Der Zeuge muss die Geschichte rückwärts aufsagen

Erstveröffentlicht: 
07.12.2009

Kriminalistik. Die Polizei lügt die Bürger künftig an, um ihre Wahrhaftigkeit überprüfen zu können. Von Stefan Geiger

 

Als Zeuge auszusagen ist eine Bürgerpflicht. Der Zeuge muss erscheinen und er muss die Wahrheit sagen. Das kann unangenehm und belastend sein. Schon deshalb sollte der Bürger vom Staat erwarten können, dass er und seine Vertreter ihn als Zeugen angemessen behandeln, nicht über Gebühr beanspruchen, ihn nicht auszutricksen versuchen, vor allem aber ihn nicht zum bloßen Objekt ihrer kriminalistischen Arbeit machen. Das mag manchmal eine Gratwanderung sein, weil auch Zeugen lügen. Aber der offene und aufrichtige Umgang mit Zeugen sollte in einem Rechtsstaat das Prinzip sein.

 

Was die Praxis ist oder doch zumindest werden soll, beschreiben in wünschenswerter Offenheit der Prorektor der Polizeihochschule Villingen-Schwenningen, Professor Frank Adler, und sein Kollege, der Diplompsychologe und Professor Max Hermanutz, in der Fachzeitschrift „Kriminalistik". Sie wird von den Präsidenten des Bundeskriminalamtes und der Landeskriminalämter herausgegeben.

 

Adler und Hermanutz empfehlen den Polizeibeamten eine „strukturierte Vernehmung" von Beschuldigten, aber eben gerade auch von Zeugen. Durch diese Form der Vernehmung glauben sie, Lügner unter den Zeugen herausfischen zu können. Um das zu erreichen, wird den Zeugen manches zugemutet und auch vorgelogen.

 

Die beiden Experten empfehlen, die Zeugen zunächst nicht zur Sache zu vernehmen, sondern über „ein neutrales Thema aus ihrem persönlichen Lebensbereich" berichten zu lassen. Als Begründung für dieses seltsame Vorgehen soll den Zeugen gesagt werden: „Sie wissen, dass es nicht immer leicht ist, sich zu erinnern. Zur Verbesserung der Erinnerung benutzen wir momentan eine neue Vorgehensweise. Damit Sie die Methode kennenlernen, unterhalten wir uns zunächst über . . ."

 

Aus dem „Kriminalistik"-Beitrag ergibt sich eindeutig, dass diese Behauptung unwahr ist. Der Zeuge soll den Schwank aus seinem Leben nicht etwa erzählen, um seine Erinnerungsfähigkeit zu stärken, sondern um den Vernehmern aussagepsychologische Hinweise zu liefern, ob er später zur Sache die Wahrheit sagt. Diese Absicht wird ihm verschwiegen. Damit nicht genug: der Zeuge wird veranlasst, die Geschichte, die mit der Aufklärung einer Straftat nichts zu tun hat, gleich dreimal zu erzählen. Beim dritten Durchgang wird er aufgefordert, die Geschichte im zeitlichen Ablauf rückwärts aufzusagen.

 

Die in der Fachzeitschrift erklärte, dem Zeugen aber verschwiegene Absicht dabei ist, seine „kognitiven Fähigkeiten" abzuschätzen, um dann seine Wahrheitsliebe überprüfen zu können. Die Vernehmer unterstellen, dass der Zeuge bei einem Bericht, der nichts mit den Ermittlungen zu tun hat, die Wahrheit sagen wird. Und sie glauben, dass ein Lügner Schwierigkeiten hat, einen erfundenen Sachverhalt in umgekehrter Reihenfolge zu erzählen. Deshalb werden sie später seine Aussagen zur Sache unter „höheren kognitiven Anforderungen" mit seinen Fähigkeiten vergleichen, etwas Wahres rückwärts zu erzählen.

 

Erst wenn dieser Teil des Psychotests abgeschlossen ist, wird der Zeuge zur Sache vernommen. Er muss erneut alles mindestens dreimal, davon einmal rückwärts erzählen - bevor der vernehmende Beamte beginnt, ihn auf Ungereimtheiten in seiner Aussage oder auf Widersprüche zu anderen Ermittlungsergebnissen hinzuweisen.

 

Die neue Koalition in Berlin beabsichtigt übrigens laut Koalitionsvertrag, die Zeugenaussage auch bei der Polizei zur Pflicht zu machen. Bisher gibt es diese Verpflichtung nur für Aussagen vor dem Staatsanwalt oder Richter. So viel zum Umgang des Staates mit seinen Zeugen.