Das kommunistische Manifest sah die Arbeiterklasse auf das „nackte Leben“ reduziert. Und zwar durch den Angriff der industriellen Revolution und ihrer politischen Ökonomie. Gegen die Vorstellungen seiner Verfasser war das aber nicht das Ende der Geschichte, sondern nur eine Episode. Es folgten epochale Offensiven, die bei der Entblößung der Menschen in jeweils tiefere Dimensionen vorzudringen versuchten.
Deren Diktatur der Nacktheit wollen wir kurz an zwei exemplarischen Zugriffen auf den Alltag skizzieren: die Familienrationalisierung der Eheleute Gilbreth unter dem tayloristischen technologischen Angriff vor hundert Jahren und Zuckerbergs nudge-förmig und postmodern weichgespültes Diktat der Entblößung des Innersten. Denn die Nacktheit ist nicht unwichtig. Sie ist die Utopie der Entblößung, die die Kampfstrategien ihrer selbsternannten Avantgarden leitet.
Frank und Lillian Gilbreth waren Mitarbeiter*innen Taylors (sequenzielle Reorganisation von Verhalten, grundlegend für das Fließband). Sie hatten als Berater von Konzernen und Regierungen weltweit großen Einfluss. Sie trieben die tayloristische Strategie der Verhaltensrationalisierung mit unerbittlicher Konsequenz auch in ihre eigene Familie. Demonstrativ, propagandistisch, als öffentliches Vorbild für alle. Unter Verwendung von Filmen „zwangen“ sie sich und –nach Art des „aufgeklärten Despoten“ ihre Kinder, den gesamten familiären Tagesablauf vom Waschen, über Frühstück bis zum Abendessen so zu rationalisieren, dass überflüssige Bewegungen vermieden wurden. Kein „waste“, keine Vergeudung. Eine Vokabel des Abscheus im damaligen Progressismus. Folgt uns, Familien in aller Welt! Die Leitlinien der Diktatur waren Effizienz und die Vermeidung von Verschwendung. Empathie, Liebe, Verständigung fielen wie das sündige, verschwendungssüchtige Fleisch vom Gerippe der Rationalität. Zurück blieb ultimative Nacktheit und Offenheit.
Facebooks Zwang zur Entblößung und zum Outen des Innersten ist ein Replay auf einer neuen historischen Stufe. Er und seine CEO Cheryl Sandberg exerzieren es propagandistisch vor, oder besser: geradezu missionarisch. Sie erzählen dir alles aus ihrer Familie, von Familienplanung, Leid, Siechtum, Tod, und Begräbnis und sagen damit: oute dich, bring dein Innerstes zutage, speise es ins Netz ein und verbinde Dich so über Facebook mit allen anderen zum Outen gezwungenen Menschen der Welt. Wie schon Taylor und die Gilbreths, so kommt auch Facebook mit einem messianischen Heilsversprechen für eine in ultimativer Nacktheit kommunikativ vereinten Welt. Das geht in alle Bereiche: Facebooks brandneues „Headquarter“ in Menlo Park: nüchtern nackt und durchsichtig fast bis auf die Knochen, jede(r) sieht alles. Oder Zuckerbergs Vorstellungen von Schule (in die er auch seine „großzügige“ Schenkung von 45 Mrd. $ stecken will): alle Eigenheiten, alle Schwächen müssen radikal auf den Tisch, offen für den Einsatz digitaler Strategien zur (Selbst-)Verbesserung. Kinder entbößt bis ins Innerste.
Diese Beispiele machen plastisch, wie die Stufenleiter der historischen Abfolge von Innovationsoffensiven immer tiefer ins Leben und ins Innere der Menschen greift, um es unter dem Zugriff der neuen Technologien bis an jeweils neue Grenzen der Nacktheit auszuforschen, zu beherrschen und zu verwerten. Inquisition ist nichts dagegen, aber sie gehört in diesen historischen Prozess. Wie immer man zum späten Foucault stehen mag: er hat den inquisitorischen Zwang zur beichtförmigen Selbstentblößung in seinen Vorlesungen zur Hermeneutik eindringlich und gut beleuchtet.
„Krieg“ zur Schaffung neuer Mentalitäten, so nannte Taylor das ausdrücklich. Krieg ist es auch heute. Ein oft subtiler Krieg. Die verblüffenden Ähnlichkeiten der beiden Innovationsoffensiven, oder technologischen Angriffe auf unterschiedlichen historischen Niveaus sind frappierend. So stellen sich ihren Strategien“ der Entblößung dar als historischer „Fortschritt der Nacktheit“, techno-ökonomisch gesehen. Wenn wir gebührend darauf antworten, können sie sich warm anziehen.