Risse in der Fassade

Erstveröffentlicht: 
12.08.2016

Eine Schule in Gera zeigt, wie sich die Menschen in Deutschland entfremdet haben. Von Jana Simon

 

Für diesen Vormittag im Juni hat Katrin Zabel ein Jahr lang gestritten. Er ist die Krönung ihres Kampfes um die Seelen ihrer Schüler: die Aufführung der Odyssee. In der Aula ist es dunkel, die Luft stickig. Katrin Zabel, Französischlehrerin und Leiterin der Theater-AG, steht am Mischpult. Vor ihr, im Publikum, rutschen die 11. Klassen auf den Sitzen hin und her. Sie gelten als besonders verschlossen, fordern ihre Lehrer immer wieder politisch heraus. Auf der Bühne kehrt Odysseus, Eric aus der 12., nach zehnjähriger Irrfahrt heim in einem Boot, an seiner Seite rudert ein Flüchtling, Saskia aus der Theatergruppe. Im Sturm hat Odysseus alle seine Männer verloren, bis auf diesen einen Fremden. Laut zählen sie die Toten auf: vor Lampedusa 360, vor Ägypten 400, vor der libyschen Küste 800. Die Ithaker empfangen ihren Helden und deuten auf den Fremden: "Wer ist denn das?", rufen sie wutentflammt. "Der soll weg, die Obergrenze ist erreicht!" Da steigt Odysseus wieder ins Boot und fährt mit dem Flüchtling davon. Allein, verstoßen.

 

Die Sage des Odysseus als Parabel der Flüchtlingskrise.

 

In der Aula erklingt ein Song von Udo Lindenberg: "Das ist die Odyssee, die Odyssee, und keiner weiß, wohin die Reise geht!" Das Schüler-Ensemble auf der Bühne brüllt den Text fast aggressiv seinen Zuschauern entgegen. Michael, ein Schüler im Publikum, beugt sich zu seinem Nachbarn und flüstert: "Ist das jetzt schon Propaganda?"

 

Nach dem Stück steht Katrin Zabel am Bühnenrand, ihr Blick flattert ein wenig, sie bemüht sich, ihre Aufregung zu verbergen. Sie ist 46, trägt eine rote Seidenbluse, blonde Löckchen umrahmen ihr Gesicht. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet sie als Lehrerin. Noch nie in ihrem Berufsleben war die Stimmung in der Schule politisch so aufgeheizt. Zabels Theatergruppe ist erfolgreich, schon oft war sie zu Landes- und Bundesfestivals eingeladen. Die Odyssee ist das erste Stück, in dem es vordergründig um Politik geht. Zabel hat das Stück aktualisiert und zugespitzt. "Jedes andere Theater wäre Eskapismus", sagt sie.

 

Seit Monaten gibt es am Osterland-Gymnasium Ärger um dieses Stück – und um den Geschichtsunterricht, die Abiturfeier, die Frage, ob Schüler an der Schule zu Toleranz erzogen werden müssen. In dem Streit offenbart sich, wie tief die Spaltung in Deutschland reicht, wie schwer es geworden ist, zu diskutieren, andere Meinungen zu akzeptieren, sie überhaupt zuzulassen. Die Flüchtlingskrise, der Terror, der Aufstieg der AfD: Themen, die wie Blindgänger in den deutschen Klassenzimmern liegen – kaum zu entschärfen, jederzeit bereit loszugehen. Das Osterland-Gymnasium am Rande von Gera in Thüringen könnte überall in der Republik stehen: 575 Schüler, 55 Lehrer, eine gewöhnliche Schule.

 

Katrin Zabel wohnt im sächsischen Zwickau. Atemlos zählt sie die Ereignisse auf, die sie seit den vergangenen Monaten umtreiben. Die Oberbürgermeisterin ihrer Stadt setzte sich für Flüchtlinge ein. Daraufhin warfen Unbekannte einen Pflasterstein durch das Fenster ihres Privathauses. Das Schloss ihrer Eingangstür wurde mit Leim verklebt, ihr Auto mit Fett beschmiert und ihr ihre eigene Todesanzeige zugestellt. Als Justizminister Heiko Maas am 1. Mai bei einer Gewerkschaftskundgebung auftrat, beschimpften ihn Demonstranten als "Volksverräter", er musste seine Rede abbrechen und aus Zwickau flüchten.

