Rechte Gewalt – Im Hass vereint

Erstveröffentlicht: 
08.11.2015

Der Ton wird brutaler, die Taten auch: Rechtsextreme greifen Flüchtlingsheime an, bedrohen Politiker mit dem Tod. Und viele klatschen Beifall. In diesen Wochen entscheidet sich, ob der Rechtsstaat seinen Namen verdient.

 

Der Mann, der den Galgen für die Kanzlerin durch Dresden trug, fühlt sich eigentlich ganz gut jetzt. Ein paar Leute hätten ihn geschmacklos genannt, aber das waren nur wenige. Dabei sei er gar nicht politisch, sagt der 39-jährige Werkzeughändler aus dem Erzgebirge, mehr so die "stille Mitte" . Er trägt Pulli, Brille, Doppelkinn und war vorher erst zweimal bei Pegida. Dann hatte er die Idee mit dem Galgen. Denn Angela Merkel sei eine Volksverräterin, die Asylpolitik falsch und der Krieg in der Ukraine aus deutschen Steuermitteln finanziert. Zu 95 Prozent gab es Zustimmung, sagt er, Daumen hoch und viele Glückwünsche. Er freut sich, dass er jetzt so berühmt ist.

 

Angriffe auf Politiker und Flüchtlingsheime

 

Fünf Tage später verletzte ein Rechtsradikaler die Kölner  Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker mit einem Messer schwer. Reker war in Köln auch für die Unterbringung von Flüchtlingen zuständig und wurde auf der Intensivstation ins künstliche Koma versetzt.

 

Am Tag danach hatten Unbekannte in Bernau "Erst Henriette Reker, dann André Stahl" an eine Wand geschmiert. Stahl ist Bürgermeister der Stadt Bernau in Brandenburg, der sich für Flüchtlinge einsetzt. In Thüringen wurde eine geplante Flüchtlingsunterkunft unter Wasser gesetzt. In Nauen brannte ein Heim ab.

 

Im Jerichower Land, Sachsen-Anhalt, stellten Unbekannte einen Galgen auf, unweit eines Flüchtlingsheim, drei Meter hoch, aus Holz, mit Strick. In der Berliner U-Bahn pinkelten Neonazis auf zwei ausländische Kinder. Im sächsischen Freiberg blockierten am vergangenen Wochenende Hunderte rechter Demonstranten Flüchtlingsbusse und warfen mit Lebensmitteln. Zeitungen schließen ihre Kommentarfunktionen bei Berichten über Asylthemen. Im Internet tobt der Hass.

 

Gestern noch die Netten - jetzt tobt der Hass

 

Gestern waren die Deutschen noch die Netten. Standen am Bahnhof, winkten den erschöpften Menschen zu, reichten Schokolade, Teddybären, bunte Pullover und blickten gerührt auf die Geretteten. Und auf sich selbst.

 

Heute werden in den Frühnachrichten nicht mehr Hilfsrekorde vermeldet, sondern die Angriffe auf Flüchtlinge der vergangenen Nacht. 576 Mal wurden in diesem Jahr Heime angegriffen, 46 Mal Heime und Unterkünfte angezündet, mehr als einmal pro Woche. Propagandadelikte, Volksverhetzungen und Beleidigungen gehen in die Tausende. Was sich an Hass-Kriminalität im Internet abspielt, darüber haben Unternehmen wie Facebook und schon gar keine Strafverfolgungsbehörden einen Überblick.

 

Es geht nicht um Ängste und Sorgen. Die Asylpolitik darf man falsch finden, der Flüchtlingszustrom darf einen ängstigen, Politiker darf man kritisieren. Sorgen darf man haben. Es geht um die, die sie ausnutzen, für Drohungen, Beleidigungen, für Gewalt – eine beängstigende Koalition von alten und neuen Rechten, von strammen Parteikadern und Hooligans, von Brandrednern und Pegidisten. Es gibt das neue Deutschland der Menschlichkeit gegenüber Fremden. Die Zivilgesellschaft der hunderttausend freiwilligen Helfer, die in nie gekannter Weise einspringen, wo der Staat versagt. Und es gibt das Deutschland, das sich vor allem um sich selbst sorgt und vom Staat verlangt, vor dem Fremden beschützt zu werden. Sonst wird gehandelt. In diesen Wochen, so scheint es, entscheidet sich, welches Deutschland sich durchsetzt.

