[Beirut: #YouStink] Es riecht nach einem Ende

#Youstink

Die #YouStink-Proteste werden entweder das libanesische Regime dem Mülleimer der Geschichte übergeben, oder selbst dort landen. Wir hatten verschiedene Hintergründe, wir waren uns nicht über vieles einig, doch wir nahmen uns zusammen die Strasse. Am 8. August versammelten wir uns, um unserer Unzufriedenheit mit der Handhabung einer Müllkrise Ausdruck zu verleihen, deren Geschichte 18 Jahre zurückgeht. Naameh, eine kleine Küstenstadt 20 km südlich von Beirut, fungierte als Mülldeponie der Hauptstadt seit 1997.

Die Bewohner von Naameh hatten schon seit Jahren die Schliessung der Müllhalde in ihrer Stadt durch Hunderte von Protesten gefordert und die Schliessung wurde schliesslich für den 17. Juli 2015 geplant. Als der Tag kam, drohten die Bewohner von Naameh mit direkter Aktion; sie schworen, die Einfahrt von Müllfahrzeugen in ihre Stadt mit allen notwendigen Mitteln zu verhindern. Ihre Skepsis ist bitterer Erfahrung geschuldet. Allein in den vorhergehenden 18 Monaten hatte die Regierung ihre Versprechen zweimal gebrochen, die Müllhalde zu schliessen. Die Müllhalde wurde mit Gewalt durch die Bewohner von Naameh unbrauchbar gemacht und da kein alternativer Plan existiert, türmt sich der Müll nun auf den Strassen Beiruts.

 

Es war nicht der erste Protest aufgrund der Müllkrise, aber gewiss der grösste. Über Tausend Leute versammelten sich am Märtyrerplatz an diesem Tag. Der Müll auf den Strassen Beiruts war inzwischen weggeräumt worden, doch die Regierung konnte sich noch nicht auf eine permanente Lösung für Beiruts Müllproblem einigen. Eine temporäre Lösung sei, so hatte man uns gesagt, gefunden worden, die Details diesbezüglich bleiben jedoch ein Rätsel. Es wurden Müll transportierende Lastwagen in verschiedenen Regionen des Landes gesehen, welche ihre Ladung im Schutze der Nacht in Täler kippten oder am Strassenrand deponierten. Der Protest zog eine bunte Gruppe an Leuten an, darunter zivilgesellschaftliche Aktivisten, Umweltschutz- und Studentengruppen, aber nicht nur, und eine beträchtliche Medienpräsenz. Interne Streitigkeiten begannen fast sofort, was keine Überraschung darstellen sollte. Die anwesenden Leute gehörten einem weiten Spektrum an politischen und ideologischen Lagern an, welche trotz allem in ihrer Verurteilung der trostlosen Versuche der Regierung vereinigt sind, eine permanente und nachhaltige Lösung zum Müllverwaltungsproblem des Landes zu finden.

 

Nachdem sie sich mehr als nur ein paar enttäuschende Reden der Organisatoren der „You-Stink“-Kampagne und anderer „zivilgesellschaftlicher Aktivisten“ angehört hatten, begannen einige der radikaleren Demonstranten auf dem Platz, die anwesenden Leute aufzufordern, mit ihnen zu versuchen, das Parlamentsgebäude auf Beiruts Sternplatz zu stürmen, welcher zu Fuss zwei Minuten von ihrem Versammlungsort entfernt war. Die Wut auf dem Platz war fühlbar und die Mehrheit der anwesenden Leute machte sich auf in Richtung Parlament. Uns standen Knüppel schwingende Soldaten der libanesischen Armee gegenüber. Da wir sahen, dass das Eindringen ins Parlament nicht möglich sein würde, gingen wir dann in Richtung Grand Serail, das Hauptquartier des Premierministers und der Ort, wo die libanesische Regierung ihre Sitzungen abhält. Das Gebäude war umzingelt und Dutzende von Aufstandsbekämpfungspolizisten dort waren überhaupt nicht zurückhaltend, wenn es darum ging, uns ihrer Gewalt auszusetzen. Wir gaben unser Projekt auf und gingen in Richtung der Stadtverwaltung Beiruts – wo wir nicht erwartet wurden. Dort gelang es uns fast, das Gebäude zu stürmen, doch wir wurden einmal mehr von der Polizei zurückgeschlagen.

 

Genau zwei Wochen später protestierten wir erneut. „You Stink“ war nun zu einer Massenbewegung geworden. An diesem Tag waren über 15000 Leute auf dem Riad-as-Solh-Platz. Die Bewegung hatte sich auch qualitativ verändert. Der Protest auf dem Märtyrerplatz zwei Wochen zuvor bestand zu einem sehr grossen Teil aus mittleren und oberen Mittelklassen der libanesischen Gesellschaft. Dieser Protest zwei Wochen später war wesentlich weniger ausschliessend, weniger bürgerlich. Viele Teilnehmer kamen aus den verarmten vorstädtischen oder inneren Quartieren Beiruts. Die Forderungen der Demonstranten hatten sich als Reaktion auf die Handhabung der vorhergehenden Proteste durch die Regierung ebenfalls verändert. Rufe nach Lösungen für Probleme wie Libanons berüchtigte Stromausfälle und Wassermangel standen nun an erster Stelle. Die Müllkrise war womöglich der Auslöser für diese Bewegung, doch sie war nur ein Symptom einer Krankheit, welche das ganze libanesische politische System plagt. Die Bewegung wird radikaler: Mit jedem Protest gerieten langsam aber sicher immer mehr die Wurzeln der Probleme ins Blickfeld, statt ihre offensichtlichen Erscheinungen. Inzwischen schreien etliche revolutionäre Parolen und verlangen offen den Fall des Regimes.

