NSU/André E. – „Halbwegs intelligenter Eindruck“

Seite 1/3 - DER SPIEGEL 45 / 2015: »André E. – „Halbwegs intelligenter Eindruck“«
Erstveröffentlicht: 
30.10.2015

Ein neuer Untersuchungsausschuss soll klären, was V-Männer vom NSU-Trio wussten und welche Unterstützer es gab. Im Fokus steht die Neonazi-Truppe „Blood and Honour“.


Der 43-jährige Industrieelektroniker Ingolf W. sitzt am 9. Februar dieses Jahres in der Kriminalpolizeiinspektion Anklam und erzählt zwei Beamten des Bundeskriminalamts scheinbar freimütig von seiner Zeit „in rechten Kreisen“. Es war Ende der Neunzigerjahre, er lebte damals in Sachsen. W. hat Konzerte organisiert und ist auf viele Treffen von Kameraden gefahren, auch ins Ausland, nach Ungarn, England, Tschechien. „Blood and Honour“ (B&H) stand im Zentrum des Milieus, in dem er sich zu jener Zeit bewegte – ein Netzwerk rechtsextremer Bands, das sich auch als politische Kampftruppe verstand. Heute aber, versichert Ingolf W., führe er ein „ziemlich gesetztes“ Leben.

 

Es gibt Aspekte, die W. in seiner Vernehmung ausspart. Zum Beispiel, dass er damals maßgeblich an einem Magazin mitgearbeitet hat: „White Supremacy“, weiße Überlegenheit, eine Art Mitgliederzeitschrift von B&H. Berichte über Skinhead-Konzerte und Fußballturniere fanden sich darin, aber auch Kommentare. Einer trug den Titel „Gedanken zur Szene“ und rief die Leser dazu auf, sich „aktiv am Kampf“ zu beteiligen, gegen alles, „was sich gegen unser Volk und unser Land“ richte. Der anonyme Autor war, so hat es später ein Zeuge ausgesagt, Uwe Mundlos, einer der späteren Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Er hat vermutlich auch beim Layout der Zeitschrift geholfen, während er sich zusammen mit Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt vor der Polizei versteckte.

Als die zwei Ermittler W. fragen, ob er die Terroristen kennt, behauptet er: „überhaupt nicht“. Er habe ihre Namen in den Medien gelesen. Ohne nach dem Zeitpunkt gefragt worden zu sein, betont W. gleich viermal, er sei erst 2003 in die Szene gekommen – ein klarer Widerspruch zu seiner Mitarbeit am Magazin Ende der Neunzigerjahre.

Die Beamten fragen nicht nach. Sie werfen dem Zeugen nicht vor zu lügen, sie erwähnen nicht einmal das Magazin. Vermutlich sind sie nicht im Bilde, wen sie da vor sich haben, selbst nach vier Jahren Ermittlungen. W. darf nach nicht einmal einer Stunde wieder gehen.

Es ist ein Beispiel von vielen, die zeigen, dass die Aufarbeitung des NSU noch immer stockt. Ermittler stellen die falschen Fragen, Zusammenhänge werden übersehen, Informationen verschwiegen.

Seit Mai 2013 bemüht sich in München das Oberlandesgericht um Aufklärung, während das Bundeskriminalamt weiter ermittelt. Von Januar 2012 bis August 2013 arbeitete im Bundestag ein erster Untersuchungsausschuss die NSU-Geschichte auf, in Bayern beschäftigte sich ein Landtagsausschuss damit. In Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen tagen derzeit parlamentarische Untersuchungsausschüsse zum NSU, in Sachsen und Thüringen bereits in der zweiten Auflage. Selten zuvor wurde in der Bundesrepublik ein solcher Aufwand betrieben, um Verbrechen und Terror aufzuklären.

Trotz vieler Gremien, trotz der Analyse Zehntausender Seiten von Akten, trotz der Vernehmung Hunderter Zeugen sind viele Fragen noch immer nicht geklärt. Vor allem diese: Konnte das Trio tatsächlich autark über sieben Jahre morden, ohne dass andere davon wussten? Waren der Staat und seine Behörden wirklich so ahnungslos, wie sie im Nachhinein versichern?

Der Bundestag setzt in diesen Tagen einen zweiten Untersuchungsausschuss zum NSU ein. Er ist die politische Antwort auf die Versäumnisse, Fehler und Vertuschungen, die das Aufarbeiten der rechtsterroristischen Mordserie behindert haben. Die Parlamentarier wollen herausfinden, was die Sicherheitsbehörden von ihren V-Leuten über die Aktivitäten des NSU wussten und ob sie „sachgerechte Maßnahmen ergriffen und zielführend kooperiert haben“, wie es im Einsetzungsbeschluss heißt. Sie wollen wissen, wie groß der Unterstützerkreis des NSU war, vor allem aus der organisierten Kriminalität und rechtsextremen Gruppen wie B&H.

