"Es geht darum, wer die Straße beherrscht"

Erstveröffentlicht: 
17.12.2015
Die Krawalle in Leipzig waren keine spontane Aktion, sagt der Sozialpsychologe Oliver Decker. Die Linksextremen reagierten verstärkt auf die zunehmende Gewalt von rechts.
Interview: Johanna Roth

 

ZEIT ONLINE: Herr Decker, am vergangenen Wochenende wurden in Leipzig 69 Polizisten verletzt und ein enormer Sachschaden angerichtet. Die Folge von Krawallen linker Gruppen am Rande einer Demonstration gegen einen Aufmarsch Rechtsextremer. Das ist nicht das erste Mal. Warum gerade Leipzig?





 

Oliver Decker: Sachsen ist nicht erst seit Pegida Kristallisationspunkt rechter Gruppierungen. Diese treffen wiederum in Leipzig auf eine zunehmend gut organisierte linke Szene. Die hat gerade zum Stadtteil Connewitz, in dem die Ausschreitungen jetzt zum Teil stattfanden, ein besonders emotionales Verhältnis.





 

ZEIT ONLINE: Inwiefern?




 

Decker: Connewitz war kurz vor der Wende quasi zum Abriss vorgesehen. Viele der Altbauten waren verfallen und sollten ersetzt werden. Dadurch eröffneten sich kurz nach dem Mauerfall alternative Lebensräume. Diese linke Szene ist bis heute stark im Stadtteil verankert. Ich kann mir vorstellen, dass mit dem Wiedererstarken rechter Gewalt in Deutschland, besonders im Osten, offenbar der Impuls bei den Linken steigt, solche Orte zu verteidigen. Was wir am Wochenende gesehen haben, finde ich aber völlig inakzeptabel. Die Demonstration gegen Rechtsextreme für einen solchen Gewaltexzess zu nutzen, ist schlimm.





 

ZEIT ONLINE: Polizisten wurden angegriffen, Geschäfte und Bushaltestellen zerstört. Es ging also nicht nur um Verteidigung. Das spricht nicht gerade für eine emotionale Bindung an den Stadtteil.




 

Decker: Richtig, es geht offenbar um mehr. Es scheint eine wechselseitige Eskalation stattgefunden zu haben, um zu zeigen, wer in Connewitz Herr im Haus ist. Das waren zum einen die Linken, die ihr Viertel von den Rechtsextremen bedroht sahen. Und es war zum anderen die Polizei, die zeigen wollte, dass Connewitz kein rechtsfreier Raum ist. 





 

ZEIT ONLINE: Die Linken hätten die Rechten doch auch einfach ignorieren können.





 

Decker: Nein, es scheint, als fühle sich die linke Szene von den Rechtsextremen massiv unter Druck gesetzt. Es geht darum, wer der Stärkere ist, wer die Straße beherrscht. Es zeigt sich hier eine Art Wagenburg-Mentalität in der Szene: Man muss zusammenrücken und tätig werden, um zu verhindern, dass es wieder so wird wie vor 20 Jahren, als eine gut organisierte Neonazi-Szene in Leipzig existierte. Das ist nicht ganz unbegründet. Bei den Rechtsextremen marschieren ja auch Leute mit, die in den neunziger Jahren schon dabei waren.





 

ZEIT ONLINE: Es handelt sich also um Gruppen, die sich wechselseitig radikalisieren?

 




Decker: Man kann das sozialpsychologisch betrachten. Eine Bedrohungswahrnehmung – unabhängig davon, ob es diese Bedrohung wirklich gibt – lässt Gruppen verstärkt reagieren. Das kann man in letzter Zeit gut beobachten: Wir erleben vielfältige "Krisen", die "Eurokrise" und die "Flüchtlingskrise", die stark polarisieren. Bei zugespitzter Krisenwahrnehmung werden die eigenen Gruppennormen stärker als sonst betont. Bei Pegida ist es abgrenzendes, autoritäres Gebaren. Auch fremdenfeindliche Gewalt nimmt zu. Auf der anderen Seite gibt es eine große Gruppe, die sagt: Wir müssen die humanitären Werte verteidigen.





"Wo rechtsextreme Kriminalität zunimmt, steigen linke Straftaten sprunghaft an"

ZEIT ONLINE: Aber wie passt linke Gewalt da hinein?





