»Trotz Kopftuch sehr intelligent« ReachOut stellt elf Geschichten zum Thema antimuslimischer Rassismus vor

Erstveröffentlicht: 
28.09.2015

Die Beratungsstelle »ReachOut« stellt in einer Broschüre erlebte Geschichten von Jugendlichen über antimuslimischen Rassismus vor - Rassismus und Diskriminierung finden nicht nur in der Zivilgesellschaft statt.

 

Vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) in der Moabiter Turmstraße steht eine behelmte Hundertschaft der Berliner Polizei. Antifaschistische Organisationen haben eine Demonstrationsroute von Wedding zum U-Bahnhof Turmstraße angemeldet. Zwischenstation ist das LAGeSo, das seit Wochen Zentrum der Diskussion über die in Berlin ankommenden Geflüchteten ist. Ein verschüchterter Junge geht auf einen der Polizisten in Kampfmontur zu. In gebrochenem Englisch fragt er, wo er schlafen könne, es fange gleich an zu regnen. Die Staatsmacht antwortet sinngemäß: »Das musst du selber wissen. Du hast doch auch die letzten Nächte irgendwo geschlafen.«

 

Situationen wie diese kennt Sanchita Basu zur Genüge. Seit 14 Jahren arbeitet sie als Bildungsreferentin bei der Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin und ist täglich mit den haarsträubendsten Geschichten rassistischer, fremdenfeindlicher oder antimuslimischer Gewalt konfrontiert. Regelmäßig gibt sie Workshops mit Schülern, Lehrern und Erziehern und stellt dabei fest, dass Lehrer in dieser Gruppe die unbelehrbarsten sind. Für viele gilt beispielsweise das N-Wort nicht als Beleidigung. Begründung eines Paukers: »Es steht doch im Duden«.

 

In einem Fall war ein schwarzes Kind von zwei weiblichen Mitschülerinnen rassistisch beleidigt worden. Der Junge wusste sich nicht anders zu helfen und trat um sich. Der Lehrer schaltete die Polizei ein. Der Vater suchte daraufhin das Gespräch sowohl mit dem Lehrer als auch mit der Schulleitung. Beide wollten nicht mit dem Vater reden. Sie sahen in dem Fall die Schuld bei dem Jungen, der sich ihrer Meinung nach zu unrecht provoziert sah und überreagiert habe. Speziell antimuslimische Diskriminierung sei in der Öffentlichkeit und bei Lehrern kein Thema. Sanchita Basu kann auch hier zahlreiche Beispiele aufzählen, etwa von einem Lehrer, der seine Schülerin mit den Worten lobte: »Sie ist trotz ihres Kopftuches sehr intelligent«.

 

Im Rahmen eines Projektes mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 15 bis 27 Jahren hat »ReachOut« eine Broschüre aus Interviews erstellt, die elf Geschichten von antimuslimischen Ressentiments gegen die Jugendlichen erzählt. Es fängt damit an, dass Lehrer die Namen der Jugendlichen falsch aussprechen, sagt Basu: »Damit berauben sie die Kinder ihrer Identität.«

 

Vorurteile, dass alle türkischen und arabischen Jungs Paschas seien und sich von weiblichen Lehrern nichts sagen lassen würden oder dass Mädchen mit Kopftuch zum Tragen gezwungen werden, seien unter Lehrern weit verbreitet. »Es gibt etwas, das nennt sich Pygmalion-Effekt«, sagt Sanchita Basu »das funktioniert in beide Richtungen. Sagst du einem Kind immer wieder, wie gut es ist, steigt das Selbstbewusstsein und umgekehrt.«

 

Auch sei es nicht ungewöhnlich, dass Lehrer sich bei ihren Benotungen auf die vermeintliche Herkunft der Kinder stützen. Einer Schülerin sei beispielsweise trotz eines sehr guten Notendurchschnitts keine Gymnasialempfehlung für die Oberstufe ausgesprochen worden. Begründung: »Auf dem Gymnasium können deine Eltern dich nicht mehr unterstützen«.

 

Rassismus und Diskriminierung finden jedoch nicht nur in der Zivilgesellschaft statt, wie die Geschichte eines Mädchens belegt. Sie erzählt, wie sie gemeinsam mit ihrem Vater kontrolliert wird, obwohl dieser regelmäßig, oftmals von denselben Polizisten am Südkreuz angehalten wird. Als sie widerwillig einen Polizisten anfährt und den Grund für die Personenkontrolle wissen will, wird sie aufgefordert, ihre Reisetasche in der Öffentlichkeit zu entleeren.

 

Grundlage für derartige Praktiken der Polizei ist der Paragraf 22 Absatz 1a des Bundespolizeigesetzes. Demnach dürfen Polizisten bei Verdacht der unerlaubten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland Papiere kontrollieren. An Bahnhöfen oder Flughäfen darf die Polizei daher jede Person kontrollieren, die »aufgrund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung« diesem Personenkreis zuzuordnen ist.

 

Regelmäßige »Verdachtsunabhängige Personenkontrollen« in Bahnhöfen und Flughäfen oder Phrasen, wie: »dafür sprichst du aber ganz gut deutsch« hat jeder der Jugendlichen schon erlebt.