Von Hannelore Crolly - Bei einem alten NSU-Bekannten sollen Collagen von zerstückelten Kindern gefunden worden sein, mehrere DNA-Spuren werfen Fragen auf. Ein Experte glaubt: Die Pädophilie-Verbindungen sind kein Zufall.
Es ist ein Stückchen Wollstoff, das man mit bloßen Auge wohl kaum gesehen hat, zumal mitten im Wald, zwischen Laub und Erde. Aber dieses fingernagelgroße Fetzchen, das womöglich von einer Decke stammt, verknüpft völlig unerwartet zwei der spektakulärsten Kriminalfälle Deutschlands miteinander.
Denn auf dem Stoffteil, das nahe der Leiche der anderthalb Jahrzehnte lang verschwundenen Peggy K. in einem thüringischen Waldstück lag, fanden Rechtsmediziner den genetischen Fingerabdruck des mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt. Handelt es sich um einen skurrilen, schier unglaublichen Zufall oder eine tatsächliche Verbindung zwischen dem großen Rätsel um das Verschwinden der neunjährigen Peggy und dem rechtsextremistischen NSU-Trio?
Der mögliche Bezug macht Beobachter, Politiker und Opfer-Angehörige ebenso fassungslos wie Kriminologen. Er sei „sprachlos“, sagte ein Ermittler, der im Fall der im Mai 2001 verschwundenen Peggy in zwei Sokos beteiligt war, der „Welt“. Die Ermittlungen hätten „nie irgendwelche Hinweise auf Neonazis“ ergeben. Ein anderer Beamter sagte, dass „vom Opfer her nun wirklich gar nichts passt“.
Tatsächlich? Der DNA-Fund bedeutet mitnichten, dass Böhnhardt zwangsläufig für den Tod des Mädchens verantwortlich war. Aber zumindest deutet schon seit geraumer Zeit viel darauf hin, dass Kindesmissbrauch in der rechten Szene rund um den NSU keine Seltenheit war.
„Nach Prüfung der Akten ist mir die Häufung derartiger Fälle im Umfeld des NSU aufgefallen“, sagt Rechtsanwalt Yavuz Narin, der eine Opferfamilie im NSU-Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht vertritt. Auf diesen Umstand weist Narin seit 2012 hin, akribisch hat er seither Spuren verfolgt und auch im Prozess immer wieder entsprechende Fragen aufgeworfen. „Von einem Netzwerk zu sprechen, ist möglicherweise fast untertrieben. Man müsste eher von einem Sumpf sprechen.“
Neue Bedeutung für alte Spuren
Die neunjährige Peggy K. war am 7. Mai 2001 im oberfränkischen Lichtenberg auf dem Heimweg von der Schule verschwunden. Erst 15 Jahre später, am 2. Juli 2016, fand ein Pilzsammler Teile ihres Skeletts im Wald rund 15 Kilometer von Peggys Wohnort entfernt. Die Ermittler sind sich sicher, dass Peggy nicht an diesem Fundort gestorben ist. Wie lange das Mädchen nach dem Verschwinden noch gelebt hat, ist unklar. Die Knochenfunde passen aber zu einem neunjährigen Kind. Das Skelett war nicht vollständig, auch der Schulranzen des Kindes tauchte nie auf.
Nach dem DNA-Fund rücken nun wieder Aussagen von Zeugen ins Blickfeld, die von früheren Ermittlungsgruppen als falsch oder irrelevant eingestuft worden waren. So hatten zwei Zeugen unabhängig von einander von einem roten Auto berichtet, das nahe Peggys Wohnhaus am Lichtenberger Marktplatz gehalten haben soll und in das sie eingestiegen sei.
Außerdem ging die Polizei stets davon aus, dass das Kind zwischen 13 und 14 Uhr entführt worden sein soll. Anwohner behaupten aber, sie nachmittags und sogar noch in der Dämmerung in Lichtenberg gesehen zu haben. Ihnen wurde kein Glauben geschenkt, ebenso wenig wie der Zeugenaussage zweier Nachbarn, die Peggy an der Hand einer dunkelhaarigen jungen Frau gesehen haben wollen. Mit dieser Frau soll das Kind über eine Wiese in der Nachbarschaft gelaufen sein. Zwangsläufig wird nun gerätselt, ob es sich womöglich um Beate Zschäpe gehandelt haben könnte.
Ein Ermittler sagte der „Welt“, in Lichtenberg sei nie ein Wohnmobil gesehen worden. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt waren bekanntlich oft mit einem solchen gemieteten Gefährt unterwegs, wenn sie einen ihrer Morde oder Banküberfälle verübten. 2011 nahmen sie sich bei ihrer Entdeckung in Eisenach in einem Wohnmobil das Leben. Doch angeblich wurde auf dem Lichtenberger Campingplatz zur Tatzeit doch ein Camper aus Berlin beobachtet, dessen Herkunft nie ermittelt werden konnte. Anfang Oktober hat die Bayreuther Polizei nun an alle Dauermieter des Lichtenberger Platzes ein Schreiben geschickt, um zu erfahren, wer bereits im Mai 2001 auf dem Platz war.
Lichtenberg hofft auf Erlösung
Der Bürgermeister von Lichtenberg, Florian Knüppel, setzt in die neue Spur eine kleine Hoffnung. Es könne vielleicht „ein Weg aus der Misere“ sein, sagte er. Denn auf dem kleinen Ort an der Grenze zu Thüringen liegt das Verbrechen an Peggy wie ein Fluch; immer wieder kommen Journalisten und Schaulustige, die wiederholten Prozesse und Suchaktionen rückten den Ort stets auf Neue in den Blickpunkt der Öffentlichkeit.