 

Im Unterricht fragten die Schüler Zabel nach den Anschlägen von Paris: Kann das auch bei uns passieren? Kommen mit den Flüchtlingen auch Terroristen nach Deutschland? Warum bleiben die nicht in ihrer Heimat und kämpfen dort? Damals antwortete Zabel noch: "Ich diskutiere nur mit denjenigen, die einen Flüchtling persönlich kennen." Ziemlich hilflos klang das, findet Zabel inzwischen auch. Sie fürchtete sich etwas vor den Ausbrüchen ihrer Schüler, wollte sich schützen.

 

In der Theatergruppe ließ Katrin Zabel die Schüler ihre Ängste zur Flüchtlingskrise auf pastellfarbene Blätter notieren. Eine Fünftklässlerin schrieb mit Bleistift: "Ich habe Angst, dass die Flüchtlinge unser Land zu ihrem Land machen, uns alles wegnehmen! Meine Fragen: Wieso nehmen andere Länder keine Flüchtlinge mehr auf? Wieso haben die Frauen dort nichts zu bestimmen? Warum darf Angela Merkel nichts entscheiden?" Ein Junge: "Meine Sorge ist, dass wir zu viele Flüchtlinge aufnehmen und Deutschland nicht mehr richtig deutsch ist." Spätestens danach war Zabel klar: In ihrem Stück müsste es genau darum gehen. "Ich wollte das Thema geschickt einbinden, musste aber die Einstellung der Jugendlichen testen."

 

Also baute sie zu Beginn des Schuljahres eine Kamera auf, die Mitglieder der Theater-AG sollten zu einzelnen Begriffen wie Familie oder Toleranz sprechen. Und da geschah es, dass Matthias (Name geändert) aus der 12. Klasse beim Thema Toleranz eine Minute lang in die Kamera schwieg. Zabel wurde das erste Mal die politische Sprengkraft ihres Projektes bewusst. Als sie kurz darauf offenbarte, dass sie die Odyssee gemeinsam mit Flüchtlingen erarbeiten wolle, verließ Matthias die Theatergruppe ohne ein weiteres Wort.

 

Von Oktober bis Weihnachten im vergangenen Jahr holte Zabel an jedem Freitag Flüchtlinge vom Deutschunterricht ab und brachte sie zu den Proben ans Osterland-Gymnasium. Ein Syrer erzählte den Schülern seine Geschichte, für die meisten war es das erste Mal, dass sie einen Flüchtling trafen. Eine Mutter verbot ihrer Tochter daraufhin, weiter mitzuspielen, aus Furcht, die Flüchtlinge könnten sie vergewaltigen. Es gelang Zabel schließlich, die Mutter zu beruhigen. Im Stück taucht der Syrer nicht auf. "Mein Stück ist nicht so angelegt, dass einer vom Bühnenrand aus sein eigenes Schicksal erzählt", sagt Zabel.

 

Gleichzeitig wird in diesem Frühjahr am Osterland-Gymnasium ein anderes, einst unverfängliches Ereignis zum Problem: die Abiturfeier. Jedes Jahr führen die 11. Klassen dazu ein Kulturprogramm auf. Katrin Zabel und eine Kollegin sollten es mit den Schülern vorbereiten. Das Thema, das sie vorschlugen, hieß: "Toleranz, Vielfalt, Frieden". Die Schüler lehnten ab. Zu politisch, zu aufgeladen, zu aufgesetzt. Zabel war fassungslos. Und wie oft in dieser Geschichte kann man beide Seiten verstehen: die engagierten Lehrer, die es gut meinen, und die Schüler, die einfach nur feiern wollen. Ohne ideologischen Überbau.

 

Lisa, 16 Jahre, 10. Klasse, seit fünf Jahren Mitglied der Theater-AG:


"Ich glaube, unser Stück erreicht nur diejenigen, die schon so denken wie wir. Meine Klasse ist definitiv rechtsgerichtet. Ich habe große Probleme. Aber Frau Zabel ist eine Verbündete, zu ihr kann ich immer gehen. Ein Mädchen hat mir neulich stolz Adolf Hitler auf seinem Handydisplay gezeigt. Ich habe mich lieber rausgehalten, sonst bin ich einen Kopf kürzer. In Englisch musste ich einen Vortrag halten und habe erzählt, warum ich Deutschland manchmal nicht so gut finde: weil es mich ankotzt, wie die Gesellschaft mit der Flüchtlingsproblematik umgeht. Danach in der Hofpause sind die anderen auf mich losgegangen. Was das solle, die Deutschen seien im Zweiten Weltkrieg auch nicht geflohen. Und in Biologie ging es um Genexperimente, ob man dadurch Krankheiten verhindern könne und an wem man die Versuche machen solle – an Mensch oder Tier? Einer aus meiner Klasse antwortete: An Flüchtlingen."

