Robert Cohen „Der Vorgang Benario“ - Die Gestapo auf Trapp gehalten

Erstveröffentlicht: 
13.09.2016

Das Gestapo-Dossier zur 1942 ermordeten deutschen Kommunistin und Jüdin Olga Benario: Autor Robert Cohen kann nachweisen, wie die Aktivistin den NS-Apparat beschäftigte.

 

Vor dem Morgengrauen des 18. Oktobers 1936 trifft der deutsche Dampfer „La Coruna“ von Brasilien her in Hamburg ein. Neben Fracht und Passagieren befinden sich zwei gefangene Frauen an Bord: Die hochschwangere Olga Benario, eine 1908 in München geborene jüdische Bürgertochter, die um 1925 zur KPD gefunden und 1935 in Brasilien an der Seite ihres Mannes Luiz Carlos Prestes einen Aufstand gegen den Diktator Vargas versucht hatte. Mit ihr deportiert wird Elise Ewert, Ehefrau des früheren kommunistischen Reichstagsabgeordneten Arthur Ewert.

 

Die Frauen sind ein „Geschenk“ des brasilianischen Führers an die Deutschen. „Wir haben die Ehre, dem Auswärtigen Amt mitzuteilen“, beginnt die Auslieferungs-Nachricht. Ein emsiger Nachrichtenstrom zwischen der Gestapo in Berlin, Hamburg und dem Kapitän begleitet die Überfahrt. Die Nazis erwarten mit Benario eine bekannte Gegnerin, die 1928 ihren damaligen Lebensgefährten, den Kommunisten Otto Braun, mit Waffengewalt aus dem Gefängnis Berlin-Moabit befreit hatte, um sich dann mit ihm nach Moskau abzusetzen.

 

Noch bevor die Passagiere des Schiffes dessen Ankunft bemerken, werden die Gefangenen um 4.30 Uhr morgens von der Gestapo geholt. Der Landungssteg wird ausgelegt und sofort wieder eingezogen. Von der Hamburger Gestapo-Zentrale aus geht die Fahrt nach Berlin, wo die Frauen, denen branchenüblich „Vorbereitung zum Hochverrat“ vorgeworfen wird, sofort in „Schutzhaft“ genommen werden. Was im Nazi-Code hieß: Eine unbegrenzte Haft, für die es keine beweisbaren Gründe braucht.

 

Von nun an ereignet sich, was vielfach beschrieben und auch verfilmt wurde: In der Berliner Haft bringt Olga Benario im November 1936 die Tochter Anita Leocádia zur Welt, die 1938 mit ihrer Großmutter Dona Leocádia Prestes erst nach Paris, dann nach Mexiko ausreist. Aktionen, die international hohe, aber folgenlose Presse-Wellen schlagen.

 

1938 wird Benario ins Konzentrationslager Lichtenburg, 1939 in KZ Ravensbrück ausgeliefert und 1942 im Todestrakt der „Heil- und Pflegeanstalt“ Bernburg mit Kohlenmonoxid ermordet. Elise Ewert stirbt 1940 in Ravensbrück. So weit, so bekannt, aber nicht im politischen Detail.

 

Erstmals zeigt nun der aus der Schweiz stammende amerikanische Literaturwissenschaftler und Benario-Experte Robert Cohen, wie die kommunistische Aktivistin den Gestapo-Apparat beschäftigte – und wagemutig auf Trab hielt. Unter dem Titel „Der Vorgang Benario“ liefert Cohen einen Auszug aus dem von 1936 bis 1942 geführten Gestapo-Dossier, das 2 000 Blatt umfasst. Die Papiere kamen im Jahr 2015 im Zuge eines Online-Projektes ans Licht, bei dem bislang unzugängliche Akten des Deutschen Reiches aus russischen Archiven veröffentlicht werden. In dem im Internet abrufbaren Benario-Dossier erkennt Cohen „die vielleicht umfassendste Sammlung von Dokumenten zu einem einzelnen Opfer des Holocaust.“

 

Tatsächlich gewährt das Dossier einen Einblick in die polizeiliche Machtmechanik. Alles ist in den Papieren zu finden, die Cohen für den Leser wissenschaftlich bedenkenlos in kleine Abteilungen zurechtstutzt: ungehemmte Rachsucht, Ratlosigkeit bei den Verhören, Anflüge von Rechtsstaatlichkeit. Man folgt den Notizen mit Spannung, weil bei der Lektüre lange nicht klar ist, welche Wendung das Schicksal der Benario nehmen wird. Denn der internationale Protest ist laut, die Benario bis zuletzt unerschrocken.

 

1937 notiert ein Gestapo-Beamter, was sie zu sagen hat: „Wenn andere zum Verräter geworden sind, ich werde es jedenfalls nicht. Weiter sagte sie zu mir, dass ich sie schließlich noch einmal zur Ausreise nach Brasilien nach Hamburg auf einen Dampfer bringen werde, von wo ich sie einst abgeholt hätte.“ Denn, „sie hoffe, ihr Ehemann Carlos Prestes werde noch einmal Präsident von Brasilien werden.“

 

Als Gestapo-Quelle taugt Olga Benario nicht, womit die Geheimpolizei das Interesse an ihr verliert. In dem Maße aber, in dem die politische Gegnerin Benario aus dem Blick der Ermittler verschwindet, taucht die Jüdin Benario auf, was sie zusätzlich entrechtet. 1937 ist in den Akten erstmals von der „Volljüdin“ Benario die Rede. Ihrer Tochter hatte man die Ausreise genehmigt, weil „am Verbleib“ eines „halbjüdischen“ Kindes in Deutschland „kein Interesse“ bestehen könne. In Ravensbrück wird Olga Benario, die sich weigerte, den Vornamen Sara anzunehmen, nicht in den Block der „Politischen“, sondern in den der Jüdinnen gesperrt. Jederzeit wäre der laut KZ-Kommandant „intelligenten Jüdin mit großem Geltungsbedürfnis“ eine Ausreise nach Moskau oder Mexiko möglich gewesen, aber sie hat keine Chance. Olgas jüdische Mutter, die sich früh von ihrer Tochter losgesagt hatte, wird 1942 über deren Tod informiert – mit Angabe einer erlogenen Todesursache.

 

Cohens Akten-Auswahl endet mit der Auflistung des Nachlasses. Über 30 Kleidungsstücke, die „aufgrund des volks- und staatsfeindlichen Verhaltens der Benario“ der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt übergeben werden sollen. Mit ihrem Tod ist die deutsche Kommunistin, die eine international namhafte Aktivistin war, eine Jüdin ohne Grab und Namen, deren Nachthemden und Schuhe „bedürftige Volksgenossen“ auftragen.

 

Robert Cohen: Der Vorgang Benario. Die Gestapo-Akte 1936-1942. edition berolina, Berlin 2016. 192 S., 14,99 Euro.