Aus der Traum von der Toleranz

Erstveröffentlicht: 
25.11.2014
Maximale Liberalität gehört zur Kreuzberger Identität. Doch die Dealer im Görlitzer Park haben es überreizt. Jetzt wird in Berlin gekämpft.

Von Jan Sternberg

 

Berlin. "Willst du Gras?" "Nein, danke." "The best, I have the best." "Nein." "Look here." "No."


Es ist ein Spießrutenlauf geworden, in den Park zu gehen. An den Eingängen stehen die Dealer dicht an dicht, im Park fahren sie mit Mountainbikes auf und ab, treten Passanten in den Weg. In den Seitenwegen suchen vornehmlich afrikanische Männer offensiv Blickkontakt zu jedem potenziellen Kunden. Nur wer zu Boden schaut, bleibt unbehelligt.


Außerhalb der verwahrlosten Grünflächen des Görlitzer Parks setzt sich der Spießrutenlauf fort. Als Fußgänger im Kreuzberger Kiez unterwegs zu sein heißt permanent abchecken, abwehren, ausweichen. Nur auf der Treppe zur U-Bahn ist es besser geworden, seit dort ständig Uniformierte stehen. Die Dealer sind auf die Straße ausgewichen, blockieren zumindest nicht mehr den Strom der Fahrgäste.


Saddiq aus Gambia steht im Park, ein schlanker Zwei-Meter-Mann in einer schicken wattierten Jacke. "Ich habe Abitur", sagt er stolz, "ich bin wahrscheinlich besser gebildet als viele der Weißen hier. Ich verkaufe nicht Drogen, weil ich blöd bin, sondern weil ich in Deutschland nichts anderes arbeiten kann." Es beginnt zu dämmern, Saddiq tänzelt unruhig hin und her. Seit einer Woche ist sein Geschäft anstrengender. Jeden Nachmittag kommt jetzt die Polizei. "Sie jagen uns und schlagen uns", beschwert er sich, "die Araber am Parkeingang aber lassen sie in Ruhe, obwohl die Härteres verkaufen."


Drogenkrieg in Kreuzberg? Vor einer Woche hat der Wirt einer Shisha-Bar zwei jugendliche Gambier niedergestochen. 70-mal, so berichtet es die lokale "taz", habe er zuvor die Polizei gerufen, weil es ihm das Geschäft kaputt macht, dass vor seiner Tür Gras verkauft wird. Die Polizei kam, die Dealer kamen wieder. Nun ist die Bar geschlossen, die Scheiben sind zersplittert. Nach der Bluttat kamen die Freunde der Angegriffenen und verwüsteten die Bar. Manche fragten, wann es den ersten Toten geben wird. Und die Berliner Politik wurde hektisch. Am heutigen Dienstag soll sich erstmals eine Taskforce unter Beteiligung von Polizei, Bezirk, Justiz und Ausländerbehörden zusammensetzen und ein Konzept zur Befriedung des Parks erarbeiten.


Seit Jahren wird im Görlitzer Park gedealt. Da muss die Taskforce erst einmal diese Fragen beantworten: Warum wird erst jetzt an einem Konzept gearbeitet? Und: Warum wurde so lange ein offensichtlich rechtsfreier Raum geduldet, mitten im boomenden Berlin?


Die Antwort auf beide Fragen lautet: Im Görlitzer Park, kurz und schön "Görli" genannt, wurde der Kreuzberger Traum von maximaler Toleranz bei gleichzeitiger dörflicher Gemütlichkeit geträumt. Die Hippiedroge Cannabis passte so gut zu dieser Identität, dass die meisten Anrainer lange akzeptierten, dass die Grüppchen von Dealern im Park standen. Lange störten sie ja auch niemanden. Sie saßen auf ihren Bänken, und nur, wer direkt auf sie zusteuerte, gab sich als potenzieller Käufer zu erkennen. Gekauft haben nicht wenige aus dem Kiez und die Touristen natürlich auch. Die Touristen wurden immer mehr, die Dealer auch. Die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann schätzt, dass inzwischen etwa 200 Drogenhändler in dem Park aktiv sind. Im Sommer hatte der Görli seinen Ruf weg: Hier kommt es nicht mehr drauf an, hier ist alles egal. Der Traum von der Toleranz war geplatzt.


Lorenz Rollhäuser, 61, lebt seit 20 Jahren im Kiez. Von unten dringt der Görli-Lärm in seine Dachwohnung. Das pralle Leben. Das mag er. Dennoch denkt Rollhäuser jetzt manchmal darüber nach, wie es wäre, "in eine entspanntere Gegend" zu ziehen. Entspannt - das war Kreuzberg immer und gleichzeitig an vorderster Front der Großstadtkonflikte: Miethaie, ­besetzte Häuser, Straßenschlachten. Und immer wieder Drogen, Armut, Integrationsdebatten. Heute sagt Rollhäuser: "Das waren alles deutsche Luxusprobleme. Wir haben doch nie was mitgekriegt vom Elend auf der Welt. Bis jetzt. Da draußen geht es ums Überleben. Da stehen Menschen, die nirgends auf der Welt einen Platz haben. Und nun sind sie hier." Da hilft Wut nicht weiter, sagt sich Rollhäuser, wenn er mit seinem Fahrrad durch das Dealerspalier schiebt. Das muss er jetzt aushalten.


Der Bezirk wollte einen mutigen neuen Umgang mit dem Flüchtlingselend und den Drogen finden. Ein Aushängeschild grüner Politik. Es wurde zum Desaster. Bürgermeisterin Herrmann hat das von Flüchtlingen besetzte Schulgebäude in Parknähe lange nicht räumen lassen. Nun will sie, aber darf nicht, ein Gerichtsbeschluss verbietet es. Die Kosten für den Wachschutz an der Schule sprengten den Bezirksetat. Dann wollte Herrmann den Cannabis-Schwarzmarkt durch ein Pilotprojekt des legalen Drogenverkaufs austrocknen. Der Antrag für einen Coffeeshop ist indes immer noch nicht gestellt. Und Herrmann bekannte jüngst: "Es gab Situationen, wo mir nichts mehr einfiel."


Lorenz Rollhäuser hat eine Anwohnerinitiative gegründet, die sich um den Park kümmern will. Er spricht nicht von "zurückerobern", denn er will jene nicht locken, die gerne eine Bürgerwehr gründen würden. Auch so ist es schwierig genug. Rollhäusers Gruppe trifft sich nicht mehr öffentlich, nachdem linke Aktivisten eine Veranstaltung gesprengt haben. Wer davon redet, den Park sicherer zu machen, sei ein Rassist und leiste der Gentrifizierung Vorschub, bekam Rollhäuser zu hören: "Es ist eine schmähliche Niederlage, dass wir uns nicht als Anwohner einig werden über ein Mindestmaß an Maßnahmen."


"Toleranz wurde zur Monstranz", sagt Timur Husein, "und dann zur Ignoranz." Er macht eine Pause und sagt es dann noch einmal kürzer: "Aus Toleranz wurde Ignoranz." Timur Husein ist in Kreuzberg geboren und aufgewachsen, er wohnt immer noch da, "einer der wenigen echten Kreuzberger", sagt er stolz. Der Vater kam aus der Türkei, die Mutter aus Kroatien, ungewöhnlich an der Kiez-Biografie des 34-jährigen Rechtsanwalts ist nur dieses: Husein ist Mitglied der CDU, Vorsitzender der Kreuzberger Union.

 

Die CDU ist eine Splitterpartei, hat nur vier von 50 Sitzen in der Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg. Husein kann sicher sein, dass sein Antrag abgelehnt wird, den er für die Sitzung an diesem Mittwoch eingebracht hat: "Keine Toleranz gegenüber Drogendealern - Görlitzer Park für die Bürger zurückgewinnen!", hat er ihn überschrieben. Er fordert, den Park nachts abzuschließen, die Zahl der Eingänge zu reduzieren und die verbliebenen durch Wachschützer kontrollieren zu lassen. Polizei und Ordnungsamt sollen dauerhaft im Park präsent sein. In den Moscheen und bei den türkischen Händlern im Kiez werde er gelobt für seine Vorschläge, sagt Husein. "Die wollen alle klare Kante. Die wollen auch Videoüberwachung."


Mittlerweile sucht auch das linke Bürgertum nach Auswegen aus der Misere. Martin Düspohl, der das Kulturamt leitet und kürzlich ein internationales Hearing zur kontrollierten Abgabe von Cannabis organisierte, wohnt direkt am Park und kommt gerade von einer USA-Reise zurück. "In New York sind die Parks nachts abgeschlossen", sagt er, "und niemand stört sich daran. Die Sauberkeit und den Ausgleich der Nutzungswünsche regeln dort Angehörige der Nutzercommunitys selbst - bezahlt und in Uniform. Die Respektlosigkeit anderen gegenüber, die gibt es dort nicht."


Respekt - das ist genauso ein Kreuzberger Wort wie Toleranz. Von Respekt spricht auch Lorenz Rollhäuser. Er will statt Polizisten "Parkworker" auf Patrouille schicken, "Leute, denen man Respekt entgegenbringt". Es wäre eine Kreuzberger Lösung. Saddiq aus Gambia wäre vielleicht ein Kandidat dafür. Aber für so eine Lösung könnte es bereits zu spät sein.


"Brauchst du was?" "Heute nicht." "Gras?" "Nein." "Für'n Zehner?" "Nein." "Koks? Pillen?"