 

Decker: Die Linksradikalen sind sozusagen die dritte Gruppe, die sich sagt: Jetzt müssen wir noch aktiver werden. Die Ereignisse in Leipzig halte ich für die starke Eskalation unter dem Eindruck einer sich immer lauter artikulierenden rechtsautoritären Bewegung. Dazu kommt, dass viele Linksradikale den Staat ja ohnehin ablehnen und auch die Polizei als deren Repräsentant.





 

ZEIT ONLINE: Wie kam es zu dieser massiven Eskalation? Das Ganze dauerte wenige Stunden, die Bilanz ist umso erschreckender.





 

Decker: Wir wissen noch nicht viel, aber es scheint keine spontane Eruption von Gewalt gewesen zu sein, sondern koordiniertes Handeln. In Anbetracht der besonderen Bedeutung von Connewitz stellt sich aber auch die Frage, ob es nicht eine Polizeistrategie gegeben hätte, die deeskalierender gewirkt hätte. In den sozialen Medien wurde von Rechtsextremen im Vorfeld Stimmung gemacht, was beim alternativen Milieu in Connewitz offensichtlich als Bedrohung wahrgenommen wurde. Das hätte man möglicherweise mehr würdigen müssen.




 

ZEIT ONLINE: Inwiefern unterscheiden sich rechte und linke Gewalt?

 





Decker: Das muss man eher von der anderen Seite aus betrachten: Worauf zielt die Gewalt? Rechte Gewalt richtet sich vornehmlich gegen Personen. Das liegt schon in der Ideologie der Ungleichwertigkeit des Rechtsextremismus begründet. Es kann jeden treffen, wenn er als abweichend wahrgenommen wird. Die Linken richten sich stattdessen gegen gesellschaftliche Institutionen oder Funktionen und auch gegen deren Repräsentanten.





 

ZEIT ONLINE: Erleben wir eine neue Qualität linker Gewalt?





 

Decker: Punktuell schon. In Hamburg, Berlin und Leipzig gibt es gewisse gewaltbereite linksradikale Milieus, das ist auch historisch bedingt. Die zunehmenden Radikalisierungsprozesse in Europa zeigen sich natürlich auch dort. Ich muss aber davor warnen, nun einen neuen Linksterror herbeizureden. Was am Wochenende passiert ist, finde ich unerträglich. Aber wir dürfen darüber die stetig zunehmende Gewalt von rechts nicht aus den Augen verlieren. Auch, wenn die Rechten diesmal nicht direkt beteiligt waren: Fremdenfeindliche Gewalt hat den Anlass für die Gegendemo geliefert. Umso ärgerlicher, dass sie derart gewaltvoll vonstattenging. Die Demokratie kann man so nicht verteidigen.





 

ZEIT ONLINE: Die rechte Demonstration blieb wohl weitgehend friedlich. War das Kalkül?





 

Decker: Vielleicht. Auf rechtsextremen Facebook-Seiten konnte man im Vorfeld Sachen wie "Lasst uns Connewitz in Schutt und Asche legen" lesen. Das sind nicht nur plumpe Sprüche. Es war ja kein Zufall, dass die rechte Demo dort angesetzt war. Für Menschen mit alternativen Lebensentwürfen ist es an vielen Orten Realität, dass sie autoritärer Gewalt ausgesetzt sind. Viele in Connewitz haben das Gefühl, jetzt rückt es ganz nah: Die Rechten bestimmen die Normen, haben das Sagen – nicht mehr nur irgendwo auf dem Land in Sachsen, sondern plötzlich in der Metropole. Daher dieser Impuls, etwas verteidigen zu müssen. Das ist ja auch nicht falsch. Aber mit welchen Mitteln?





 

ZEIT ONLINE: Zumal mit jeglicher Gewalt Ängste bedient werden. Spielen die Linken den Rechten damit womöglich zusätzlich in die Hände?





 

Decker: Es ist einfach gesagt, dass die Demokratie von links und rechts gleichermaßen gefährdet ist. Die Datenlage zu dem Thema ist sehr komplex. Auch zur Dynamik urbaner Gewalt besteht großer Aufklärungsbedarf. Was wir beobachten: Wo rechtsextreme Kriminalität zunimmt, steigen linke Straftaten sprunghaft an. Da geht es aber längst nicht immer um Gewalt, sondern häufig um Landfriedensbruch oder ähnliches. Das muss auch die Strafverfolgung unbedingt differenzierter betrachten.

 


 

Oliver Decker

ist Sozialpsychologe und Vorstandssprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. An der Medizinischen Fakultät leitet er außerdem den Forschungsbereich Gesellschaftlicher und medizinischer Wandel in der Abteilung Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie.