Die Flüchtlingszahlen steigen stark an, allerorten wird nach Notquartieren gesucht - die LVZ beantwortet zehn wichtige Fragen zum Reizthema Asyl
Weshalb steigen die Flüchtlingszahlen in diesem Jahr stark an?
Die Ursachen liegen zum einen in der weltweiten Zunahme an Krisen und
Bürgerkriegen, zum anderen an der wirtschaftlichen Lage in den
Herkunftsländern. Dies spiegelt sich auch in den Asylanträgen in Sachsen
wider: Jeder Fünfte stammt von Syrern - die die größte nationale Gruppe
unter den Flüchtlingen bilden -, gefolgt von Kosovaren, Albanern,
Mazedoniern und Serben. Diese Balkan-Gruppe macht insgesamt etwa 40 bis
45 Prozent aller Asylbewerber aus. Daneben stammen größere Gruppen aus
dem Irak, Afghanistan, Libyen, Eritrea sowie der Russischen Föderation.
Experten sprechen inzwischen von einer neuen Völkerwanderung: Weltweit
sind nach UN-Schätzungen 46 Millionen Menschen auf der Flucht - etwa
eine Million Menschen warten allein in Libyen auf eine
Mittelmeer-Passage.
Muss Deutschland jeden Flüchtling aufnehmen?
Ja - weil dies zu den rechtsstaatlichen Prinzipien gehört und in der
Verfassung entsprechend verankert ist. Dabei ist egal, woher ein
Flüchtling kommt, es besteht ein Anspruch auf eine menschenwürdige
Unterbringung. Im Lauf des Asylverfahrens kristallisieren sich
allerdings erhebliche Unterschiede heraus: Während etwa für Menschen aus
dem Bürgerkriegsland Syrien ein gestrafftes Verfahren gilt und diese
Asylbewerber zu fast 100 Prozent anerkannt werden, liegt die
Ablehnungsquote der Balkan-Gruppe bei nahezu 100 Prozent. Das heißt:
Diese Asylbewerber werden fast alle wieder in ihre Heimat geschickt. Die
Entscheidung liegt beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF),
was sechs bis sieben Monate dauert. Abschiebelager nur für die
Balkan-Gruppe, wie in Bayern und auch in Sachsen diskutiert, gelten als
rechtlich kaum haltbar und ethisch nicht vertretbar. Insgesamt gilt:
Bundesweit werden zwei von drei Asylanträgen abgelehnt, wobei der Balkan
und die Russische Föderation den größten Anteil ausmachen - die meisten
anderen Anträge sind also berechtigt.
Gibt es keine Möglichkeit, die Asylverfahren zu beschleunigen?
Beschleunigte Verfahren gelten bereits für Syrer. Ab September ist
geplant, Verfahren aus der Balkan-Gruppe zu vereinfachen, sodass nach
spätestens einem Monat eine Entscheidung vorliegt. Momentan wird mit
sächsischer Unterstützung an einer weiteren personellen Aufstockung für
das BAMF gearbeitet, damit die Anträge schneller bearbeitet werden
können.
Weshalb scheint Sachsen von der Entwicklung überrascht zu werden?
Zunächst einmal: Nicht nur in Sachsen, sondern im gesamten Bundesgebiet
nehmen die Flüchtlingszahlen stark zu und stellen die Krisenstäbe vor
immense Probleme. So wird beispielsweise in Thüringen nach einer vierten
Erstaufnahmeunterkunft gesucht und soll ein Bordell zum Asylheim
umgebaut werden, in Berlin campieren Asylbewerber vor Meldebehörden in
Parks. Sachsen hatte sich lange Zeit auf die BAMF-Prognosen verlassen -
und wurde von der Winter-Flüchtlingswelle quasi überrollt. Weil die
Prognosen der Realität hinterherhinken, ist der Freistaat zu eigenen
Schätzungen übergegangen. Das Problem ist: Allein im Juli und August
mussten fast 10000 neue Flüchtlinge untergebracht werden, so viele wie
im ersten Halbjahr 2015 (erstes Halbjahr 2014: 3800). Mit einem Rückgang
ist aufgrund der weltpolitischen und wirtschaftlichen Situation in
nächster Zeit kaum zu rechnen. Das Innenministerium, das letztlich über
Erstaufnahmeeinrichtungen entscheidet, und der Staatsbetrieb für
Immobilien- und Baumanagement suchen deshalb händeringend nach
Unterkünften - und finden kaum geeignete Gebäude. Hinzu kommen interne
Kommunikationsdefizite und eine nicht selten mangelhafte
Informationspolitik.
