Bewegung an der Aleppo-Front

Erstveröffentlicht: 
27.10.2015

Das brutale russische Eingreifen hat Asads Armee massiv gestärkt und eine erneute Fluchtwelle ausgelöst. Ihr Vormarsch auf Aleppo bedroht akut 300'000 Zivilisten.

Das russische Eingreifen in Syrien hat dazu geführt, dass die Regierungsarmee Asads und deren verbündete Milizen aus der Defensive in die Offensive übergehen konnten. Sie stehen nun in den nördlichen Teilen Syriens und marschieren von Westen, aus der Provinz Lattakiya, nach Osten vor. Sie suchen die Hauptachse Syriens – die Strasse, die über Homs und Hama Damaskus mit Aleppo verbindet – voll unter ihre Kontrolle zu bringen. Dabei umgehen sie zunächst die gebirgige Grenzprovinz Idlib, die östlich an die Provinz Lattakiya und an die türkische Hatay-Provinz angrenzt.

 

Idlib, Provinzhauptstadt und Provinz gleichen Namens, befindet sich in Händen der Kämpfer der Nusra-Front und ihrer Verbündeten, die sich zu einer losen Verbindung zusammengeschlossen haben, und sich Heer der Eroberung nennen.

 

Vorstoss Richtung Aleppo


Die Provinz Idlib steht zurzeit unter dem Druck der sowjetischen Kampfflugzeuge und Bomber. Die Landstreitkräfte Asads umgehen die Provinz südlich. Es steht zu erwarten, dass diese Truppen, wenn sie einmal die Süd-Nord-Achse voll beherrschen, in Richtung Norden umschwenken werden, auf die geteilte und umkämpfte Millionenstadt Aleppo hin.

 

Schon jetzt hat die Vorbereitung der Offensive gegen Aleppo durch die russische Luftwaffe begonnen. Sie bombardiert zur Zeit alle Dörfer, die von Anti-Asad-Gruppen beherrscht sind, im Raum zwischen Aleppo und Hama. Viele dieser Ortschaften waren bis heute Zufluchtsorte von Teilen der syrischen Bevölkerung, die aus den Kampfgebieten geflohen waren. Ihre Bevölkerung ist daher dichter als in gewöhnlichen Zeiten.

 

Die Bombardierungen sind rücksichtslos und zerstörerisch. Waffen mit weiter Flächenwirkung werden eingesetzt: Bomben und Geschosse, die Explosivkörper verstreuen (Cluster-Munition) oder, noch teuflischer, Geschosse und Raketen, die zuerst Gaswolken bilden und diese dann zünden, wenn sie weit ausgebreitet sind. Sogar Spitäler und Kliniken fallen den Bombenangriffen zum Opfer.

 

Eine neue Fluchtwelle


Dies hat oft schon im Vorfeld der eigentlichen Landoffensive zur Flucht der Bewohner geführt. Zwischen 50’000 und 100’000 Menschen irren zurzeit auf den kahlen Feldern und zwischen Olivenbäumen im Freien umher. Sie versuchen die türkische Grenze zu erreichen, obwohl sie wissen, dass diese geschlossen ist. Bisher war es meistens so, dass die Grenze geöffnet wurde, wenn sich eine grössere Zahl Flüchtlinge an die Stacheldrähte drängte.

 

Menschenschmuggler sollen für die Passage über die türkische Grenze dem Vernehmen nach etwa 300 Dollar pro Person fordern. Die wenigsten der Flüchtlinge vermögen dies zu bezahlen. Manche der Familien senden einen der Ihrigen aus, die Kräftigsten und Entschlossensten, Männer und Frauen. Sie gehen mit dem Auftrag, den langen Weg nach Europa, vor allem nach Deutschland, zurückzulegen. Wenn es ihm oder ihr gelingt, dort Fuss zu fassen, hofft ihre Familie, dass der Ankömmling ihr helfen wird, ins Asylland nachzukommen.