 

Hass-Mails und Drohungen nehmen zu

 

"Ich habe die Leichtigkeit verloren, wenn ich durch meine Stadt gehe" , sagt Burkhard Jung, der Oberbürgermeister von Leipzig. "Früher habe ich mich hier wie ein Fisch im Wasser bewegt. Jetzt gehe ich durch die Straßen und denke manchmal: Wie viele sind das denn?"

 

Seit Monaten wird Jung mit Hass-Mails malträtiert. Er wird beschimpft, beleidigt, bedroht. "Ich bin seit 2006 Oberbürgermeister, aber nie gab es eine Situation, in der ich Angst hatte, in der ich offen angepöbelt oder angefeindet wurde. Wie aus heiterem Himmel hat sich das im vergangenen Dezember geändert, als ich an einer Diskussionsveranstaltung zur ersten neugebauten Moschee in Leipzig teilnahm."

 

Einmal im Monat hält Jung eine Bürgersprechstunde ab, in einem Büro am Markt, hinter einem Schaufenster. "Normalerweise kommen Leute, die keine Baugenehmigung für ihre Garage bekommen oder sich über den Fluglärm beschweren wollen. Doch wenn jetzt Bürger über Ausländer reden, ändert sich ihre Wortwahl. Da werden plötzlich Vietnamesen ‚Fidschis‘ genannt oder Flüchtlinge ‚Gesindel‘."

 

Menschenverachtende Sprache

 

Natürlich war ihm schon immer bewusst, dass es Fremdenfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft gibt. "Aber die Pegida-Bewegung hat eine menschenverachtende Sprache salonfähig gemacht, die zuvor höchstens an manchen Stammtischen oder hinter vorgehaltener Hand gepflegt wurde" , sagt Jung. Inzwischen bekommt er Polizeischutz bei großen Veranstaltungen.

 

Dass die relative Anonymität des Internets enthemmend wirkt, ist bekannt. Leute lassen sich ja auch bei der Rezension von Fitnessgeräten zu Unflätigkeiten hinreißen und rasten verbal aus, wenn in ihrem Urlaubshotel der Wasserhahn tropft. Aber, sagt Johannes Baldauf, der bei der Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung seit Jahren mit dem Projekt "no-nazi.net" das Netz durchforstet, "der fremdenfeindliche Ton hat sich verschärft" . Der Ruf nach Gaskammern, KZs oder Flammenwerfern gegen Flüchtlinge ist in Onlinekommentaren kein Tabu mehr, Karikaturen mit Ungeziefer, Erdlöchern und, ja, gern Galgen, sind keine Ausnahmen.

 

Gegenreden, wie Facebook sie empfiehlt, weil die Firma Hass-Reden, Beleidigungen und Bedrohungen nicht löschen will oder nicht kann, bewirken nach Baldaufs Erfahrungen eher das Gegenteil: "Menschen werden aufmerksam, die Hasskommentare vorher nicht gelesen haben, und fühlen sich teilweise angespornt, einen noch krasseren Kommentar draufzusetzen."

 

Gezielte Falschmeldungen schüren Ängste

 

Ein weiteres Problem sind gezielt gestreute Falschmeldungen, teilweise geschickt gemacht, mit Bildern oder mit Links, die in die Irre führen. Die Meldung, dass wahlweise Asylbewerber, Syrer oder Roma ungestraft stehlen dürfen und die Supermärkte den Schaden von irgendeinem Amt erstattet bekämen, erfundene Berichte über Begrüßungsgelder oder Vergewaltigungen in oder an Unterkünften werden tausendfach geteilt und provozieren neue empörte Kommentare.