 

Der libanesische Staat ist nicht monolithisch. Er kann weder in einem Individuum, noch in einer Partei lokalisiert werden. Es ist nicht ein „Regime“ im traditionellen Sinn. Nach dem Ende des libanesischen Bürgerkrieges unterschrieben die Krieg führenden Parteien das Abkommen von Taif, welches einzig und allein dazu diente, die schon bestehenden sektiererischen Teilungen durch den müden Begriff der „gegenseitigen Koexistenz“ zwischen Libanons verschiedenen Sekten zu verstärken und zu verewigen. Dies garantierte der alten libanesischen Garde tatsächlich die Kontrolle über die nationale Politik in den darauf folgenden Jahren. Die gleichen Individuen, welche damals während dem Bürgerkrieg Anführer von sektiererischen Milizen waren, tauschten ihre Militäruniform gegen Anzug und Krawatte und stellten sich zur Wahl (oder wurden ernannt). Neben jenen, welche Blut an den Händen haben, betrat auch eine Klasse wohlhabender Geschäftsmänner mit mächtigen politischen Ambitionen während den 1990er Jahren die Bühne. Unsere Regierung heute wird von Individuen beider Gruppen und ihren Kindern und/oder Gefolgsmännern heimgesucht, sie schafften es, nahtlos zur Verfolgung ihrer privaten Interessen zusammenzuarbeiten. Somit fand die Hochzeit zwischen dem privaten Kapital und dem libanesischen Staat statt und die herrschende libanesische Klasse behandelt nun den Staat so wie Geschäftsmänner ihre eigene private Firma behandeln würden.

 

Es ist kein Geheimnis, dass die Machthaber im Libanon korrupt sind. Man müsste lange suchen, um einen einzigen libanesischen Bürger zu finden, der das bestreiten würde. Etliche libanesische Politiker häuften ein unglaubliches Vermögen an, während sie im Amt waren. Trotzdem werden die gleichen Namen und Gesichter immer wieder gewählt, wenn die Wahlsaison gekommen ist. Sie schaffen es, durch sektiererische Panikmache und, man kann es nicht anders nennen, offenkundigem Kauf der Wählerschaft, Loyalität zu erflehen. Es muss auch gesagt werden, dass eine brauchbare nicht-sektiererische politische Alternative, welche fähig ist, der Kontrolle der Bevölkerung durch die herrschende Klasse etwas entgegenzusetzen, erst noch entstehen muss und dafür sind nur wir selbst verantwortlich. Das gegenwärtige Parlament verlängerte allerdings auf verfassungswidrige Art und Weise ihr Mandat im Mai 2013 und dann noch einmal im November 2014. Im Moment sieht es danach aus, dass die Abgeordneten bis 2017 im Amt sein werden. Dies hatte dazu geführt, dass viele der gegenwärtigen Demonstranten argumentieren, dass die Erzwingung der Auflösung des Parlaments und die Abhaltung sofortiger Parlamentswahlen unsere Prioritäten sein müssen.

 

Am 22. und 23. August gab der libanesische Staat eine verzweifelte Antwort auf die Proteste. Gummigeschosse, Wasserwerfer, Tränengas, Schläge und scharfe Munition wurden eingesetzt, um die Demonstranten zu zerstreuen. Es wurde von „Eindringlingen“ gesprochen, welche angeblich von ihren politischen Parteien an die Proteste geschickt wurden, um eine gewalttätige Antwort der Polizei zu provozieren. Es ist wichtig, dieses Thema anzusprechen, denn viele Demonstranten verbreiteten diese Propaganda. Als jemand, der auf der Strasse war, finde ich diese Vorwürfe lächerlich. „Eindringling“ wird schlicht und einfach als Synonym für „arm“ gebraucht; das Wort sollte jene beschreiben, welche nicht den bürgerlichen Standards des Anstands und der Achtbarkeit entsprachen. Diese sogenannten Eindringlinge waren schlichtweg wütende, entrechtete junge Männer mit Arbeiterhintergrund, welche sich von dieser Bewegung viele Verbesserungen erhoffen konnten. Doch dank der bürgerlichen Angst vor echter Wut waren die libanesischen Sicherheitskräfte fähig, die vermeintliche Präsenz dieser Eindringlinge als Vorwand für Massenverhaftungen am 25. August zu gebrauchen.

