Zwei Nächte hintereinander wüten Rechtsradikale vor einer Flüchtlingsunterkunft. Hunderte Bürger stehen Spalier für sie. Die Polizei ist machtlos, die Politik fordert Härte - Eindrücke aus einer Stadt im Ausnahmezustand.
Von Hauke heuer, Jörg Schurig und Thorsten Fuchs
Heidenau. Kurz bevor die ersten Böller fliegen, bevor die Gewalt eskaliert und Dutzende Menschen verletzt werden, stehen die Männer da und trinken erst mal noch ein Bier. Braune Flasche, halber Liter, lässig in der einen Hand, die andere in der Hosentasche. Der Biertrinker trägt ein weißes T-Shirt, die Haare gar nicht so kurz. Ein anderer hat sich eine Deutschlandfahne ans Hemd geheftet. Aber sonst? Sieht es hier nicht nur nach rechter Szene aus. Die meisten, die an diesem Abend vor dem ehemaligen Praktiker-Baumarkt in Heidenau stehen, würden auch bei einem ganz normalen bierseligen Straßenfest nicht im Geringsten auffallen. Dann fliegen Feuerwerkskörper, Steine, Flaschen.
Die Bilanz dieses Wochenendes: Zwei Nächte voll Gewalt, mehr als 30
verletzte Polizisten. Es sind die schwersten ausländerfeindlichen
Krawalle der vergangenen Monate, die sich am Freitag und Sonnabend in
Heidenau bei Dresden ereigneten. Was das Entsetzen im Rest des Landes
und der ganzen Republik so besonders groß macht: Die Neonazis standen
hier nicht allein. Es waren auch die äußerlich Unverdächtigen, die sich
hier zu ihnen gesellten - und den Gewalttätern das Gefühl gaben, ganz in
ihrem Sinne zu handeln, wenn sie zu Böllern und Flaschen greifen.
Es beginnt am Freitag Nachmittag - nicht wirklich friedlich, aber doch
zumindest noch ohne physische Gewalt. Rund 1000 Menschen folgen einem
Aufruf der NPD der Initiative "Heidenau hört zu" und ziehen durch die
16000-Einwohner-Kleinstadt nahe Dresden. Ihr Ziel: der Protest gegen ein
Notquartier für 600 Flüchtlinge in einem ehemaligen Baumarkt. In der
ersten Reihe: Eine Mutter mit einem vielleicht zehnjährigen Mädchen in
gelbem Kleid, Familienausflug zur Anti-Flüchtlings-Demo, "Asylflut
stoppen" steht auf dem Plakat, das sie mit einer weiteren Frau trägt.
"Volksverräter" rufen Demonstranten, als sie am Haus des Bürgermeisters
Jürgen Opitz (CDU) vorbeiziehen. "Kanake", rufen einige, als sich ein
dunkelhäutiger Junge an einem Fenster in der Stadt zeigt. Noch zwei Tage
später wird es Opitz schwerfallen zu erklären, was da in seiner Stadt
geschieht. Von einer "Massenpsychose" wird er sprechen, von etwas
Wahnhaftem also, das sich mit Vernunft nicht mehr erklären lässt. "Mit
Heidenau hat das nichts zu tun", beteuert er, und dass sich so etwas
auch in jeder anderen Stadt zutragen könne. Der Bürgermeister möchte
seine Stadt in Schutz nehmen. Aber was er sagt, ist nicht wirklich
beruhigend.
Am Abend, nach der Demonstration, gehen Hunderte Menschen nicht nach
Hause, sondern stellen sich auf die andere Straßenseite vor den früheren
Baumarkt, wo an diesem Abend die ersten Asylbewerber eintreffen sollen.
Die Stimmung ist trunken, aufgeheizt, feindselig. Sprechchöre hallen
durch die Luft, in denen Flüchtlinge als "Schweine" oder "Viehzeug"
bezeichnet werden. "Eure Frauen werden alle vergewaltigt", ruft eine
Frau jüngeren Männern zu - Bedrohungsfantasien kursieren.
Es sind unwirkliche Szenen, die sich an diesem Abend am Rand von
Heidenau abspielen. Szenen, die den Eindruck erwecken, hier seien
Hunderte tatsächlich in einem Wahn gefangen. Nur dass sie diesen Wahn
für Wirklichkeit halten.
Als am späten Abend viele der Demonstranten wieder zu Hause sind,
blockieren 600 Gewaltbereite die Zufahrtstraße zum Flüchtlingsheim. Als
die Polizei die Straße räumen will, fliegen die ersten Böller. Die
Polizei reagiert mit Tränengas, doch es gelingt ihr nicht gleich, die
Angreifer zu vertreiben. Szenen einer Straßenschlacht - vor dem Gebäude,
in dem Flüchtlinge Schutz vor der Gewalt in ihrer Heimat suchen. 136
Beamte setzt die Polizei ein - nicht genug, um die Situation rasch in
den Griff zu bekommen. Als überrascht und überfordert schildern
Beobachter später die Beamten. Eine "neue Eskalationsstufe" beklagt ein
Sprecher. 31 Polizisten werden verletzt.