 

"Im Fall des ertrunkenen syrischen Jungen Ailan wurde ein TV-Interview mit der Cousine aus Kanada so neu geschnitten, dass der Eindruck entstand: Fluchtgrund sei der Wunsch des Vaters nach neuen Zähnen gewesen", sagt Baldauf. Das Internet wirkt wie ein Brandbeschleuniger, aber der Hass kriecht auch auf die Straße. Die rechtsextreme Organisation "Der III. Weg" stellte eine Karte aller Flüchtlingsheime ins Netz – die von nicht wenigen als Aufforderung verstanden wurde, in der Nachbarschaft zu gucken, was geht. Möglicherweise mit Erfolg: 70 Prozent der Tatverdächtigen von Angriffen auf Heime waren vorher nicht einschlägig polizeibekannt. 73 Prozent kamen aus demselben Ort. "Es scheint keine zentrale Koordination zu geben", schätzt das BKA. Nur das dumpfe Gefühl, Vollstrecker eines vermeintlichen Volkswillens zu sein.

 

"Ich habe es für euch getan", soll Frank S., der Attentäter von Köln, gerufen haben, bevor er auf die Kölner Politikerin einstach. Ein glatzköpfiger Sonderling sei der 44-jährige arbeitslose Maler und Lackierer gewesen, ein Eigenbrötler, vorbestraft wegen Körperverletzung, der in den 90er Jahren in rechtsextremen Kreisen verkehrte und an Aufmärschen teilnahm. Er war in jüngster Zeit immer mal in "rechtsextremistisch ausgerichteten Foren unterwegs", so der Verfassungsschutz, aber wie genau und wann genau der Entschluss zum Attentat fiel, lässt sich bisher nicht herleiten. Nur, dass es sorgfältig geplant war und dass das Internet offenbar eine Rolle spielte. Weil S. wusste, dass man seine Wohnung durchsuchen würde, baute er bei allen Computern die Festplatten aus.

 

Hass lässt sich nicht verbieten. Beleidigung, Bedrohung, Volksverhetzung und Tätlichkeiten sind schon verboten. Allerdings muss man sagen: Passieren tut meistens nichts.

 

Ermittlungen ins Nichts

 

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu bekommt regelmäßig Hass-Mails. Als ihm kürzlich einer schrieb, "Es wird Zeit, dass Auschwitz wieder den Betrieb aufnimmt" , dass "es wieder Türkenasche regnen muss", erstattete Mutlu Anzeige gegen den Absender. Wie in seinem Politikerleben schon mindestens zwei Dutzend Mal. Doch die Ermittlungen führten ins Nichts, wie so oft. Begründung: Es handele sich um freie Meinungsäußerung, er als Person des öffentlichen Lebens müsse das ertragen. Zwar läuft derzeit ein weiteres Verfahren gegen einen, der Mutlu mit Auschwitz-Hetze traktierte. Doch eigentlich erwartet der Grüne davon wenig.

 

Der Staat scheint oft wehrlos. Es ist schwierig, die Täter zu finden. Es scheint noch komplizierter, sie auch zu bestrafen. Als am Tag der Deutschen Einheit zwei Männer aus der Nachbarschaft in einem Haus im sauerländischen Altena Feuer legten, in dem am Tag zuvor sieben syrische Männer und Frauen eingezogen waren, wurden sie schnell gefasst. Der Staatsanwalt verzichtete darauf, Haftbefehle zu beantragen. Die Täter seien zwar ausländerfeindlich, aber nicht rechtsradikal, wurde feinsinnig unterschieden. Zwar hätten sie "Menschen in Gefahr gebracht", räumt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Hagen gegenüber dem stern ein, eine Tötungsabsicht könne ihnen allerdings nicht nachgewiesen werden.