 

Dies spielt sich im Raum südlich von Aleppo ab. Falls die Offensive der syrischen Armee die Stadt erreichen sollte und es dort zu einem Verzweiflungskampf zwischen Angreifern und den Verteidigern kommt, die sich gegen Asad auflehnen und welche die östliche Hälfte der Grosstadt besetzt halten, wird dies eine weitere Fluchtwelle auslösen. Personen und Familien, die bis heute unter den Fassbomben der Regierung ausgeharrt haben, werden sich gezwungen sehen, die Flucht zu ergreifen, um ihr nacktes Leben zu retten. Wie viele Zehntausende dies sein werden, ist noch nicht abzuschätzen.

 

Kurdenkrieg an der türkischen Grenze


Während dem spielt sich nördlich von Aleppo in der breiten Grenzzone entlang der türkischen Grenze ein weiterer Krieg ab. Dort gibt es vier Hauptkräfte, die einander bekämpfen: Nusra und Verbündete wehren sich gegen IS, der aus Osten vorstösst. Die Kurden suchen, ihre drei Enklaven an der Grenze zu einem zusammenhängenden Streifen zu vereinigen, den sie Rojawa nennen. Die Türken wollen dies über ihre Grenze hinweg verhindern.

 

Zwei der drei Kurdenkantone sind schon verbunden, Qameschli im Osten mit Kobane im Zentrum, doch Afrin, der dritte Kanton am Westsektor der Grenze, bleibt isoliert. Die Türkei hat gelobt, sie werde alles tun, dass dies so bleibe. Sie hat die Kurden gewarnt, sie werde einschreiten, wenn sie den Euphrat nach Westen hin überqueren. Sie hat aber auch – wie die türkischen Behörden selbst zugeben – am 26. Oktober Tell Abyad beschossen, die syrisch-kurdische Grenzstadt, welche die Kurden im Juni IS entrissen haben. Tell Abyad ist das Verbindungsglied zwischen Kanton eins und Kanton zwei, Qameschli und Kobane.

 

Ankaras, Asads und Amerikas Terroristen


Für Ankara sind die syrischen Kurdenkämpfer Terroristen, weil sie eng mit den türkischen Kurden der PKK verbunden sind. Für die USA, Verbündete der Türkei, sind die syrischen Kurdenkämpfer jedoch Verbündete gegen IS und zwar die wirksamten von allen.

 

Als der Kampf gegen IS um Kobane tobte (September 2014 bis Ende Januar 2015), haben die amerikanische Luftwaffe und deren Verbündete die Kurden mit Hunderten von Luftschlägen unterstützt. Seither, so sagen die syrischen Kurden, sei allerdings die amerikanische Hilfe zurückgegangen, obwohl die syrischen Kurdenkämpfer nach wie vor gegen IS im Kampf stehen. Sie behaupten sogar, sie bereiteten sich mit einer Gruppe arabischer Verbündeter darauf vor, von Tell Abyad südlich nach Raqqa vorzustossen.

 

Doch IS beherrscht grosse Teile des Grenzgebietes, das sich südlich des kurdischen Streifens erstreckt: vom Tigris bis zum Euphrat und westlich über den Euphrat hinaus, Ausgenommen sind nur die kurdischstämmigen beiden Kantone.

 

Nördlich von Aleppo stösst IS mit den anderen Rebellengruppen zusammen, mit Nusra und deren Verbündeten. Weil diese Gruppen in den letzten vier Wochen zu Zielen der russischen Luftangriffe geworden sind, wurden sie geschwächt. Was IS erlaubte, einige der seit Monaten gegen IS gehaltenen Nusra-Frontpositionen zu erobern.

 

IS versucht, trotz der russischen Luftangriffe, die sich manchmal gegen IS richten, aber gleichzeitig auch im Schutz dieser russischen Aktionen, die hauptsächlich auf die Feinde von IS abzielen, weiter vorzudringen, und seinen Rivalen von Nusra und Verbündeten, sowie Übrigbleibseln der FSA (Freie Syrische Armee), die sich in Ost-Aleppo halten, den letzten Zugang zur türkischen Nordgrenze abzuschneiden. Noch ist ihr Korridor westlich des Euphrat offen, doch er verengt sich.

