Einwanderungsgesetz? Noch ein Gipfel? Die Kanzlerin muss sich in der Flüchtlingsfrage ungewohnt häufig korrigieren
Von Dieter Wonka
Berlin. Kanzlerin Angela Merkel steht nicht für große Visionen oder markige Ansagen. Ihre Politik von "Maß und Mitte", die immer wieder von Regierungssprecher Steffen Seibert in der Öffentlichkeit vertreten wird, ist pragmatisch, unaufgeregt und langfristig angelegt. Aus dem Klein-Klein der Tagespolitik hält sich die Regierungschefin gern heraus - und überlässt den Streit anderen. Nun stößt dieser Stil erkennbar an Grenzen, denn zu groß sind die Herausforderungen der gegenwärtigen Flüchtlingskrise, zu drastisch die nötigen Schritte. Immer klarer wird: Seit die Flüchtlinge die politische Tagesordnung bestimmen, geraten die Dinge zunehmend durcheinander.
Das beginnt schon mit den Zahlen. Wie viele Flüchtlinge werden denn nun
erwartet? Auf 800000 hatte sich die Bundesregierung kürzlich
verständigt. Der Ansturm der vergangenen Tage indes verunsichert die
Politiker, intern geht man inzwischen von 1,2 Millionen aus. Vizekanzler
Sigmar Gabriel (SPD) sprach gestern von einer Million Menschen, die zu
uns kommen werden. Die Debatte zeigt: Zu verlässlichen Prognosen ist man
in Berlin kaum in der Lage. Das heißt auch: Niemand weiß so recht, was
dem Staat an Anstrengungen - und an Kosten - abverlangt wird.
Wann soll man handeln? Noch vor einer Woche lehnte Merkel den Wunsch aus
Nordrhein-Westfalen und anderen Ländern ab, in einer Sonderkonferenz
die Lage zu besprechen. Der ursprünglich anberaumte Termin am 24.
September reiche aus. Gestern Morgen indes änderte die Kanzlerin ihre
Haltung, lud für heute zu einer Sonderkonferenz der Ministerpräsidenten
ein. Die frühe Terminsetzung geht auf Kosten einer gründlichen
Vorbereitung - aber auch Merkel wird wohl inzwischen klar, dass sie
keine Zeit zu verlieren hat.
Soll man über ein Einwanderungsgesetz nachdenken, das auch regelt,
arbeitssuchenden Menschen aus dem Balkan mehr Jobangebote in Deutschland
zu machen? Vor zwei Wochen noch hielt Merkel ein solches Gesetz für
nicht angebracht, sie wollte mit der SPD nicht darüber verhandeln.
Fraktionschef Volker Kauder äußerte sich ähnlich. Die bisherigen
Vorschriften reichten aus, meinten viele aus der Union.
Doch gestern nun kam wieder eine Merkel-Wende: Der CDU-Bundesvorstand
öffnete sich grundsätzlich für ein solches Gesetz - wohl auch als
Kompromisssignal an die SPD, die zuletzt immer lauter danach gerufen
hatte. Vorausgegangen war ein Meinungswandel auch an der CDU-Basis.
Mehrere Landesverbände, etwa auch Niedersachsen, riefen nach einem
solchen Gesetz.
Soll man die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien pauschal in Deutschland
willkommen heißen? Vor zehn Tagen erweckte Merkel den Eindruck, dies sei
so. Es hieß vom zuständigen Bundesamt, die in Ungarn angekommenen
Syrien-Flüchtlinge sollten direkt nach Deutschland kommen können - ohne
die nach dem Dublin-Abkommen eigentlich in Ungarn nötige Registrierung
und Prüfung des Asylbegehrens. Die deutschen Grenzen wirkten ständig
offen für die Verfolgten des Bürgerkriegs, tagelang wurde Merkel in den
Lagern und an den Außengrenzen als "Mutter Courage" gefeiert.
Aber diese Situation verstärkte den Sog noch - immer mehr Menschen
machten sich auf dem Weg nach Deutschland. Als Ende vergangener Woche
CSU-Politiker mehr oder weniger offen gegen Merkels Linie protestierten,
änderte sich die Haltung in der Bundesregierung. Am Sonntag verkündete
Bundesinnenminister Thomas de Maizière, Deutschland wolle die südlichen
Außengrenzen kontrollieren. Man wolle genau wissen, wer als syrischer
Bürgerkriegsflüchtling einreist - denn einige bezeichneten sich zwar als
Opfer des Syrien-Krieges, seien es in Wirklichkeit aber gar nicht,
erklärte der Innenminister.
Beobachter vermissen ein Gesamtkonzept für die angespannte Lage. "Ein
solches ist nicht zu erkennen", rügt beispielsweise die SPD-Linke Hilde
Mattheis. In SPD-Kreisen heißt es, über die mögliche Wiederaufnahme von
Grenzkontrollen sei schon vor drei Wochen gesprochen worden - auch über
neue Mutmaßungen über die Zahl der Zuwanderer, die nach Deutschland
kommen. Nur werde immer in verschiedenen Kreisen der Bundesregierung
darüber geredet, ohne dass diese Gespräche koordiniert abliefen.
Derweil wächst die Ungeduld, auch in der Union. Der Thüringer
CDU-Landtagsfraktionschef Mike Mohring, für sein zuweilen forsches
Auftreten bekannt, forderte im CDU-Bundesvorstand jetzt eine Rede der
Kanzlerin "zur Lage der Nation". Daraufhin ertönte plötzlich kräftiger
Applaus - eine Reaktion, die Mohring bisher nicht häufig erhalten hat.