 

Als in Freiberg zwei Neonazis über Wochen einen behinderten Jungen quälten, den man ihrer Ansicht nach "eigentlich vergasen müsste" , kamen sie wegen "gefährlicher Körperverletzung" mit Bewährungsstrafen davon, als habe es sich um eine Wirtshausschlägerei gehandelt, nicht um das Martyrium eines Zehnjährigen, in dem Rechtsradikale unwertes Leben sahen.

 

Für ihre Promotion untersuchte die Dresdner Juristin Kati Lang 122 abgeschlossene Strafverfahren in Sachsen aus den Jahren 2006 und 2007. Die Taten waren im Ermittlungsverfahren von der Polizei als rechte Gewalttaten eingestuft worden. In nur zwölf Prozent der Fälle wirkte sich das Motiv strafverschärfend aus. Langs Fazit: "Die Justiz findet bedauerlicherweise bisher nur unzureichend Antwort auf rechte Gewalt, da die rechten Beweggründe viel zu häufig keinen Einzug ins Strafverfahren finden. Die ausbleibende Signalfunktion stärkt die Täter und schwächt die Opfer."

 

"Hasskriminalität" wird in den USA hart bestraft

 

In den USA oder Großbritannien wären die Männer, die den geistig behinderten Jungen gequält haben, vermutlich nicht nur als Körperverletzer davongekommen. Dort kennt man den Begriff "Hate Crime" schon seit Jahrzehnten. Dass Täter, die aus Hass morden, zuschlagen, quälen, hierzulande nicht hart genug bestraft werden, hat die Bundesrepublik sogar schriftlich: Deutschland wurde von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz kritisiert. Das Strafgesetzbuch kennt zwar rassistische, fremdenfeindliche und menschenverachtende Beweggründe. "Die Mängel, die eine effektive Strafverfolgung von Taten der Hasskriminalität behindern, liegen zuvörderst auf der Anwendungsebene" , heißt es in einem Gutachten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Staatsanwälte und Richter könnten, wenn sie wollten. Sie tun es nicht.

 

In elf Fällen von Hassbriefen hat der Oberbürgermeister von Leipzig Anzeigen gestellt. Bei vieren davon hat die Staatsanwaltschaft die Täter ermittelt. Einer, ein Dresdner, musste 500 Euro zahlen, weil er Burkhard Jung als "Drecksau" beleidigte, die man "aufhängen" müsste. Drei der Anzeigen liegen noch bei Gericht.

 

"Die Staatsanwaltschaft muss klarer gegen solche Beleidigungen vorgehen", sagt Jung. "Das sind Verstöße gegen die Menschenwürde. Vielleicht braucht man sogar Schnellverfahren, denn der Urheber und die Tat sind in vielen Fällen ja klar." Jung findet es "zynisch, dass das BKA jetzt, nach 500 Anschlägen, vor einer Gefahr warnt". Er sagt: "Man möge sich mal vorstellen, was los wäre, wenn es nur einen einzigen Anschlag auf ein Seniorenheim geben würde. Man misst hier mit zweierlei Maß. Wir haben keine Flüchtlingskrise. Wir haben eine Rassismuskrise."

 

Wie einst in Rostock

 

Fassungslos starrte das Land vor einigen Wochen auf die Bilder der Randale in Heidenau. Ein rasender Mob vor einem zum Flüchtlingslager umfunktionierten Baumarkt. Böller und Flaschen, Barrikaden und Geschrei, Dutzende Verletzte und eine hilflose Polizei, die der Lage nicht Herr wurde. Die Bilder müssten vielen bekannt vorkommen.

 

1992 eskalierten in Rostock-Lichtenhagen Ausschreitungen gegen eine Aufnahmestelle für Asylbewerber. Mehrere Hundert Rechte griffen das Heim und ein angrenzendes Wohnheim von Vietnamesen mit Flaschen, Böllern und Brandsätzen an, Tausende "besorgte Bürger" sahen zu. Phasenweise zog sich die Polizei völlig zurück und überließ die im brennenden Haus Eingeschlossenen sich selbst. Die Menschen konnten sich retten, das Wohnheim brannte aus.

 

Vorausgegangen war dieser Eskalation die totale Überforderung: Die Kapazität des Heims war schon Wochen zuvor erschöpft. Hunderte Menschen schliefen in den Grünanlagen. "Die teilweise Duldung der gegen Minderheiten gerichteten Stimmung vor dem Pogrom war Bedingung für den Gewaltausbruch, ebenso wie geringe Anzahl und zunächst Passivität der Polizei" , analysierten Forscher Jahre später.

 

Nährboden für neuen Rechtsterrorismus?

 

In diesen Jahren und in dieser Stimmung entstand der NSU. Damals gab es noch keine Hass-Foren im Internet, an vielen Orten nicht mal Telefone. Die Möglichkeit von Vernetzung und Mobilisierung des harten rechten Kerns war schwieriger. Und damals kamen, verglichen mit heute, nur die Hälfte bis ein Drittel der Flüchtlinge. Über Turnhallen und Zeltstädte dachte niemand nach. Gerade deshalb müsste sich der Staat heute entschiedener als damals der Gewalt entgegenstellen, und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. In Heidenau zumindest hat er das nicht geschafft.

 

Sorgen bereitet den Behörden gerade das: wie Rechtsextreme versuchen, den vorhandenen Unmut für sich zu nutzen. "Heidenau konnte auch deswegen ein aus rechter Sicht so großer ‚Erfolg‘ werden", glauben die Experten des Verfassungsschutzes, weil es zwei NPD-Veranstaltungen gab, angemeldet vom örtlichen NPD-Stadtrat, und weil es eine Kooperation mit gewaltbereiten Neonazis gab. Man weiß auch, wie euphorisch die NPD bereits frühzeitig auf die Pegida-Bewegung reagiert hat. Die Partei hege plötzlich die Hoffnung, über das Thema "Asyl" endlich doch noch Anschluss an bürgerlichere Schichten zu finden. Der neue Parteichef wurde immer wieder auf Pegida-Demonstrationen gesichtet. Intern hätte es jedoch die Parole gegeben, sich aus taktischen Gründen zurückzuhalten. Um niemanden zu verschrecken, weder Behörden noch Bürger.

 

Der Streit der Experten

 

Ein Beobachtungsobjekt der obersten Verfassungsschützer ist Pegida jedoch nicht. Es sammelten sich in der Bewegung, so das Kölner Amt, vorrangig klassische Wutbürger, Menschen mit Abstiegsangst, darunter ausländerfeindlich gesinnte, Islamfeinde – und in unterschiedlichem Ausmaß Rechtsextreme.

 

Auch die sächsischen Verfassungsschützer sehen keinen Anlass, um Pegida geheimdienstlich zu beobachten. Der Auftritt des Autors Akif Pirinçci mit seinen Hass- und KZ-Parolen hat daran nichts geändert. "Natürlich schauen wir hin" , so ein Sprecher, "aber wir beobachten nicht." Das Interesse der Rechtsextremisten an Pegida sei eher abnehmend, glaubt man in Sachsen.

 

Ob Pegida ein Aufstand der Mehrheit ist oder ein Durchlauferhitzer gewaltbereiter Rechter, darüber streiten die Gelehrten. Der Hallenser Psychoanalytiker und Autor Hans-Joachim Maaz, der sich seit Jahrzehnten mit der Gefühlslage vor allem der Ostdeutschen befasst, hält es für einen Fehler, besonders der Medien, aber auch der Politik, dass die Teilnehmer und Organisatoren der Montagsspaziergänge in die rechte Ecke gestellt würden. "Das berechtigte Protestpotenzial wird so abgewertet", sagt er. "Das sind in der überwiegenden Anzahl Leute, die gehört werden wollen. Die das Gefühl haben, dass über sie hinweg entschieden wird, dass ihre Probleme nicht gesehen werden. Das sind mehrheitlich doch keine Rechtsextremen."

 

21 000 Menschen stehen Rechtsextremismus nahe

 

Andreas Zick, Sozialpsychologe an der Uni Bielefeld, sieht das anders. Zick ist einer der Autoren der Studie "Fragile Mitte – Feindselige Zustände – Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014". Er hält Pegida für eine Hassgemeinschaft. Der Kitt sei die Menschenfeindlichkeit und ein überbordender nationaler Chauvinismus. Und er hält sie für "eine Bewegung in Richtung Terror". Der Weg zur Gewalt sei vorgezeichnet. "Die Bewegung muss sich radikalisieren, sonst flacht sie ab. Pegida war von Anfang an eine handlungsorientierte Bewegung. Nach dem Motto: ‚Wir reden nicht, wir diskutieren nicht. Wir handeln‘." Und den Galgen zu zeigen, das habe "eine Beschleunigungsfunktion im Radikalisierungsprozess", sei eine "Legitimationsgrundlage für die Gewaltbereiten".

 

Für 2014 zählt der Verfassungsschutz 21 000 Personen in Deutschland zum "Rechtsextremismuspotenzial" – jeder zweite gilt als gewaltorientiert. Darunter 7200 sogenannte subkulturell geprägte Rechtsextreme, 5600 Neonazis und 6850 Mitglieder in rechtsextremen Parteien wie etwa NPD, Pro NRW oder Die Rechte. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen hält einen zweiten NSU für denkbar. "Wir können nicht ausschließen, dass sich im derzeitigen Klima Gruppen bilden, die dazu bereit sind, rechtsterroristische Anschläge zu verüben."

 

Wer hat Gestaltungsmacht?

 

"Am Ende wird diese Auseinandersetzung Deutschland stärker machen", sagt Extremismusforscher Andreas Zick, und man hofft, dass er das nicht nur hofft. "Dem Rechtsextremismus wird es nicht gelingen, politische Gestaltungsmacht in Deutschland zu erlangen." Die Verschärfung der Asylgesetze, die Diskussion um Transitzonen, die bevorstehenden Massenabschiebungen rechnet sich Pegida aber schon aufs eigene Konto. "Geht doch" , jubeln Anhänger im Internet, "raus mit dem Pack."

 

Die Oberbürgermeisterin von Köln ist inzwischen aus dem Koma erwacht und hat ihr Amt angenommen. Auf der Bühne der letzten AfD-Demo in Erfurt trug auch Björn Höcke – der mit der Deutschland-Fahne über Jauchs Gästestuhl – eine schusssichere Weste. Ein Makler in Berlin schrieb Leuten in der Nachbarschaft des neuen Erstaufnahmezentrums in Berlin-Wilmersdorf, sie sollen jetzt, ganz schnell, ihre Wohnungen verkaufen, und zwar an ihn. Denn wenn es bald von Ausländern nur so wimmele, würde ihre Immobilie nur noch die Hälfte wert sein. An der Dresdner TU machen sie mit ihren ausländischen Forschern Workshops mit dem Titel "Living in Dresden in the Times of Pegida".

 

Nach seinem Auftritt vergangene Woche bei Maybrit Illner fand der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der als Nebenkläger Opfer im NSU-Verfahren vertritt, eine E-Mail in seinem Postfach, in der ein „anonymer Held“ schrieb: "Na, Du Dreckskanake, schon bald schiesse ich Dir dreimal in den Drecksschädel. Nach Deiner Ermordung werde ich deine Leiche öffentlich verbrennen. Das vierte Reich ist nicht mehr fern und wir werden alle Muslime vernichten."

 

Der Mann, der den Galgen für Angela Merkel durch Dresden trug, der Mann aus der "stillen Mitte", hat jetzt einen Anwalt, einen ganz besonderen: Martin Kohlmann. Der war mal eine große Nummer bei den Republikanern und ist Gründer des rechten Bündnisses "Pro-Chemnitz". Er ist der Anwalt, dem die rechtsextreme Szene vertraut.

 

Dieser Artikel erschien zunächst in der stern-Ausgabe Nr. 45 am 29. Oktober 2015.