 

Ein paar Monate vor der Theateraufführung, im April dieses Jahres, hockt Katrin Zabel in einer Weimarer Villa beim "Argumentations- und Handlungstraining gegen Hass und Hetze". Lehrer, Sozialarbeiter und Jugendclub-Betreiber aus ganz Thüringen erzählen, was seit einem Jahr in ihren Einrichtungen los ist. Seit Pegida spaziert, seit die AfD Kundgebungen auf ihren Marktplätzen abhält, seit mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Da ist die Direktorin, die an ihrer Schule einen Flüchtlingstag organisierte, der von vielen Eltern öffentlich boykottiert wurde. Da ist der Mitarbeiter eines Jugendclubs, der sagt, die "Glatzen" in Bomberjacken und Springerstiefeln seien wieder da, wie in den neunziger Jahren. Und da ist Katrin Zabel, die über ihr Theaterstück spricht und über ihre Kollegin Helen Scholtysek, die Geschichtslehrerin, in deren Unterricht zwei Schüler behaupteten, das "Deutsche Reich" existiere noch. Zabel sagt: "Ich bin jetzt oft sehr zornig. Was soll ich tun?" Am Ende des Seminars kennt Zabel das "Argu-Dreieck", die "Fünfsatz-Technik", und sie sagt nun "Geflüchtete" statt "Flüchtlinge". Einen Trick, einen Zauberspruch gegen rechtsextreme Meinungen gibt es nicht. Katrin Zabel ist trotzdem zufrieden, sie fühlt sich gestärkt.

 

An einem Freitagvormittag im Mai steht ihre Kollegin Helen Scholtysek im Geschichtsraum des Gymnasiums – braune Tische, grünliche Wände, grau-gelber Bodenbelag. Scholtysek, 53, kurze graue Haare, legt eine Folie auf den Polylux-Projektor: "Das Ende der Weimarer Republik". Ihr Fach ist zum Schlachtfeld der politischen Ansichten geworden. Vor ihr sitzt die 11. Klasse, in der Mitte: Wolfgang und Michael, zwei 17-jährige Jungen mit kurzen dunkelblonden Haaren (auch ihre Namen wurden geändert). Scholtysek hat die beiden stets im Blick. Sie zwingt sich, ihnen nicht zu viel Aufmerksamkeit zu widmen.

 

Schon Anfang des Jahres ging es um die Weimarer Verfassung. Wie immer fügte Helen Scholtysek damals hinzu, wie lange diese gültig gewesen sei: bis zum 5. Juni 1945, als die Alliierten die Macht übernahmen. Daraufhin protestierten Michael und Wolfgang, nur die Wehrmacht habe kapituliert – nicht die deutsche Regierung. Damit existiere das Deutsche Reich noch und mit ihm die Weimarer Verfassung. Sie zückten ihre Handys und zeigten Scholtysek die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken von 2015: "Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass das Völkerrechtssubjekt ›Deutsches Reich‹ nicht untergegangen und die Bundesrepublik Deutschland nicht sein Rechtsnachfolger, sondern mit ihm als Völkerrechtssubjekt identisch ist." Helen Scholtysek bedankte sich für diesen Einwurf. Sie spürte die Blicke der anderen Schüler, die unausgesprochene Frage: Wie würde sie reagieren? "Dann weißt du erst mal nicht mehr weiter", sagt Scholtysek. Zu Hause recherchierte sie, stieß auf das Urteil von 1973, auf die "Reichsbürgerbewegung", las, dass Teile von NPD und AfD die These ihrer beiden Schüler teilen. Sie ist seit 30 Jahren Lehrerin, solche Nachfragen gab es noch nie.

 

In der Folgestunde versuchte Scholtysek die Ansicht der beiden zu widerlegen, brachte als Erklärung die DDR-Verfassung, das Grundgesetz und den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990. Sie merkte, wie verwirrend das klang, selbst Michael und Wolfgang mochten ihr kaum folgen.

 

Jetzt, ein paar Monate später, also wieder Weimarer Republik. Scholtysek fordert ihre Schüler auf, bei dem Thema auf die Bedeutung von einzelnen Persönlichkeiten für politische Entwicklungen zu achten, das könne auch ein Prüfungsthema werden. Sie nennt als Beispiel Franz von Papen, Reichskanzler 1932 und später im Kabinett Hitlers Vizekanzler, wie der im Hintergrund die Strippen gezogen habe. Scholtysek: "Ich sehe da Parallelen zu Bernd Höcke", dem Vorsitzenden der Thüringer AfD-Landtagsfraktion, der zum rechten Flügel seiner Partei gehört. Michael unterbricht: "Der heißt Björn!" Scholtysek: "Entschuldigung, natürlich Björn! Wenn ich daran denke, wie Hitler möglich war, schaue ich mir die einzelnen Personen an: wie sie reden, wie sie reagieren, ihre Sprache und Mimik." Michael fällt seiner Lehrerin ins Wort: "Parallelen von Björn Höcke oder der AfD zu Hitler zu ziehen, finde ich etwas gewagt!" Scholtysek: "Nicht die ganze AfD ist wie Höcke. Er hat eine bestimmte Wirkung."

 

Es klingelt zur Pause. Michael und Wolfgang reden leise miteinander, das Thema ist noch nicht beendet. Helen Scholtysek setzt sich auf eine Bank in den Schulhof. "Ich wollte sie heute ein bisschen herausfordern mit Höcke." Sie hat nun manchmal Angst, dass sie ihre Schüler bei Thügida oder auf einer AfD-Kundgebung sieht. Ihr eigener Sohn sitzt für die Linken im Geraer Stadtrat, der Vater von Wolfgang veröffentlicht Texte im Netz darüber, was passiert, wenn der "Islamische Staat" Gera übernimmt. Scholtysek und die beiden Jungen wissen, dass sie auf verschiedenen Seiten stehen. Sie beobachten sich gegenseitig sehr genau. Aber Scholtysek muss sie auch benoten. Wie bewertet man die These, dass das Deutsche Reich noch existiert? Ist das Wissenslust oder politische Provokation?

 

Nach jeder Unterrichtsstunde macht sich Scholtysek Notizen zur Leistung jedes einzelnen Schülers, damit ihre Einschätzung später nachvollziehbar ist. Aus ihren Aufzeichnungen ergibt sich schließlich die Jahresendzensur. Auch sie muss sich schützen.

 

Helen Scholtysek würde Michael und Wolfgang und den anderen gern vermitteln, dass sich Sichtweisen im Laufe eines Lebens verändern können, so wie sich zum Beispiel ihre Sicht auf die DDR verändert hat. Scholtysek stammt aus einem SED-treuen Haushalt, und als damals ein Mann, den sie liebte, die DDR verließ, wurde auch ihr Blick auf den Staat kritischer. Auf der Bank im Schulhof sagt sie: "Ich hoffe, dass ich die beiden immer noch erreiche, dass wir im Gespräch bleiben."

 

Über den Hof hinweg, im Schülercafé des Gymnasiums, isst Katrin Zabel schnell ein paar Nudeln zu Mittag. Gleich ist Probe, es ist nicht mehr lange bis zur Aufführung der Odyssee. Und Zabel hat eine neue Idee für die Abiturfeier. Ihre Tochter chattet regelmäßig mit einem Flüchtling, der in einer anderen Stadt wohnt. Also hat Zabel Ellinor, ein Mädchen aus ihrer Theater-AG, gefragt, ob sie auf dem Abi-Ball aus diesem Chatverlauf wie aus einem Tagebuch vorlesen wolle. Ellinor stimmte zu. Aber sie müsse noch die anderen aus der Vorbereitungsgruppe fragen.

 

Wenn Zabel davon erzählt, holt sie zwischen ihren Sätzen kaum Luft. Im Augenblick arbeitet sie auch am Wochenende bis spät in die Nacht, es kommt vor, dass sie morgens um drei noch Mails verschickt. Nach dem Argumentationsseminar hat sie ihren Kollegen angeboten, ihr Wissen mit ihnen zu teilen. Eine Lehrerin sagte, ein Schüler male im Unterricht ständig Achten. Meint das nun den achten Buchstaben im Alphabet, das H, das bei Rechtsextremen für "Heil Hitler" steht? Oder sind es nur harmlose Kringel? Zabel kommt nicht mehr zur Ruhe. "Den Kollegen muss klar werden, dass da ein Problem existiert. Unser Stück ist eine Steilvorlage: Redet mit den Schülern!"

 

Aber das Reden ist auch eine Gratwanderung: Wieweit darf ein Lehrer Einfluss auf seine Schüler nehmen? Wann muss er seine Meinung sagen, wann sollte er sich eher zurücknehmen? In einer Dienstberatung ging es gerade darum. "Ich glaube, nicht alle finden gut, dass ich so stark Stellung beziehe", sagt Zabel.

 

Sie kämpft um ihre Schüler, sie sind ihr nicht egal. Manchmal hat sie nicht die richtigen Worte, manchmal ist sie zu laut, manchmal will sie zu viel. "Bestimmt ist es nicht leicht mit mir im Moment", sagt sie leise. Sie eilt durch die Gänge der Schule zur Theaterprobe und deutet auf kleine weiße Blätter mit Auszügen aus dem Grundgesetz, die überall an den Wänden und Türen kleben. Zabel hat sie aufgehängt. Am Eingangstor steht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

 

Manche Schüler werden durch Lehrerinnen wie Zabel bestärkt, andere zum Schweigen gebracht. "Wir wissen, was wir sagen können und was nicht." Dieser Satz fällt immer wieder, wenn man mit Schülern am Osterland-Gymnasium spricht. Sie teilen ihre Meinung ein: in privat und öffentlich. Sie haben ein Gespür dafür, was erwünscht ist, was Lehrer hören mögen. Helen Scholtysek nennt dieses Verhalten die "Verstellung", die sie aus der DDR-Zeit kennt.

 

Matthias, 18 Jahre, 12. Klasse:


"Ich wollte eigentlich nicht raus aus der Theatergruppe. Ich konnte auch Frau Zabel gut leiden. Sie ist eine gute Lehrerin. Aber ich lasse mir keine Meinung aufzwingen. Ich mag nicht darüber reden, warum ich gegangen bin. Dann wird man als Nazi abgestempelt. Das wirst du nicht los. Ich will nicht mit Flüchtlingen zusammenarbeiten. Ich will einfach nichts mit ihnen zu tun haben. Aber hätte ich meine Meinung gesagt, wären die meisten gegen mich gewesen.


Hier an der Schule kann ich mich nicht frei äußern und sonst auch nicht. Unsere Schule ist gespalten, die Lehrer sind sehr links. Früher gab es die Angst vor dem Staat, jetzt kann dich eine einzelne Meinung dein ganzes Leben, deinen Job kosten. Es gibt keine Stasi mehr, aber wem man heute was sagen kann, weiß man auch nicht. Anscheinend fühlen sich gerade viele unverstanden und laufen bei Pegida mit oder der AfD."

 

Wenn man Katrin Zabel am Rande der Probe fragt, ob sie Matthias’ Haltung im Stück zugelassen hätte, antwortet sie: "Vermutlich nicht."

 

Vielleicht liegt darin das Problem: Beiden Seiten erscheint die Meinung des anderen so inakzeptabel, dass ein Dialog nicht möglich ist. Dazu passt auch diese Geschichte: Matthias’ Freund Eric ist der Hauptdarsteller in Zabels Stück, er spielt den Odysseus. Eric wollte Matthias überreden, in die Gruppe zurückzukehren. Da hat Matthias ihm eine gehauen. Aber es hat niemand gesehen.

 

Im ersten Stock des Gymnasiums ist das Büro des Schuldirektors Olaf Küchler. Auch an seiner Tür klebt ein Auszug aus dem Grundgesetz: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." Zabel hat das Blatt dorthin gehängt, eine Anspielung auf Küchlers Arbeitspensum. Der Direktor hockt mit dem Rücken zum Fenster in seinem Büro, den Blick ins Innere des Gebäudes gerichtet, als solle keine Aussicht ihn vom Wesentlichen ablenken. Er deutet auf die Wiesen, auf denen früher russische Kasernen standen. In der DDR war das Osterland-Gymnasium die "Russenschule". Heute wird sie die "Bauernschule" genannt, weil die Jugendlichen aus den Dörfern des umliegenden Landkreises stammen.

 

Auch der Direktor sorgt sich um die politische Stimmung im Land und in seinen Klassenzimmern. "Dass die Fronten so verhärtet sind, habe ich noch nie erlebt", sagt er. Bis ins Persönliche reichen die Verwerfungen. Fünfzehn Jahre lang hatte Küchler Bekannte in Dresden, dann kam Pegida. Jetzt hat Küchler ihnen auf Facebook die Freundschaft gekündigt, er konnte ihre Posts nicht mehr ertragen. "Die Spaltung gab es im Untergrund vorher schon, aber erst jetzt wird sie sichtbar." Im Privaten und in seiner Schule. Dabei besucht kein einziger Flüchtling sein Gymnasium. Küchler sieht die pädagogische Gratwanderung: "Die Gefahr der Indoktrination besteht, aber eine Werteerziehung gehört trotzdem dazu." Der Direktor ist sich sicher, Schüler wollen wissen, wo ihre Lehrer stehen. Aber je lauter die Lehrer sind, desto leiser werden die Schüler. Und je leiser die Lehrer sind, desto lauter werden die Schüler. Den richtigen Ton zu treffen ist im Augenblick besonders anspruchsvoll. Auch für Olaf Küchler. Bald muss er die Rede auf der Abiturfeier halten. Noch nie hat er so lange gebraucht, sie zu formulieren, wie in diesem Jahr.

 

Am Tag nach der Odyssee-Aufführung im Juni beginnt Katrin Zabel mit der Auswertung. Dieses Nachgespräch ist ihr besonders wichtig: Wie kam ihr Stück bei den Schülern an? Bewirkt es etwas? Hat sich ihr Ringen gelohnt? Die Lehrerin bittet die Schüler der 11. Klassen und ihre Theatergruppe in einen Kreis. Sie redet noch lauter als sonst. Dann beginnt sie mit einer Art Spiel. Auf zwei gegenüberliegenden Seiten der Aula stehen Schilder: "Stimmt" steht auf dem einen, "Stimmt nicht" auf dem anderen. Dazwischen ist eine schwarze Linie auf den Boden gezeichnet, sie symbolisiert die neutrale Mitte. Zabel startet mit einer harmlosen Aussage: "Ich bin zurzeit ziemlich zufrieden mit meinem Leben." Die Elftklässler reihen sich beim zutreffenden Schild ein. Fast alle stehen bei "Stimmt". Zabel steigert sich allmählich: "Das Flüchtlingsthema gehört nicht in die Schule, das ist Privatsache."

 

Die Schüler sind geteilter Meinung, eine Hälfte ist dafür, die andere dagegen, ebenso bei dem Satz: "Es sollte eine Obergrenze für Flüchtlinge geben, wir können keine mehr aufnehmen." Zwischendrin schauen sich die Schüler immer wieder um, in ihren Blicken liegt Verunsicherung: Stehe ich auch richtig? Zabel steigert sich weiter: "Unsere deutsche Kultur ist bedroht!" Nur noch drei Jungen sammeln sich bei "Stimmt." Darunter Michael und sein Freund Wolfgang, die schon in Helen Scholtyseks Geschichtsunterricht für Aufmerksamkeit sorgten. Bei "Es sollte einen Schießbefehl an der Grenze geben" bleibt nur Wolfgang breitbeinig auf der neutralen Mittellinie. Er bemüht sich, sehr sicher zu wirken. Man ahnt, dass sich nicht alle Jugendlichen trauen, ihre wahre Meinung zu zeigen. Es macht beklommen, ihnen zuzusehen: Ein Schüler-Theaterstück als öffentlicher Gesinnungstest. Geht Katrin Zabel zu weit in ihrem Kampf?

 

Nach dem Spiel kehren die Schüler in den Kreis zurück, die Stimmung ist angespannt. Katrin Zabel sagt in die Stille: "Ob das Flüchtlingsthema Privatsache ist oder in die Schule gehört, das betrifft mich persönlich." Laut liest sie aus dem Thüringer Schulgesetz vor: "Wesentliche Ziele der Schule sind (...) die Erziehung zur Aufgeschlossenheit für Kultur und Wissenschaft sowie die Achtung vor den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer. Dabei werden die Schüler darauf vorbereitet, dazu angehalten, sich im Geiste des Humanismus und der christlichen Nächstenliebe für die Mitmenschen einzusetzen." Zabel blickt in die stumme Runde: "Damit ist das vom Tisch! Das ist nicht mein Privatspaß, sondern mein Berufsprofil!" Zabel redet schnell, eindringlich, als erwarte sie starke Gegenwehr, als stehe sie mit dem Rücken zur Wand. "Ihr seid jung, ihr habt das Recht, Fehler zu machen. Mein Job ist es, euch vielleicht Impulse mitzugeben."

 

Nun soll jeder etwas zur Inszenierung sagen. Wolfgang, der sich im Spiel öfter gegen die anderen gestellt hat, meint, die Thematik sei sehr gut verpackt gewesen, ein anderer: "Die Luft war stickig." Unter den Sätzen liegen Worte, die nicht ausgesprochen werden. Zabel schaut in die Runde: "Wollt ihr noch etwas diskutieren?" Tiefe Stille. Auch diejenigen, die das Stück mochten, schweigen. Zabel beendet das Gespräch: "Es ist nicht unser Ansinnen, tief verwurzelte Meinungen zu ändern. Wir beißen nicht, ihr könnt auf mich zukommen." Wieder Stille. Die Schüler verlassen die Aula. Zabel bleibt mit ihrer Theatergruppe zurück.