Weshalb ist es so schwer, Asyl-Unterkünfte zu finden?
Wichtig ist zunächst die Unterscheidung in Erstaufnahmeeinrichtung, für
die das Bundesland zuständig ist, und Asylbewerberheim beziehungsweise
dezentrale Unterbringung, für die die Städte und Kreise verantwortlich
sind. Deshalb konnte der Freistaat Sachsen beispielsweise die Leipziger
Grube-Halle als Landesimmobilie in Beschlag nehmen; die Stadt hat dabei
kein Einspruchsrecht. Für eine Erstaufnahmeeinrichtung gilt: Damit das
BAMF eine Außenstelle - mit verwaltungstechnischer, medizinischer und
sozialer Betreuung - einrichtet, sind 500 Plätze nötig. Zudem müssen
Bau- und Sicherheitsvorschriften erfüllt werden. Außerdem muss eine
Verkehrsanbindung gegeben sein, damit sich Asylbewerber möglichst frei
bewegen können.
Warum fehlen so viele Plätze?
In Sachsen gibt es zwei dauerhafte Erstaufnahmeunterkünfte in Chemnitz
und in Leipzig (Friederikenstraße; hinzu kommt die geplante Unterkunft
in der Max-Liebermann-Straße). Dresden soll so schnell wie möglich
folgen. Aktuell wird auch auf dem Land nach Interimsquartieren gesucht,
da die Flüchtlingszahlen alle Erwartungen übersteigen.
Es stehen viele Schulen, Baumärkte oder Fabrikhallen leer - weshalb werden diese nicht belegt?
Allein aufgrund der Größe fallen leer stehende Schulen für die derzeit
akute Erstaufnahme aus, sondern kommen nur für die Kommunen infrage. So
stehen in Leipzig momentan zehn Schulen leer; zwei Häuser (Scharnhorst-
und Tarostraße) sollen bereits ab September als Flüchtlingsunterkunft
genutzt werden. Doch die Stadt hat auch einen großen Schulbedarf.
Fabrik- oder Messehallen wären für die Erstaufnahme möglich, sofern die
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt werden und eine Umrüstung ohne
größeren Aufwand - aufgrund der aktuellen Lage - möglich ist. Auch
Wohncontainer wären eine Möglichkeit, doch europaweit ist der Markt wie
leer gefegt.
Weshalb springt der Bund nicht ein - zum Beispiel mit verwaisten Kasernen?
In Schneeberg (Erzgebirge) ist dies der Fall, im Wesentlichen hält der
Bund sich allerdings zurück. Bislang wurde dem Freistaat Sachsen
offenbar nur ein einziges Objekt angeboten, das ernsthaft infrage
gekommen wäre: Eine noch belegte Kaserne. In der Diskussion ist auch
immer wieder das ehemalige Bundeswehr-Krankenhaus in
Leipzig-Wiederitzsch, hier waren die Verhandlungen mit Privaten
gescheitert und sollen auch nicht aufgewärmt werden.
Was passiert mit den Asylbewerbern, wenn sie die Notquartiere und Erstaufnahmeeinrichtungen verlassen?
Nach spätestens drei Monaten müssen Asylbewerber die Erstaufnahme
verlassen - und werden laut einem Verteilungsschlüssel in Städten und
Kreisen untergebracht. Leipzig muss 13,2 Prozent aller in Sachsen
ankommenden Flüchtlinge aufnehmen (Prognose für 2015: 5500). Die Folge
ist: Die meisten der Flüchtlinge, für die gerade ein Notquartier in der
Erstaufnahme gesucht wurde und die nicht sofort zurückkehren, werden im
Herbst in den Kommunen untergebracht - die Welle setzt sich also fort.
Mit welchen Kosten sind die steigenden Flüchtlingszahlen verbunden?
In Sachsen werden sich in diesem Jahr die Kosten für die Erstaufnahme
auf etwa 48 Millionen Euro verdoppeln. Hinzu kommt die Pauschale für
Kommunen: Gegenwärtig ist eine Aufstockung um zehn Millionen Euro auf
131 Millionen Euro avisiert. Da die meisten Flüchtlinge aber erst noch
von der Erstaufnahme in die Städte und Kreise verteilt werden, ist von
einer weiteren Erhöhung auszugehen. Andreas Debski