Diese rassistische Organisation wurde 1987 vom Sänger der Neonazi-Band Screwdriver in Großbritannien gegründet, zunächst als Netzwerk für rechte Musik, das CDs vertrieb und Konzerte organisierte. 1999 beschlossen ihre Führungsmitglieder nach dem Vorbild der NSDAP ein 25-Punkte-Programm und sahen sich als „politische Soldaten“ einer „Kampfgemeinschaft“. Zum bewaffneten Arm der Organisation wurde eine Gruppe namens Combat 18, die in Großbritannien, Australien und anderen Ländern für Mord und Terror verantwortlich war.

1994 breitete sich die Bewegung, die als Name den Leitspruch der Hitlerjugend „Blut und Ehre“ wählte, nach Deutschland aus; schon bald hatte sie hier mehrere Hundert Mitglieder. Bands wie Landser, Noie Werte oder Spreegeschwader machten mit rassistischen Songs Propaganda, zugleich bauten B&H-Funktionäre neue Strukturen auf – 17 „Sektionen“ wurden gegründet, in Berlin und Sachsen waren die Mitglieder besonders aktiv.

Sie organisierten nicht nur Konzerte, sondern publizierten auch volksverhetzende Broschüren wie das „Field Manual“, in dem zum Kampf für den „Erhalt der weißen Rasse“ aufgerufen wurde. Auf einem Sektionstreffen in Sachsen am 14. Juni 1998 diskutierten die Mitglieder die Möglichkeit, Anschläge aus dem Untergrund zu verüben. Fünf Monate zuvor waren Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt abgetaucht.

Vermutet wird heute, dass das Trio dabei viele Unterstützer aus der Szene hatte, in der es sich vor der konspirativen Zeit selbst bewegte: B&H. Mindestens zehn Helfer stammten aus dieser Organisation, so legen es die bisherigen Ermittlungen nahe.

Im März bestätigte das Landgericht Dresden diese Vermutung in einem zivilrechtlichen Urteil. Es verhandelte die Unterlassungsklage zweier Neonazis gegen eine Äußerung, wonach sie Teil eines Netzwerks gewesen seien, das den NSU unterstützt habe. Das Gericht wies die Klage ab. Es sei „erwiesen“, dass B&H ein internationales Nazinetzwerk gewesen sei, das den NSU „tatkräftig unterstützte“. Brisant dabei ist, dass auch die Sicherheitsbehörden in diesem Unterstützerkreis gut vertreten waren. Dank V-Leuten und Informanten wussten sie über B&H Bescheid. Sie hatten damit ein Bild des untergetauchten Trios, zumindest in den ersten Jahren seines Lebens im Untergrund. Aber warum bekamen sie von den Mordplänen nichts mit? Hinweisen hätten sie mehrfach nachgehen können.

Da ist zum Beispiel Jan W. Er war 1998 in Chemnitz Sektionsleiter von B&H, zu der Zeit, als das NSU-Trio aus Jena geflohen und in Chemnitz untergetaucht war. Jan W. produzierte mit Ingolf W., dem Zeugen aus Vorpommern, „White Supremacy“, jenes Magazin, in dem Mundlos aus seinem Versteck heraus Artikel veröffentlichte. Einem Kameraden erzählte Jan W., dass er Waffen für das Trio besorgen solle. Carsten S., ein V-Mann unter dem Decknamen Piatto, berichtete dem Brandenburger Verfassungsschutz davon.

Da ist Thomas S., B&H-Anhänger und ein Exfreund Beate Zschäpes. Er soll den TNT-Sprengstoff besorgt haben, den die Polizei 1998 in einer Garage in Jena fand. Nach ihrer Flucht soll S. es gewesen sein, der den dreien mehrere Wohnungen in Chemnitz vermittelte. Auch S. war ein Zuträger staatlicher Stellen. Von 2001 bis 2011 war er ein Informant des Berliner Landeskriminalamts.

Da ist Antje P., eine der wenigen Frauen in der B&H-Bewegung. Angeblich wollte sie Beate Zschäpe ihren Pass zur Verfügung stellen, damit diese sich ins Ausland absetzen könne. Im Gespräch sei Südafrika gewesen. Das erzählte sie einem Freund, Piatto, dem V-Mann aus Brandenburg. Ein gutes Dutzend Männer aus dem Umfeld des NSU kooperierten mit den Behörden und gaben in den ersten Jahren auch Informationen über die untergetauchten Neonazis weiter. Warum diese Behörden ihre Erkenntnisse nur teilweise anderen mitteilten, warum sie Informationen sperrten oder zurückhielten, warum keine dieser Informationen zu einer Verhaftung der drei führte, warum also trotz der hohen Informantendichte niemand in der Lage war, zumindest in Ansätzen vorauszusehen, was sich da zusammenbraute, das ist die zentrale, bis heute nicht geklärte Frage in der Aufarbeitung des NSU.