Die Lichtenberger fühlten ihre Heimat als Hort von Pädophilen verunglimpft, außerdem macht ihnen der Verdacht zu schaffen, dass der Kindsmörder noch unerkannt im Ort wohnen könnte. Dass die NSU-Zelle Verbindungen in seine Stadt gehabt haben könnte, schließt Knüppel aus. „Das hätten wir gemerkt, wir haben 1000 Einwohner, 90 Prozent kenne ich persönlich.“ Einige neigten Richtung AfD, aber Neonazis in Lichtenberg gebe es keine.
Rätsel um DNA-Spuren – und solche, die fehlen
15 Banküberfälle, zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge zwischen 2000 und 2007 werden dem Trio zur Last gelegt. Was aber rätselhaft ist: An keinem der 27 Tatorte wurde eine DNA-Spur der mutmaßlichen Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gefunden, ebenso wenig wie an einer der Tatwaffen. Dafür gab es zahlreiche anonyme Spuren, die bisher nicht zugeordnet werden konnten. Nach der Entdeckung von DNA-Spuren Böhnhardts am Fundort der getöteten Schülerin Peggy bekommt die Forderung nach weiteren Untersuchungen neuen Auftrieb. Dies war auch mehrfach Thema im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags.
„Ungewöhnlich“ nannte dort der DNA-Spezialist des BKA, Carsten Proff, die Tatsache, dass keine Spuren der mutmaßlichen Haupttäter entdeckt wurden. Erklärbar sei es aber vielleicht doch. Handschuhe, Masken und Sturmhauben könnten das Zurücklassen von DNA-Spuren verhindern, man müsse sich dazu aber sehr anstrengen und extrem vorsichtig sein. Ein weiteres Rätsel gibt den Ermittlern die DNA-Probe P46 auf. An einer Socke im ausgebrannten Wohnmobil des NSU-Trios wurde DNA von Beate Zschäpe gefunden sowie anonyme DNA, die nie zugeordnet werden konnte. Deshalb bleibt die Vermutung, die NSU-Terrozelle könnte mehr als nur drei Mitglieder gehabt haben.
Böhnhardt und Bernd Beckmann
Uwe Böhnhardt war schon einmal in einen Kindesmord verwickelt, wurde aber nur als Zeuge gehört. Allerdings belastete ihn der zunächst als mutmaßlicher Täter vernommene Enrico T., der später für den NSU die Ceska-Mordwaffe beschafft haben soll, schwer. Am 6. Juli 1993 war in Jena der neun Jahre alte Bernd Beckmann verschwunden. Zwölf Tage später wurde seine Leiche in einem Gebüsch am Saaleufer gefunden.
Unter Verdacht geriet Enrico T., ein Schulfreund von Böhnhardt und Mitglied derselben kriminellen Jugendgang in Jena. T. geriet ins Visier der Ermittler, weil unweit der Leiche der Außenbordmotor seines Bootes gefunden worden war. Doch Enrico T. bezichtigte den damals 15 Jahre alten Böhnhardt, das Boot geklaut und das Kind ermordet zu haben. Die Tötung des Jungen ist bis heute nicht aufgeklärt. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) lässt den Fall jetzt noch einmal akribisch untersuchen.
Der NSU und der verurteilte Pädophile Brandt
Der V-Mann und Rechtsextremist Tino Brandt sitzt derzeit fünfeinhalb Jahre ab – wegen Missbrauchs von Kindern in 66 Fällen sowie Förderung der Prostitution. Er soll Freiern aus der Region Jungs vor allem aus Bulgarien und Rumänien zugeführt haben. In seinem Wohnort in Rudolstadt wurden große Mengen an Daten sichergestellt.
In den neunziger Jahren organisierte Brandt die rechtsextreme Szene in Thüringen, auch die „Kameradschaft“ von Böhnhardt, Mundlos und Beate Zschäpe. Mit ihnen soll er bis zum Tod von Böhnhardt und Mundlos Kontakt gehalten haben. Brandt war jahrelang Geheimdienst-Informant des Thüringischen Verfassungsschutzes.
Weitere Verdachtsfälle
Der Rechtsanwalt Yavuz Narin hat weitere Hinweise auf Kindesmissbrauch durch Personen aus dem NSU-Umfeld in den Prozessakten gefunden. Unter anderem soll der Bombenbastler Henning H. in Besitz pädo-krimineller Dokumente gewesen sein.
In seiner Vernehmung räumte er ein, einmal einen Job verloren zu haben, weil an seinem Arbeitsplatz von ihm gezeichnete Collagen von zerstückelten Kindern gefunden worden seien.
Beate Zschäpe und die Festplatte
Auf einer Festplatte, die im Brandschutt der Fluchtwohnung des NSU-Trios in Zwickau gefunden wurde, tauchten ebenfalls Spuren von Dateien mit Kinderpornografie auf. Allerdings war versucht worden, die Festplatte zu reinigen, so dass sich nur noch Überreste im Cache fanden. Wie groß die einst gespeicherte Datenmenge war, konnte nicht mehr rekonstruiert werden.
Der Fund wurde damals nicht weiterverfolgt. Die Staatsanwaltschaft Zwickau kam 2013 zu der Einschätzung, dass die zu erwartende Strafe im Münchener Verfahren wohl sehr viel höher ausfallen werde. Daher wurde das Verfahren eingestellt. Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler kündigte aber einen Beweisantrag an, um herauszufinden, „wer Kenntnis hatte und wer die Daten draufgeladen hat - Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe oder alle drei.“