 

Inzwischen hat Katrin Zabel von Ellinor erfahren, dass sie beim Abi-Ball nicht aus dem Tagebuch eines Geflüchteten vorlesen wird: Die Vorbereitungsgruppe stimmte geschlossen dagegen. Auch Ellinor. "Zabels Vorschlag gehört nicht auf das Fest. Wir wollen trinken und gute Laune haben", sagt Bertram, der Schülersprecher des Gymnasiums. Zabel hatte den Text in nächtelanger Arbeit zusammengestellt, ihre Tochter ihn aus dem Englischen übertragen. Nach dieser Entscheidung stieg Zabel aus der Vorbereitungsgruppe aus. Sie brauchte jetzt Abstand.

 

An einem Freitagvormittag im Juni sitzen Michael, Wolfgang und ihr Mitschüler Robert (Name ebenfalls geändert) im Lichthof des Gymnasiums. Am Abend ist Abi-Ball. Die drei sind bereit, über den Geschichtsunterricht bei Helen Scholtysek, das Theaterstück von Katrin Zabel und das politische Klima an der Schule zu reden.

 

Michael: "Ich fand es zu krass, dass Frau Scholtysek mit Höcke und Hitler eine direkte Linie zu heute gezogen hat."

Robert: "Aber wenn es eindeutige Parallelen gibt!"

Michael: "Hitler ist ein Verbrecher. Ich finde den Vergleich falsch."

Wolfgang: "Mich stört eher die Einseitigkeit. Überall in der Schule hingen ›Herz statt Hetze‹-Demo-Plakate, entweder sollten da auch andere Plakate hängen oder gar keine. In Geschichte gibt es so eine Verunsicherung, wenn die eigene Meinung anders ist als die allgemeine Lehrermeinung."

Michael: "Als ich fragte, ob das Deutsche Reich noch existiert, hat Frau Scholtysek das abgestritten. Dann hat sie nachgeschaut, und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt das. Das war auch ein Entgegenkommen."

Wolfgang: "Eine Geschichtslehrerin sollte neutral sein."

Robert: "Man wird nie vollkommen objektiv sein. Ohne eigene Meinung geht das nicht."

Michael: "Aber dass Wolfgangs Meinung sich in Geschichte in den Noten niederschlägt, ist eindeutig."

 

Doch alle drei haben eine Zwei in Geschichte. Politische Verfolgung sieht anders aus. Offenbar wird aber auch, dass Helen Scholtyseks Widerspruch auf die Fragen nach dem Fortbestehen des Deutschen Reiches nicht angekommen ist.

Wie haben die drei Zabels Theaterstück und das Nachspiel erlebt?

 

Robert: "Also, ich fand das Flüchtlingsthema brandaktuell."

Michael: "Aber es war gar nicht möglich, danach zu diskutieren. Es ging nicht darum, verschiedene Meinungen zu hören, sondern darum, zu schauen, wer wo steht."

Wolfgang: "Die Themen sind viel zu komplex für ein einfaches Stimmt oder Stimmt nicht."

 

Michael: "Und Frau Zabel sagt, was richtig ist. Ich weiß von vielen, die sich nicht so hingestellt haben, wie sie wirklich denken. Nach dem Hin-und-her-Gerücke bin ich mit einem schlechten Gefühl nach Hause gegangen. Ich fragte mich: Bin ich so weit weg vom Hauptstrom? Bin ich jetzt ein Aussätziger? Soll ich nun noch weniger meine Meinung sagen?"

Wolfgang: "Also, ich habe gut geschlafen danach."

Auf die Frage, ob sie sich politisch engagieren, wollen Wolfgang und Michael erst nicht antworten. Robert redet weiter.

Robert: "In Ronneburg standet ihr bei einer Demo auf der anderen Seite. Aber ihr wart wieder mehr – 250, wir nur 50. Dort auf dem Markt ist ein Dönerladen, und einer auf eurer Seite hielt eine Rede, hetzte gegen Ausländer. Ich dachte: Wer macht denn dann deinen Döner?"

Michael: "Ich gehe nie wieder nach Ronneburg. Das ist nicht meine Klientel. Das weiß ich jetzt."

Robert: "Ihr werdet als Flüchtlingsgegner gesehen!"

Michael: "Ich bin eher Mitte CDU."

Wolfgang: "Die vielen illegal Geduldeten sind mir ein Dorn im Auge. Man muss die Probleme vor Ort lösen. Es kommen vor allem junge Männer hierher, sie haben teure Handys und sind sehr gut gekleidet."

