeschmutzer gesehen." Es hieße dann, man würde die ganze Stadt in ein schlechtes Licht rücken.
Während die Podiumsdiskussion noch läuft, baut die Initiative "Sternendekorateure" Sitzbänke am Schumannplatz auf. Auf jeder Bank stehen der Name eines NSU-Opfers sowie die Details zum Mord. "Zwickau ist in der moralischen Verpflichtung, der Opfer rassistischer Täter zu gedenken", heißt es in einer Erklärung. Bereits gestern Abend muss jedoch die Polizei anrücken, um einen Farbanschlag auf die Bänke aufzunehmen.
Am Samstagnachmittag läuft der Antifa-Demonstrationszug durch die Innere Plauensche Straße. Aus dem Lautsprecher kommt eine Frauenstimme. "Es gibt viele Orte, die es verdient haben, als rassistische Drecksnester bezeichnet zu werden. Aber Du, Zwickau, bist ein besonders widerliches rassistisches Drecksnest." Die Stadt sei eine Neonazi-Hochburg, die Politik unfähig, die Polizei untätig. Ein kleiner Junge, der mit seinem Vater aus den Arcaden kommt, fragt: "Papa, was wollen die?" Der Vater spannt den Regenschirm auf. "Also, die wollen ...", setzt er an. Dann seufzt er.