"Es ist jetzt höchste Zeit dafür, den Menschen die wirkliche Lage in der
Flüchtlingsthematik zu erklären", sagt Mohring. Dieses Defizit
verspüren derzeit offenbar viele.
Spannend wird die Antwort auf die Frage, wie die Koalition sich bei
einigen Streitfragen verständigen wird. Aus der Union wird der Ruf laut,
die Sozialleistungen für jene Asylbewerber, die vermutlich nicht
anerkannt werden, spürbar zu kürzen. Das zielt auf jene Menschen aus
Balkanländern, die vermutlich nicht als politisch verfolgt anerkannt
werden - weil ihre Heimatländer längst auf dem Weg in die EU sind und
gemeinhin die Menschenrechte garantieren. Sollen diese Leute auch
abgeschoben werden? Tatsächlich bleiben bisher viele im Land, da
Abschiebungen immer wieder blockiert werden. In der Union wollen viele
das jetzt ändern, sie möchten die Hilfsbereitschaft für die
Kriegsflüchtlinge verknüpfen mit einem härteren Kurs gegenüber allen
anderen Asylbewerbern. Zu vermuten ist, dass die SPD sich darauf wohl
nicht einlassen wird.
Der Kurs in der Flüchtlingspolitik birgt Sprengstoff für die Große
Koalition, zu weit auseinander liegen die Hardliner auf beiden Seiten.
Aber: Es ist eine Krisensituation, und in solchen Momenten finden
Appelle an die nationale Verantwortung viel Gehör.
"Geld muss zu den Flüchtlingen"
Der Präsident des Bundesrechnungshofes hat an den Bund appelliert, besonderes Augenmerk auf die sachgemäße Verwendung der Mittel bei der Flüchtlingshilfe zu legen. Der Präsident der obersten Instanz für die Finanzkontrolle des Bundes, Kay Scheller, sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland, dem auch diese Zeitung angehört: "In der aktuellen Situation ist es wichtig, dass der Bund weiß, wie und wo seine Mittel in den Kommunen ausgegeben werden. Das Geld muss dort ankommen, wo es gebraucht wird: bei den Flüchtlingen." Zahlreiche Hilfsorganisationen und Kommunalpolitiker berichten über teils enorme Preissteigerungen bei allen Dienstleistungen und Gütern, die im Zusammenhang mit der Versorgung von Flüchtlingen stehen, zum Beispiel Container und winterfeste Kleidung.DW
Zustrom wird nur verlangsamt
Die Nachricht markierte am Sonntag einen dramatischen Schwenk in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung: Deutschland führt an der Grenze zu Österreich neue Kontrollen ein. Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Thema:
Was passiert genau bei den Kontrollen?
Da gibt es nach Angaben der Bundespolizei verschiedene Möglichkeiten. In
Zügen wird meist jeder einzelne Fahrgast kontrolliert. Auf den
Autobahnen und Bundesstraßen gibt es eher Stichproben: Entweder wird die
Fahrbahn auf eine Spur verengt, oder die Autos werden über einen
Parkplatz geführt. Schlagbäume gibt es aber nicht.
Verhindern Grenzkontrollen die Einreise von Flüchtlingen?
Wer auf deutschem Boden einen Asylantrag stellt, muss einreisen können.
Da deutsche Grenzkontrollen auf deutschem Boden stattfinden, dürfen
Asylantragsteller nicht zurückgeschickt werden. Es ist also nicht nötig,
dass Flüchtlinge sich zu Fuß über die "grüne Grenze" nach Deutschland
durchschlagen. Die Kontrollen können den Zustrom von Flüchtlingen also
verzögern - verhindern können sie ihn nicht.
Was ändert sich an den sächsischen Grenzen zu Tschechien und Polen?
Die Kontrollen entlang der grenznahmen Autobahnen sind bereits verstärkt
worden. An der A17 (Dresden-Prag) soll ein neuer Grenzposten
eingerichtet werden, die Bundespolizei nimmt insbesondere auch kleinere
Übergänge nach Tschechien wie in Schmilka oder Zinnwald ins Visier.
Derzeit würden Beamte auf der Autobahn "mitschwimmen" und
verdachtsabhängige Kontrollen vornehmen, teilte die Bundespolizei
gestern mit. Kilometerlange Staus wie an der Grenze zu Österreich werden
momentan nicht erwartet, da sich die Flüchtlingsstörme bislang nicht
nach Tschechien oder Polen verlagert haben. Für Deutsche, die in der
Grenzregion beispielsweise auf Märkten unterwegs sind, heißt das
allerdings: Sie müssen stets einen Ausweis dabei haben, und das gilt
auch für mitreisende Kinder.
Verbietet der Schengener Grenz- kodex jede Art von Grenzkontrollen?
Nein. Grundsätzlich sind nur systematische Grenzkontrollen verboten.
Stichproben sind stets erlaubt. Und bei einer "ernsthaften Bedrohung der
öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit" können auch
systematische Grenzkontrollen wieder eingeführt werden. Die
Schengen-Regeln werden dann nicht ausgesetzt, wie es oft heißt, vielmehr
werden Ausnahmebestimmungen der Schengen-Regeln angewandt (hier:
Artikel 25).
Ist der Schritt der Bundesregierung rechtmäßig?
Daran zweifelt derzeit kaum jemand. Wenn so viele Flüchtlinge auf einmal
einreisen, dass keine Registrierung möglich ist, kann man darin eine
Bedrohung der öffentlichen Ordnung sehen. Pro Asyl aber sagt:
"Flüchtlinge sind Schutzsuchende und keine Gefahr für die öffentliche
Ordnung." Die Grenzkontrollen seien daher rechtswidrig.cr/tl/ad