Ein großer Teil der behördlichen Zuträger stammte aus dem B&H-Netzwerk. Sie arbeiteten dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu, den Ämtern in Thüringen und Brandenburg und der Berliner Polizei. Sie beschränkten sich nicht nur auf die Weitergabe von Informationen: Ein V-Mann aus Thüringen spendete sogar Geld für die Untergetauchten. Nach SPIEGEL-Informationen hatte auch das Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen einen B&H-Aktivisten als V-Mann engagiert. Er war in Chemnitz eingesetzt, der Stadt, in der das Trio seinen ersten Überfall beging und die ersten zweieinhalb Jahre nach der Flucht aus Jena im Untergrund lebte. Seine Rolle wurde bislang weder in der Münchner Gerichtsverhandlung noch in den Untersuchungsausschüssen beleuchtet. Der Sächsische Verfassungsschutz will sich zu „Fragen zum operativen Einsatz von menschlichen Quellen“ nicht äußern.

Wie sehr Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt auf ihre Helfer und deren Kontakte angewiesen waren, um im Untergrund überleben zu können, zeigt das Beispiel von André E. Auch er war tief in die Szene von B&H verstrickt. 1999 soll er an einer B&H-Demonstration in Budapest teilgenommen haben, kurz darauf gründete er mit seinem Zwillingsbruder Maik die „Weiße Bruderschaft Erzgebirge“ mit dem Ziel einer „weißen Revolution“.

Die Gruppe pflegte Kontakte zu den Mitgliedern von B&H, mit vielen Führungspersonen war André E. befreundet. Er wollte angeblich auch Mitglied werden, dann aber kam ihm der Staat dazwischen: Im September 2000 verbot der Bundesinnenminister die Organisation. Die Strukturen von B&H aber lebten weiter fort. Der gelernte Maurer hatte, den Ermittlungen zufolge, den Mietvertrag einer Wohnung in Chemnitz unterschrieben, in die das Trio 1999 einzog. Er soll den dreien auch BahnCards besorgt haben. Im November 2000 soll E. ein Wohnmobil gemietet haben, mit dem Böhnhardt und Mundlos zu einer Postfiliale in Chemnitz fuhren und sie ausraubten.

Vier Wochen später bestellte er einen Fiat-Caravan. Die beiden NSU-Männer fuhren damit nach Köln. Sie versteckten laut Anklageschrift eine Bombe in einer Dose für Christstollen und ließen diese unter einem Vorwand in einem Lebensmittelgeschäft zurück. Bei der Explosion wurde die Tochter des iranischen Ladenbesitzers so schwer verletzt, dass die Ärzte sie ins künstliche Koma versetzen mussten.

Der 36-Jährige André E. steht neben Beate Zschäpe und anderen mutmaßlichen Unterstützern in München derzeit vor Gericht. Ihm wird Beihilfe zu einem Sprengstoffanschlag, zu einem Mordversuch und zum Raub vorgeworfen.

André E. hat seine politische Gesinnung früh offenbart. Mit 16 oder 17 Jahren ließ er sich die Losung der Hitlerjugend „Blut und Ehre“ auf den rechten Oberarm tätowieren – und auf die Brust eine Reichskriegsflagge mit den Initialen A. H. Die Buchstaben stünden nicht etwa für Adolf Hitler, sondern für den Namen seiner Exverlobten Anja, sagte E., als ihn während seines Wehrdienstes der Militärische Abschirmdienst der Bundeswehr (MAD) befragte.

Später hatte er sich den Schriftzug „Die Jew Die“ auf den Bauch tätowieren lassen, „Stirb, Jude, Stirb“. Von Juden halte er „nicht allzu viel“, gab er in seiner Befragung mit dem MAD zu, das „Dritte Reich“ sei nicht nur schlecht gewesen. Die Befrager der Bundeswehr notierten, André E. habe einen „halbwegs intelligenten Eindruck“ hinterlassen. Vor Gericht schweigt André E. nun.

Die Ermittler fanden 2011 im Schutt der abgebrannten Wohnung des Trios Fotos, die Beate Zschäpe mit Susann E. zeigen, der Frau von André E. Sie war mit ihren beiden Söhnen oft zu Besuch. Die Kinder begleiteten Zschäpe und ihre Katzen manchmal zum Tierarzt.

Als die Ermittler am 10. April 2013 die Wohnung von André und Susann E. in Zwickau durchsuchten, entdeckten sie im Wohnzimmer ein Bild. Eingefasst in einen dunklen Holzrahmen zeigte es die Gesichter von Mundlos und Böhnhardt neben einer Rune. In altdeutscher Schrift stand darunter geschrieben: „Unvergessen“. André E. war ein wichtiger Unterstützer der Terroristen, möglicherweise der wichtigste, denn er war bestens vernetzt. Mit mindestens 44 Menschen aus dem kriminellen Milieu stand er über sieben Jahre in Kontakt. Das zeigen die Daten seiner fünf Mobiltelefone, die die SPIEGEL-Dokumentation ausgewertet hat. Ob diese Bekannten ebenfalls geholfen haben, das Trio im Untergrund zu decken und zu versorgen, ist noch unklar.

Unter den Telefonkontakten des schweigsamen Helfers befindet sich auch die Nummer von Ingolf W., dem Macher von „White Supremacy“. Es ist anzunehmen, dass André E. auch ein Bekannter von Ingolf W. war. Von jenem Mann also, der den Polizisten vom Bundeskriminalamt unwidersprochen erzählte, dass er die Terroristen vom NSU gar nicht kenne.

Maik Baumgärtner, Martin Knobbe