Michael: "Gera ist pleite, und der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab. Viele sagen jetzt: Das hätte ich nicht von dir gedacht, dass du so denkst. Ich merke, wie da eine Mauer zwischen uns entsteht."

Wolfgang: "Es läuft darauf hinaus, dass wir nicht mehr über Politik, sondern nur noch über Banales reden werden."

 

Am Abend ist die Abiturfeier in einem Möbelhaus am Rande Geras. Die Mädchen tragen Ballkleider und komplizierte Hochsteckfrisuren, die Jungs Anzüge. Sie fahren auf Rolltreppen durch Etagen voller Sessel, Schränke und Tische in den Saal unterm Dach.

 

Es ist das Fest, um dessen Programm es so viel Ärger gab.

 

Helen Scholtysek sitzt ganz vorn an der Lehrertafel, Eric und Matthias, die sich wegen Zabels Theaterstück fast schlugen, hocken in derselben Reihe bei den Abiturienten. Robert fotografiert. Auf der Bühne stehen Bertram, der Schülersprecher, in weißem Hemd, und Ellinor aus der Theater-AG und verkünden den Titel ihres Programms: Happy End. Happy End statt Toleranz.

 

Da betritt der Direktor Olaf Küchler die Bühne, es wird still: "Vom Schulleiter erwartet man etwas Grundsätzliches an diesem Tag." Er hält kurz inne. "Ich habe drei Appelle an Sie: Verändern Sie sich, entdecken Sie die Welt, riskieren Sie Niederlagen! Misstrauen Sie allen einfachen Lösungen, misstrauen Sie jedem, der Ihnen predigt oder einflüstert, mit dieser oder jener einfachen Lösung seien alle Probleme mit einem Schlag gelöst. Glauben Sie niemandem, der dort, der bei den anderen eine Welt des Bösen und bei sich, in seiner Religion oder seiner Politik oder seiner Wissenschaft, die Welt des Guten sieht. Unerträglich ist, wer in seiner Borniertheit nur den eigenen Standpunkt, die eigene Glaubenswelt für richtig hält. Dies gilt sowohl im Alltag als auch für die Weltpolitik. Gerade in einer Zeit, in der populistische Stimmungsmacher so viele offene Ohren finden, ist die eigene, persönliche Erfahrung unverzichtbar."

 

Die Sätze krachen durch den Saal, starke, laute Sätze. Küchler spricht über Flüchtlinge, deren Elend nach Griechenland und in die Türkei verlagert werde, und über die deutsche Rüstungsindustrie, die jedes Jahr Milliarden verdiene. Am Schluss ruft er seinen Schülern zu: "Verändern Sie sich! Engagieren Sie sich! Bekennen Sie Farbe!"

 

Als er aufhört, ist es zunächst sehr still. Er hat eine Rede mit vielen Ausrufezeichen gehalten, eine politische Rede. Nicht allen wird sie gefallen haben.

 

Danach überreicht Küchler die Zeugnisse. Eric und Matthias stehen nebeneinander auf der Bühne. Bertram und die anderen tragen schließlich das Tagebuch eines Oberstufenschülers vor statt des Tagebuchs eines Geflüchteten.


Da wird es offenbar. Eine Frau fehlt: Katrin Zabel. Am Vorabend saß sie noch bis spät in der Aula des Gymnasiums zwischen den Odyssee-Requisiten, dachte über die Vorstellung und deren Auswertung nach. Auch wenn manche Klassen ihr seitenlange Liebeserklärungen zum Stück geschrieben haben, hat sie gemerkt, dass sie die schwierigen 11. Klassen nicht erreichte. Es bleibe, sagt Zabel, ein Bemühen, ein Ringen um Verständnis, auch wenn die gesellschaftlichen Fronten verhärtet erscheinen. Und beim Abi-Ball könne sie leider nicht dabei sein, sie müsse nach Erfurt zu den Schülertheatertagen. Bevor sie aufbricht, hat Katrin Zabel noch eine Erkenntnis: "Ich kämpfe nicht mehr gegen Rechts, ich kämpfe für das Gute."

 

Am Ende des Festprogramms singen sie auf der Bühne noch ein Lied: "Was kommt nach dem Abitur?" Der Refrain hallt durch den Saal wie eine Verheißung, nicht nur für die Abiturienten, für das ganze Land. Etwas Neues bricht an, und keiner weiß genau, was. Das ist aufregend und verdammt furchterregend zugleich.