NSU: Blick in den Abgrund.
Sonntag, 24. Januar 2016 | 18 Uhr | Haus 2, Freiland (Friedrich-Engels-Str. 22, 14473 Potsdam)
Anti-demokratische
Inlandsgeheimdienste, unkontrolliertes V-Mann-Unwesen,
Nazi-Terror-Szene, rassistische Ermittlungen und Staatsversagen:
Zwingende Konsequenzen aus dem NSU-Komplex
Seit vielen Monaten tritt der Münchener NSU-Prozess auf der Stelle. Das Damoklesschwert einer „Verhandlungsunfähigkeit“ der Hauptangeklagten, über 50 dreist und renitent auftretende Zeug_innen aus der deutschen Nazi-Szene und ständige Ausfälle von Prozesstagen bestimmen das Tempo des Verfahrens. Nach 200 Prozesstagen wird es zusehends schwieriger, das Verfahren vor dem Oberlandesgericht (OLG) München einzuschätzen und mit dem Geschehen außerhalb des Gerichtssaals in Beziehung zu setzen. Bizarre Ungleichzeitigkeiten des Innen und Außen des Prozesses charakterisieren die aktuelle Entwicklung: beantwortet jedoch sind die allerwenigsten Fragen vom Beginn des Prozesses, geklärt kaum eine der zahllosen, haarsträubenden Ungereimtheiten, die die Diskussion bestimmen. Gesellschaftliche und politische Konsequenzen spielen im Alltag vor Gericht und in den (unterdessen ACHT) Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen so gut wie keine Rolle. Im Gegenteil, die Zuspitzung „Dem Inlandsgeheimdienst konnte nichts besseres passieren als der NSU“ ist so gültig wie am ersten Tag nach dem Aufliegen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU).
Wir erinnern uns: Am 4. November 2011 ging in Eisenach ein Wohnmobil in Flammen auf. Darin wurden zwei Leichen gefunden, die offensichtlich vorher gewaltsam zu Tode kamen. Stunden später explodierte in der Zwickauer Frühlingsstraße eine Wohnung und brannte aus. In den folgenden Tagen rollte eine Lawine von ungeheuerlichen Erkenntnissen durchs Land: die beiden toten Männer in dem Wohnwagen waren Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die Wohnung in Brand setzte in Zwickau Beate Zschäpe, die sich vier Tage nach Eisenach den Behörden stellte. Die drei sollen der Kern einer neonazistischen Terrorbande mit dem Namen NSU gewesen sein und nach ihrem Untertauchen 1998 während der Jahre 1998 und 2011 neun Menschen aus rassistischen Motiven und eine Polizistin ermordet haben, mindestens drei Sprengstoffanschläge, einer davon mit einer verheerenden Nagelbombe in Köln mit vielen Verletzten, verübt und (mindestens) 15 Raubüberfälle begangen haben.
Hinter dem Agieren des NSU und seines wohl Hunderte Personen umfassenden
Unterstützer_innen-Netzwerks öffnete sich das Panorama des wohl größten
Geheimdienstskandals der Geschichte der BRD und eines unvorstellbaren
behördlichen Rassismus’ in den Mordermittlungen. Gegen die Familien und
das soziale Umfeld der Opfer und die Ermordeten selbst wurde über Jahre
mit kruden Vorwürfen und rassistischen Anschuldigungen ermittelt. Für
die betroffenen Familien eine bis zu einem Jahrzehnt währende Demütigung
ohne das je auch nur ansatzweise Spuren ins Nazi-Milieu verfolgt worden
wären. Wie weit staatliche Verstrickung in das Geschehen gegangen ist,
ist bis heute nicht im Geringsten geklärt, im Gegenteil: ein beispiellos
dreister Vertuschungs- und Obstruktionsskandal der unter Verdacht
stehenden Behörden (Polizei, Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“,
Bundesnachrichtendienst (BND), Militärischer Abschirmdienst (MAD) usw.)
überschattet(e) selbst die Aufklärungsbemühungen Parlamentarischer
Untersuchungsausschüsse (im Bundestag, in den Landesparlamenten von
Thüringen I + II, Sachsen I + II, Hessen, Baden-Württemberg,
Nordrhein-Westfalen und Bayern) und des NSU-Prozesses vor dem
Oberlandesgericht in München (seit 6.5.2013). Da werden Informationen
vorenthalten und manipuliert, Akten geschreddert oder zurückgehalten und
eine Aufklärung des Komplexes der Geheimdienst-Informant_innen (sog.
V-Leute) hintertrieben. Viele ungeklärte Fragen und haarsträubende
Ungereimtheiten sind nach wie vor offen. Welche nationalen Netzwerke mit
dem und internationalen Verbindungen zum NSU nachweisbar sind, ebenso.
Aber auch eine kritische und linke Öffentlichkeit hat von dem
mörderischen Agieren des NSU keine Kenntnis genommen und sich von den
Medien, die die Polizeiversionen ungeprüft und auflagensteigernd
skandalisiert übernahmen, den Bären der kriminellen Machenschaften im
„Ausländermilieu“ aufbinden lassen: niemand hat gegen die Etikettierung
der grausamen Hinrichtungen als „Döner-Morde“ je lautstark protestiert
oder auch nur Zweifel angemeldet. Auch nachdem in Dortmund und Kassel,
nach der Ermordung des Kioskbesitzers Mehmet Kubasik und des jungen
Internetcafé-Betreibers Halit Yozgat am 4. bzw. 6. April 2006, tausende
Menschen migrantischen Hintergrunds unter dem Motto „Kein 10. Opfer“
demonstrierten, wachte die Öffentlichkeit – mit den rassistischen
Erklärungen offenbar einverstanden – nicht auf.
Immernoch verhalten und erst langsam artikuliert sich ein Aufschrei, der
all das nicht mehr zu akzeptieren bereit ist und beginnt, eine
öffentliche Diskussion der Skandale, des behördlichen und
gesellschaftlichen Rassismus und der enormen Gefahren für das
Gemeinwesen, die von den unkontrollierbaren (Inlands-)Geheimdiensten
ausgehen, zu erzwingen. Zu dieser Diskussion soll der Vortrag von
Friedrich Burschel beitragen.
Friedrich Burschel ist Referent zum Schwerpunkt Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit bei der Akademie für Politische Bildung der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin. Er ist akkreditierter Korrespondent des nicht-kommerziellen Lokalsenders Radio Lotte Weimar im NSU-Prozess und Mitarbeiter des Internetprojektes NSU-Watch (nsu-watch.info). Seine Audio- und Printbeiträge zum Prozess und zum NSU sind auf dem Antifra-Blog zu finden: antifra.blog.rosalux.de
Die Veranstaltenden behalten sich vor, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und Personen, die neonazistischen Parteien oder Organisationen angehören, der Neonazi-Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder von dieser auszuschließen.