 

Mehr als 90 Demonstranten wurden an diesem Tag geschlagen und verhaftet und sie hatten nicht das Recht, Anwälte und Ärzte zu konsultieren. Etliche waren schwer verletzt, einerseits aufgrund der Polizeigewalt am Platz, andererseits wegen den in den Polizeistationen erhaltenen Schlägen. Einer wurde erschossen und für tot gehalten, es kam jedoch heraus, dass er zwar schwer verletzt ist, aber noch lebt. Wir hielten unter dem Spital, wo er behandelt wird, eine Nachtwache; Hunderte kamen. Fast alle Verhafteten mussten als Form der Einschüchterung einen Drogentest über sich ergehen lassen. Ihnen wurde dann nach ihrer Entlassung von den Sicherheitskräften für diese Drogentests eine Rechnung zugestellt.

 

Am 23. August hatten die Organisatoren der „You-Stink“-Kampagne weitgehend die Kontrolle über die Situation auf der Strasse verloren. Da der Protest infiltriert sei, verlangten die Organisatoren, dass der Protest statt auf dem Riad-al-Solh-Platz auf dem nahe gelegenen Märtyrerplatz stattfindet. Ein grosser Teil der Demonstranten befolgte die Aufforderung der Organisatoren und entfernte sich vom Riad-al-Solh-Platz. Kurz darauf wurde die Polizei auf dem Riad-al-Solh-Platz gewalttätig, sie schoss scharfe Munition und griff uns mit Wasserkanonen und Tränengas an. Es wurde schliesslich die libanesische Armee aufgeboten und gepanzerte Fahrzeuge, Humvees, und Dutzende Infanteriesoldaten fielen ins „sichere“ Stadtzentrum von Beirut ein. Wir fanden später heraus, dass jene, welche „You Stink“ anführen, mit der Polizei zusammengearbeitet hatten, um die Demonstranten dazu zu bringen, sich vom Riad-al-Solh-Platz zu entfernen, damit die Sicherheitskräfte sich anschliessend um die verbleibenden „Eindringlinge“ kümmern können. Auf der Strasse gibt es bereits eine starke Gegenreaktion gegen diese Rhetorik. „Wir sind alle Eindringlinge“ ist zu einer populären Parole der Bewegung geworden, welche während den Protesten häufig auf Schildern und Transparenten zu sehen war. Der Begriff Eindringling selbst wird langsam von einem grossen Teil der Demonstranten zurückgewonnen, um von einer Schande zu einem Ehrentitel zu werden.

 

You Stink ist nicht die einzige Gruppe, welche diese Proteste mitorganisiert, doch sie hat die grösste Medienpräsenz. Mehrere linke Organisationen und Studentengruppen sind ebenfalls sehr präsent auf der Strasse. Das Sozialistische Forum verteilte z.B. an fast jedem Protest Flugblätter und äusserte sich regelmässig dazu. Es gibt ein starkes linkes Element in diesen Protesten, doch es ist bezüglich der ganzen Bewegung nicht vorherrschend. Es gab bis jetzt an jedem Protest Gesänge gegen die Banken, das Patriarchat und den Kapitalismus. Die Demonstranten sangen „Gegen die Autorität und das Kapital, unsere Sache ist eine Klassenfrage“ am 23. August auf dem Riad-al-Solh-Platz und „Nieder, nieder mit der Herrschaft der Banken“ war vorherrschend am 26. August als sich die Demonstranten vor der libanesischen Zentralbank versammelten. Die Klassendimension dieses Kampfes kann nicht übergangen werden.

 

Trotz der Existenz von vielen noch zu klärenden Widersprüchen gibt es Hoffnung für diese Bewegung. Dies ist die erste wahrhaft unabhängige libanesische Bewegung für eine Veränderung seit ich geboren bin und die Teilnehmer gehören jeder Sekte an. Die Identitätspolitik, welche normalerweise die politische Bühne im Libanon dominiert, muss in den Hintergrund treten in Anbetracht von Leuten, welche zusammenkommen, um für die direkte materielle Verbesserung ihrer Leben zu kämpfen. Diese Bewegung wird allerdings zum Scheitern verurteilt sein, wenn ihre „Anführer“ – d.h. jene, welche eine Plattform bekommen, um in ihrem Namen zu sprechen – weiterhin die Teilnahme von Angehörigen der Arbeiterklasse an diesen Protesten verhindern, indem sie sich mit den Sicherheitskräften gegen sogenannte Eindringlinge verbünden. Langfristig ist es klar, dass es nicht weniger als den kompletten Fall dieses Regimes, seiner Milizen und seiner andauernden sozioökonomischen Bedingungen braucht, um uns Gerechtigkeit zu bringen. Wir haben immer noch einen sehr langen Weg vor uns, um dieses Ziel zu erreichen, und diese Bewegung allein wird es womöglich nicht erreichen. Doch zumindest wird sie jenen zeigen, welche aus dem Parlament und dem Serail straflos handeln, dass wir keine passive, untätige Bevölkerung und dass ihre Handlungen nicht folgenlos sind.

 

Mahmoud Mroueh

 

Übersetzt aus dem Englischen von Kommunisierung.net.

 

Quelle