Am nächsten Tag, am Sonnabend, zieht die Polizei Konsequenzen, 170
Beamte setzt sie nun ein. Es gibt eine erste Demonstration für die
Flüchtlinge, 250 Menschen treffen sich nahe dem Baumarkt, unter ihnen
Politiker von SPD und Grünen. Aber auch die Rechtsextremisten kommen
wieder, 150 ziehen am Abend zum Flüchtlingsheim. Lange bleibt es ruhig,
obwohl die Polizei Unterstützer und Gegner der Flüchtlinge nur durch
eine Straße trennt. Dann, gegen 23 Uhr, geschieht etwas, was ein
Polizeisprecher später so schildert: "Es war, als habe jemand einen
Hebel umgelegt." Wie auf Kommando greifen die Rechtsextremisten an,
werfen wieder Steine und Böller. Zwei weitere verletzte Beamte, das ist
Bilanz dieses Abends - und die erschreckende Erkenntnis, dass die
Polizei die zweite Krawallnacht in Folge nicht verhindern konnte.
Jetzt blickt auch die Politik auf Heidenau. "Hier sind Grenzen
überschritten worden", sagt Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU),
als er am Sonntag Nachmittag mit weiteren Ministern nach Heidenau kommt.
Der Staat, kündigt er an, werde sein Gewaltmonopol durchsetzen. "Das
ist nicht unser Sachsen."
Es sind entschlossene Worte, die die Politiker wählen, in Heidenau wie
in Berlin, wo sich die Erklärungen bis in die Formulierung gleichen.
"Mit aller Härte", das sagen sowohl Innenminister Thomas de Maizière
(CDU) als auch Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD), müsse der Rechtsstaat
gegen solche Gewalttäter vorgehen. Doch manchem ist das nicht genug
Entschlossenheit. "Die Zögerlichkeit von Angela Merkel, hier die
richtigen Worte zu finden, kann ich nicht verstehen", sagt Katrin
Göring-Eckhardt, Fraktionschefin der Grünen. Tatsächlich bleibt die
Kanzlerin bis zum Abend in Sachen Heidenau stumm.
Am späten Abend dann kam es abseits des Flüchtlingsheims noch zu
schweren Ausschreitungen. Etliche linke Gegendemonstranten stürmten eine
Tankstelle, auf der sich rechte Asylgegner aufhielten. Es gab eine
schwere Schlägerei, die mindestens zwölf Verletzte forderte; sechs davon
vermutlich schwer. Die Polizei war sehr schnell zur Stelle, konnte die
Ausschreitungen aber nicht im Keim ersticken. Zuvor hatten sich noch
etwa 250 linke Gegendemonstranten friedlich vor der
Flüchtlingsunterkunft versammelt. Sie skandierten Willkommensgrüße für
Flüchtlinge. Die meisten waren schwarz gekleidet und teils maskiert.
"Kein Spielraum für Nazi-Schläger", hieß es auf Plakaten.
Nachgefragt ...
"Es hat zu lange an klaren Worten gefehlt"
Herr Lippmann, Sie waren Samstagnacht in Heidenau, wie haben Sie die Angriffe rechter Randalierer erlebt?
Der erste Angriff erfolgte alles andere als spontan. Das war
offensichtlich auf den Punkt vorbereitet worden. Nur mit einem enormen
Aufwand ist es der Polizei gelungen, die angreifenden Nazis
zurückzudrängen. Immer wieder haben kleinere Gegengruppen versucht, zur
Pro-Asyl-Demo zu gelangen. Die brutalen Angriffe der rechtsextremen
Randalierer waren in hohem Maße koordiniert.
Wer trägt die politische Verantwortung?
Seitens der Staatsregierung hat es beim Thema Asyl und beim Umgang mit
Flüchtlingen zu lange an klaren Worten gefehlt. Die chaotische
Kommunikation bei der Einrichtung neuer Unterkünfte bildet zudem einen
Nährboden für Ressentiments. Nun ist eine Symbiose zwischen "besorgten
Bürgern" und Neonazis entstanden. Das Ergebnis sieht man nicht nur in
Heidenau.
Kann die Polizei ihrer Aufgabe noch gerecht werden?
Ich habe das Gefühl, die Polizei in ganz Sachsen hat schon lange die
Grenzen ihrer Belastbarkeit überschritten. Das entstehende Signal ist
fatal: Die Polizei erscheint derzeit nicht mehr in der Lage, den Schutz
der Bürger jederzeit gewährleisten zu können. Die Polizeireform 2020 und
der damit verbundene Stellenabbau rächen sich gerade bitter. Dafür
trägt vor allem Innenminister Markus Ulbig die Verantwortung.
Was muss sich bei der Polizei ändern?
Man braucht kein Prophet zu sein, um zu sehen, dass eine Nazi-Demo in
der Nähe einer Flüchtlingsunterkunft eine massive Gefahr darstellt. Ich
erwarte, dass die Polizei bei solchen Aufmärschen mit einer starken
Präsenz vor Ort ist. Übergriffe müssen konsequent unterbunden und
verfolgt werden. Wenn man diese Sicherung nicht mit eigenen Kräften
hinbekommt, dann müssen Beamte aus anderen Bundesländern zum Einsatz
kommen. Oder es muss die Bundespolizei angefordert werden.
Interview: Johannes Angermann
... bei Valentin Lippmann (24), parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen im Landtag.