 

Zwei Luftwaffen gegen Ost-Aleppo


Die Offensive der Asad-Kräfte hat die geteilte Stadt Aleppo selbst noch nicht erreicht. Doch die Bombardierungen der östlichen Teile der Stadt, durch die Russen aus grosser Höhe und durch die syrische Luftwaffe mit den Fassbomben, sind intensiver denn je. In diesen östlichen Stadtteilen halten sich noch etwa 300’000 Zivilisten zusammen mit den Milizen, die mehr oder minder gemeinsam kämpfen: Nusra-Front, FSA, Armee des Islams und viele andere. Nur noch ein enger Korridor führt aus dem Norden in die von ihnen beherrschten östlichen Stadtteile. Von Osten her drängt IS auf diesen Korridor hin, aus dem Westen die Armee Asads, welche die westlichen Teile der Stadt besetzt hält.

 

Zu diesem komplexen Geflecht der inneren Kampfgruppen kommen die Aussenmächte hinzu. Russland hilft Asad und seiner Armee und bombardiert jene Rebellenkräfte, die sich Asad entgegenstellen, in erster Linie die Kampfgruppen, die bisher Gebiete nahe dem Herzland Asads beherrscht haben: Nusra und Kampfgefährten in der Provinz Irbid, aber auch Finger von IS, die zu weit nach Westen vorstossen, nördlich oder südlich von Aleppo.

 

Türkische Eigeninteressen


Die Türkei bekämpft die Kurden der PKK, die in irakisch Kurdistan Zuflucht finden, aus der Luft am aktivsten. Doch bedroht die Türkei auch die syrischen Kurden, die ihrerseits Feinde von IS sind und als die erfolgreichsten Kämpfer gegen IS gelten. Sie erhielten bisher amerikanische Luft- und Waffenunterstützung.

 

Neuerdings geht die Türkei auch gegen IS vor, seitdem diese für den vernichtenden Bombenanschlag von Ankara vom 10. Oktober dieses Jahres als verantwortlich gilt. Es war dies der grösste Bombenanschlag, den die Türkei je erfahren hat. Er verursachte 102 Tote und über 500 Verwundete. Zuvor hatte die türkische Polizei die Aktivitäten von IS-Zellen auf türkischem Territorium ignoriert, obwohl sie sogar der Presse bekannt waren. Warum, ist undurchsichtig; vielleicht einfach, weil die IS-Anhänger Feinde der Kurden und auch Feinde Asads sind. Doch dies scheint nun vorüber zu sein. Neuerdings führt die türkische Polizei Razzien durch nicht nur gegen die PKK, sondern auch gegen IS.

 

Querverbindungen


Amerika und Verbündete bekämpfen IS und gelegentlich auch Nusra aus der Luft. Russland sieht alle Feinde Asads als Terroristen. Saudi-Arabien unterstützt mit von den USA gelieferten Waffen und eigenen Geldern alle Kampfgruppen, die gegen Asad stehen, besonders die islamistischen, mit der Ausnahme von IS. Zu den von Saudi-Arabien und den anderen Golfstaaten Unterstützten gehören auch die Verbündeten der Nusra-Front, wenn gleich nicht die Front selbst. Doch der Austausch von Waffen zwischen verbündeten Milizen, wie Nusra und dem Heer des Islams, lässt sich nicht kontrollieren.

 

Zwischen den Russen und den Amerikanern mit ihren Verbündeten aus Nato und Golfstaaten gibt es ein militärisches Abkommen, das vermeiden soll, dass ihre Flugzeuge einander irrtümlich angreifen. Etwas ähnliches dürfte auch zwischen der syrischen Luftwaffe und den Luftstreitkräften auf der amerikanischen Seite bestehen. Doch während das Abkommen mit den Russen öffentlich bekanntgegeben wurde, existiert jenes mit der Luftwaffe Asads nur de facto, über Geheimdienstkontakte, nicht offiziell.

 

Auf der Seite Asads kämpft neben den Russen die schiitische Miliz von Hizbullah. Iran hilft Asad mit Geld und bei der Organisation der syrisch-alawitischen Milizen, die nach dem Vorbild der iranischen Bassij von den iranischen Revolutionswächtern aufgestellt und ausgebildet werden. Zwei Generäle der Revolutionswächter sind in Syrien gefallen. Doch Iran streitet ab, dass die Revolutionswächter direkt in die Kämpfe eingreifen.