Hunderte verurteilte Rechtsextreme auf freiem Fuß

Erstveröffentlicht: 
11.01.2016

Die Polizei vollstreckt die Haftbefehle gegen sie nicht - womöglich, weil sie untergetaucht sind. Das weckt böse Erinnerungen an die Terrorgruppe NSU.

 

Als der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) im Herbst 2011 aufflog, war das Entsetzen groß. Regierung, Opposition, Sicherheitsbehörden - alle zeigten sich bestürzt. Dass eine rechtsextreme Terrorzelle über Jahre unerkannt Morde begehen konnte, hatte man für unmöglich gehalten. Entsprechend entschlossen wurde Aufklärung versprochen. Und noch viel entschlossener wurde zugesagt, dass alles getan werde, damit sich so etwas nie wiederholen würde. Bundespräsident, Bundeskanzlerin, Polizisten und Verfassungsschützer - es gab niemanden, der in jenen Wochen nicht diese Botschaft aussandte.

Nun ist bislang tatsächlich keine neue Terrorbande entdeckt worden. Doch eine Statistik gibt zumindest Anlass zu Befürchtungen. Es ist eine kleine Statistik, und sie klingt auf den ersten Blick beinahe harmlos. Sie fasst zusammen, wie viele Haftbefehle für rechtsradikale und verurteilte Straftäter derzeit nicht vollstreckt werden, weil diese Täter offenbar nicht zu fassen sind.

Wie die Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Politikerin Irene Mihalic antwortete, waren zum Stichtag 15. September 2015 mehr als 450 Haftbefehle gegen 372 rechtsmotivierte Straftäter nicht vollstreckt worden. Das bedeutet: Entweder werden diese Personen nicht verhaftet, obwohl die Polizei weiß, wo sie sich befinden. Oder diese Verbrecher entziehen sich einer Verhaftung, weil sie untergetaucht sind.

 

Taten erinnern an den NSU

Beides ist alarmierend. Die Vorstellung, dass die Polizei den Aufenthaltsort eines verurteilten Rechtsextremen kennt und ihn doch nicht ins Gefängnis bringt, wäre ein fatales Zeichen der Schwäche. Noch gravierender wäre das Gefahrenpotenzial, das von mehr als 350 rechten Straftätern ausgeht, sollten sie - wie damals der NSU - untergetaucht sein. Nun ist nicht ausgeschlossen, dass einige der Täter nach dem Stichtag gefasst wurden. Aber dass Hunderte derzeit von der Bildfläche verschwunden sind, lässt in Erinnerung an den NSU Schlimmes befürchten.

 

Zumal sich die meisten Delikte lesen, als wechselten die gesuchten Täter wie einst der NSU zwischen Raub, Beschaffungskriminalität und rechtsextremen Attacken hin und her. Diebstahl, Betrug, schwere Körperverletzung, Bankraub und Totschlag - man braucht nicht viel Einbildungskraft, um angesichts dieser Taten an den NSU erinnert zu werden.

Beunruhigend ist auch die Entwicklung der Zahlen. Als vor zwei Jahren eine ähnliche Statistik erhoben wurde, suchte die Polizei 268 Straftäter. Demnach sind die Zahlen bis heute um fast 30 Prozent gestiegen. "Ich habe die große Sorge, dass Neonazis im Untergrund schwerste Verbrechen begehen, und wir es wieder nicht mitbekommen", sagt die Bundestagsabgeordnete Mihalic. "Wo sind diese untergetauchten Neonazis?", fragt sie. "Haben sie sich abgesetzt? Beteiligen sie sich am Aufbau terroristischer Netzwerke?"

Mihalic hat erst vor wenigen Wochen im Bundestag einen zweiten Untersuchungsausschuss zur NSU-Geschichte ins Leben gerufen. Das Gremium soll unter anderem erforschen, ob die drei bisher bekannten mutmaßlichen NSU-Mitglieder wirklich alleine waren. Es sieht so aus, als könnte der Ausschuss bald mehr Arbeit bekommen, als seine Initiatoren gedacht haben.