Jahresrückblick Pegida - Wer "abschieben" brüllt, hat etwas missverstanden

Erstveröffentlicht: 
30.12.2015

Wer auf das Jahr 2015 zurückblickt, kommt an Pegida nicht vorbei. Seit mehr als einem Jahr versammeln sich die selbsternannten Patrioten Montag für Montag in Sachsens Landeshauptstadt. Nur hier, in Dresden, schaffen sie es nach wie vor, Tausende Menschen zu mobiliseren. Pegida spaltet, kaum eine Zusammenkunft im privaten Kreis bleibt von einer Diskussion über die Bewegung verschont. MDR-Reporter Wolfram Nagel ist von Anfang an bei den Demonstrationen dabei. Hier zieht er seine Jahresbilanz:

 

Die Patrioten Europas wollen die "Islamisierung Europas" verhindern. Deshalb werden sie nicht müde, auf der Bühne die Abschiebung von Flüchtlingen zu fordern. "Wir müssen hier nicht jeden und schon gar nicht kulturfremde, verrohte Muslime willkommen heißen. Heimatverteidigung darf, muss auch konkret stattfinden", rief  Tatjana Festerling mit einschneidender Stimme kurz vor Weihnachten in die Menge. Und jene rund 8.000, die meinen "Wir sind das Volk", skandierten Widerstand.

Zwar haben sie weihnachtliche Lieder gesungen, aber offenbar deren Inhalt nicht verstanden. Die Heilige Familie war in Not geraten und fand Unterschlupf in einem Stall, bei den Tieren, in Bethlehem. Und sie musste sofort weiterziehen, weil König Herodes sie verfolgte. Eine typische Flüchtlingsfamilie aus dem Morgenland, heute aktueller denn je.

Wer "Stille Nacht, Heilige Nacht" oder "Kommet ihr Hirten" singt und dann "Abschieben" und "Widerstand" brüllt, hat da etwas Grundsätzliches missverstanden. Zumindest widerspricht es dem Verständnis christlicher Barmherzigkeit. 

 

Vor einem Jahr sang Pegida vor der Semperoper


Das war aber auch schon vor einem Jahr so. Im Dezember 2014 sangen sogar etwa 20.000 "Patrioten" Europas christliche Weihnachtslieder - vor der Semperoper. Allerdings waren die Sprüche auf der Bühne und die Antworten der Masse noch nicht so aggressiv.

Diese Massendemonstrationen der unzufriedenen Bürger haben auch Politik und Medien in Aufruhr gebracht. Eilig wurden Gesprächsrunden und Foren organisiert. Mitglieder der Staatsregierung setzten sich mit moderaten Pegida-Vertretern an "Runde Tische". 

 

Ende der großen Demonstrationen


Im Januar 2015 endete die erste Phase des Pegida-Protests. Frank Richter, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen, spricht von einer bis dahin nicht gekannten Politisierung großer Teile der Bevölkerung. Ausdruck dafür waren die vielen Demonstrationen in Dresden, Leipzig und anderen Städten. Dann aber spaltete sich Pegida-Dresden, ausgelöst durch Bachmanns "Spaßbild mit Hitlerbärtchen" und beleidigende Äußerungen über Flüchtlinge, die bekannt geworden waren. Die Teilnehmerzahlen gingen stark zurück. Schon beim Auftritt des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders im April schien der Zenit überschritten. Es kamen weit weniger Demonstranten als erwartet, nur etwa 10.000. Für Wilders waren die im Ostragehege hinter Polizeiabsperrgittern Versammelten alle "Helden". Und diese fühlten sich von einer europäischen Rechts-Partei ernst genommen und träumten von Marine le Pen in Dresden. 

 

Oberbürgermeisterwahl in Dresden


Während des Oberbürgermeisterwahlkampfes im Frühsommer trat Tatjana Festerling als unabhängige Kandidatin für Pegida auf. Ihre aggressiven Botschaften wie "Die Festung Europas ausbauen nach australischem Vorbild" kamen an. Seit fast einem Jahr ist sie die scharfzüngige Galionsfigur der Bewegung. Mit beinahe zehn Prozent erlangte sie ein beachtliches Ergebnis. Bei der notwendigen Neuwahl rief sie auf, den bürgerlichen Kandidaten Dirk Hilbert zu unterstützen. "Ein Oberbürgermeister von Pegidas Gnaden" triumphierten Festerling, Bachmann und Co. Und seitdem der Rechtspopulist Michael Stürzenberger die Anhänger auf dem Schlossplatz lauthals aufforderte, Widerstand zu leisten, gab es einen neuen Slogan, den die Masse jeden Montag, aber auch bei Protesten vor geplanten Asylunterkünften skandiert. 

 

Der Ton verschärft sich


Mit der Flüchtlingskrise im Sommer bekam Pegida wieder starken Zulauf, wenn auch nicht auf dem Niveau vom Januar. Gleichzeitig vermehrten sich die Angriffe auf Flüchtlingseinrichtungen. Schockierend waren die Attacken auf Notunterkünfte wie in Freital und Heidenau durch Rechtsextremisten. Diese nutzten Pegida offensichtlich als Plattform. Hassredner lieferten nach Ansicht von Frank Richter die ideologische Munition: "Jetzt hat Pegida zwei Themen, das ist die Asylfeindlichkeit und das ist die Islamfeindlichkeit. Und in dieser Hinsicht radikalisiert sich das Geschehen in einer ganz beängstigenden Weise."

 

Mehrere Verfahren wegen Volksverhetzung wurden eingeleitet, gegen Lutz Bachmann, Tatjana Festerling oder Akif Pirinçci. Am 7. Dezember sprach der belgische Rechtspopulist Filip Dewinter auf den Theaterplatz von einem "Krieg gegen den Islam", in dem sich Europa befinde: "Der Koran ist die Lizenz zum Töten. [...] Die Masse der Flüchtlinge ist eine Armee ohne Uniform, ohne Waffen, […] sie sind gekommen zu terrorisieren und zu kolonisieren. Das dürfen wir niemals akzeptieren".

Selten wurde der Islam bei einer Demonstration von Pegida so offen diffamiert. Der Staatsschutz ermittelt. Die Stadt drohte sogar mit einem Demonstrationsverbot.  

 

Stille Nacht, heilige Nacht


Geschützt von mehr als 2.600 Polizisten aus dem gesamten Bundesgebiet, Wasserwerfern, Räumpanzern und einer Hundestaffel rühmte Pegida-Frontfrau Festerling am Jahresende noch einmal den Durchhaltewillen der Patrioten. "Wir brauchen jeden Mann und jede Frau für unseren patriotischen Kampf im nächsten Jahr. Wir sehen uns auf der Straße."

Und erstmals wetterte sie auch gegen die Flüchtlings- und Asylpolitik der Kirchen. Die Hamburgerin hat offenbar doch verstanden, welche Geschichten von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Frieden die Weihnachtslieder erzählen. Und so schloss das Pegida-Weihnachtslieder-Singen konsequenterweise auch mit der Deutschlandhymne ab.