Sigmar Gabriel will seine Partei in die Mitte rücken - und dabei jene mitnehmen, die "Angst vor Migranten" haben
Von Tim Braune
Mainz. Sigmar Gabriel legt mit ein paar Sätzen los, die aufhorchen lassen. Es geht natürlich um die Kanzlerin. Angela Merkel habe endlich erkannt, dass die Menschen in der Flüchtlingskrise Fragen stellten. "Die Antworten, die sie zu geben versucht, sind uns Sozialdemokraten offenbar deutlich sympathischer als weiten Teilen ihrer eigenen Partei." Nanu, hat die SPD endgültig ins Merkel-Fan-Lager rübergemacht, seit die CDU-Vorsitzende auf dem Talkshow-Sessel bei "Anne Will" emotional für ihren Plan warb?
Nein. Für Gabriel ist der Satz der Türöffner seiner 56 Minuten langen
Rede in Mainz, mit der er versucht, seiner verunsicherten Partei einen
eigenständigen Kurs aufzuzeigen. Eine Art dritter Weg zwischen
"Notstand" und "Verfassungsklage" der CSU und Merkels "Wir schaffen
das". Die Union treibe ein doppeltes Spiel, das von "Hilflosigkeit"
geprägt sei. Die SPD dürfe da nicht mitmachen. "Lassen wir uns also
nicht ein auf dieses entweder ,Wir schaffen das' oder ,Grenzen dicht'
der CDU/CSU. Lasst die das debattieren", sagt Gabriel.
Die SPD muss ab durch die Mitte, könnte man auch sagen. Denn dort sieht
Gabriel mit Blick auf die Bundestagswahl 2017 die Chancen, um dem
25-Prozent-Gefängnis in den Umfragen zu entfliehen. Auch wenn er jetzt
moniert, dass seine Leute bei der "Mitte" immer aus einem "komischen
Reflex" heraus an die Agenda 2010 dächten - die umstrittenen
Arbeitsmarktreformen des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder.
In den vergangenen Wochen drängte sich der Eindruck auf, die SPD
verliere in der Flüchtlingsdebatte allmählich den Überblick, sie wisse
gar nicht, ob sie Merkel nun links oder rechts überholen solle. Einige
Spitzengenossen griffen die Kanzlerin frontal an, andere wie der Kieler
SPD-Ministerpräsident Torsten Albig gaben sich ihr verbal hin. Gabriel
hat sich das nun eine Weile angeguckt. Nun ist die Bühne im
Konferenzbereich des Fußballstadions von Mainz 05 der Ort, wo er alles
geradeziehen will - auch wenn eine von der SPD engagierte Moderatorin
sich den Zorn des Publikums zuzieht, als sie vom "FC Mainz" spricht.
Eigentlich war der Perspektivkongress von Gabriel auch angesetzt worden,
um für den im Sommer parteiintern angeschwollenen Frust über seine
Arbeit als Parteichef ein Ventil zu geben. Dann kam das
Flüchtlingsthema, das alles überlagert.
Noch am frühen Sonntagmorgen sitzt der Vizekanzler in seinem Hotel mit
Rheinblick allein am Frühstückstisch, arbeitet an seinem Manuskript. Was
er zwei Stunden später den mehr als 800 Anhängern präsentiert, wäre
auch als große Rede beim Dezember-Parteitag in Berlin durchgegangen, wo
er sich zur Wiederwahl stellt, sagen später viele Genossen. In der SPD
spüren sie, dass die Gefahr groß ist, in der Flüchtlingsstory gar nicht
mehr vorzukommen. Merkel und Seehofer haben die Hauptrollen, mit
verteilten Aufgaben. Da kann Gabriel als Erster nach Heidenau, ins
Flüchtlingslager nach Jordanien reisen oder mit höheren
Flüchtlingszahlen jonglieren - in Mainz nun über eine Million. Die SPD
tut sich schwer, durchzudringen.
Im März könnte es ihr passieren, dass sie in Rheinland-Pfalz und in
Baden-Württemberg aus den Regierungen fliegt. Gabriel kämpft. Die SPD
als Integrationspartei habe keine kleinere Aufgabe, als eine Spaltung
abzuwenden. "Wir müssen einen Riss durch die Gesellschaft verhindern.
Wir müssen sagen, wie wir das schaffen und Antworten für die
Wirklichkeit entwickeln." Niemand, der Angst vor Migranten habe, dürfe
ausgegrenzt werden: "Wir Demokraten und vor allem wir Sozialdemokraten
müssen denen zuhören, die nicht glauben, dass wir es schaffen, so viele
Menschen zu integrieren."
Neben den Appellen greift Gabriel das auf, was die Ministerpräsidenten,
Landräte und Bürgermeister der SPD wohl am dringendsten brauchen - Geld.
Die 4 bis 6 Milliarden Euro, die der Bund in der Krise überweist,
sollen dauerhaft fließen.
Für die Union und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ist die Ende
September vereinbarte Kopfpauschale je Flüchtling eine Herausforderung.
Die "schwarze Null" bis zur Wahl ist unter Druck. Wenn die Union ihr
zentrales Wahlversprechen von 2013 aufgeben müsste, hätten Gabriel und
die SPD ein echtes Pfund in der Hand. So weit will es die Kanzlerin
allerdings nicht kommen lassen.