YPG Pressesprecher Polat Can: Auch wir werden in der Koalitions-Kommandozentrale vertreten

Erstveröffentlicht: 
16.10.2014

Polat Can, der Pressesprecher der bewaffneten Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Rojava, offenbart in einem Exklusivinterview die offizielle Kooperation mit der von der USA geführten Anti-IS-Koalition und erklärt, dass auch ein YPG-Repräsentant in der Koalitions-Kommandozentrale vertreten sei.

 

Herr Polat, in Kobanê führt ihr seit fast 30 Tagen einen erbitterten Kampf gegen den IS und die ganze Welt schaut dabei zu. Wie sieht die Situation momentan in Kobanê aus?

 

An diesem Morgen wird der Widerstand Kobanês seinen 30. Tag erreichen und ein langatmiger, neuer Prozess wird beginnen. Jedem ist bekannt, dass der Widerstand, welchen die YPG an den Tag gelegt hat, unvergleichbar mit der Gegenwehr der anderen Kräfte in dieser Region ist, vor allem auch verglichen mit der, der irakischen Armee. Es gelang dem IS, Städte, die zehnmal so groß sind wie Kobanê, in 2-3 Tagen zu erobern, obwohl diese vor der Eroberung nicht derart massiv seitens des IS umzingelt wurden. In Kobanê jedoch mobilisierte der IS ihre Kräfte in der Region, zum Beispiel aus Orten wie Minbij, Al-Rakka, Dscharābulus und Tal Hamis, um anzugreifen. Wenn ich über immense Kräfte spreche, deute ich damit die Panzer, Kanonen, Großkaliber und auch die über zehntausend Kämpfer an. Innerhalb einer Woche wollten die IS-Milizen Kobanê einnehmen, sie waren aber nicht erfolgreich. Daraufhin wollten sie das Festtagsgebet in Kobanê verrichten, auch dieses Ziel erreichten sie nicht.

Seit letzter Woche konnte der IS einige Straßen im Osten von Kobanê kapern, jetzt wollen sie die ganze Stadt einnehmen, jedoch schaffen sie es nicht, vorzustoßen. Sobald sie versuchen, vorzurücken, erleiden sie große Verluste. Besonders in den letzten 2 Tagen vermehrten sich sowohl die Offensiven der YPG als auch die Flugangriffe der Anti-IS-Koalition, die dem IS-Terrorismus den Kampf angesagt hat. Der IS musste große Verluste einbüßen, viele Leichen und eine große Anzahl an Waffen sind in die Hände der YPG gefallen.

 

Kann man also demgemäß behaupten, Kobanê wäre tendenziell aus der Gefahr?


Nein, dies zu behaupten, wäre eine unverzeihliche Fahrlässigkeit. Denn immer noch wird ein beträchtlicher Teil von Kobanê seitens des IS besetzt und auch alle Dörfer in Kobanê sind okkupiert. Der Widerstand in und um Kobanê, den wir gestartet haben, wird am Leben gehalten. Der IS rekrutiert jedoch unaufhörlich und erhält neue Unterstützung. In jeder Hinsicht ist das für uns ein Kampf um Leben und Tod. Dementsprechend ist es unmöglich, zu behaupten, die Gefahr wäre hinüber.

 

Sie sprechen davon, dass der IS eine zehntausend Mann-Armee sei und immer mehr Kämpfer rekrutiert werden. Dagegen seid ihr eine sehr kleine Einheit. Erhält ihr auf irgendeine Art und Weise Unterstützung?


Kobanê steht seit einundeinhalb Jahren unter einem Embargo. Keinem der großen Einheiten aus den anderen Enklaven war es möglich, Kobanê zu erreichen. Die YPG leistet in Kobanê aus eigener Kraft Widerstand. Einigen jungen KurdInnen erreichten Kobanê aus dem Norden Kurdistans, primär über Suruç. Kleinere Gruppen eilten auch aus Efrîn und Cizîrê zur Hilfe.

Im Übrigen trafen junge KurdInnen aus Kobanê ein, die im Ausland leben, um ihre Stadt zu beschützen. Leider hat uns sonst keiner geholfen. Manche der kleineren Einheiten der FSA (Freie Syrische Armee) kämpfen hier unter dem Namen “Der Vulkan des Euphrats.” Das ist all unsere Kraft und die ganze Unterstützung, die wir bekommen. Unglücklicherweise erhielten wir keinen zusätzlichen, militärischen Beistand, weder vom Süden [hier ist von der Autonomen Region Kurdistans (KRG), Südkurdistan/Nordirak, die Rede - Anm. d. Red.] noch aus anderen Gebieten.

 

Was können sie uns über die Luftangriffe der Anti-IS-Koalition, welche seitens der USA initiiert wurde, erzählen?


In den letzten Tagen sind die Luftangriffe zahlreich und effektiv. Wir können ganz klar prognostizieren, dass der IS nie in Kobanê hätte einrücken können, wären die Luftangriffe vor 2 Wochen gestartet worden. Der IS wäre 10 bis 15 km vor der Stadt besiegt worden und Kobanê wäre jetzt kein Schlachtfeld.

 

Warum starteten Ihrer Meinung nach die Luftangriffe vor einer Woche und nicht vor zwei? Oder anders formuliert, was passierte denn in der letzten Woche, sodass die Luftangriffe intensiver wurden?


Die Koordination zwischen der YPG und der Koalition hat vor Kurzem begonnen. Ich will ehrlich sein, einige Regionalmächte, wie die Türkei, hinderten uns daran. Die Türkei tat alles, um uns den Zugang zur Hilfe und Luftangriffen zu verwehren. Am Anfang konnten die Jets nicht näher fliegen. Alle Handlungen, die innerhalb einer 10 km weiten Zone an der türkischen Grenze erfolgen sollten, erlaubte die Türkei nicht. Zudem gab es andere Probleme wie die Logistik und die Distanz. Ferner hatte die Koalition hinsichtlich einer Intervention mit der YPG zusammen, noch keinen konkreten Entschluss gefasst gehabt. Außerdem dachte jeder, dass Kobanê sowieso innerhalb von 1-2 Wochen fallen und schnell in Vergessenheit geraten würde, allerdings kam es nicht so. Dann haben sich aber Kurden aus der ganzen Welt und ihre Freunde sowie weltbekannte Intellektuelle gegen dieses Nichtstun der Koalition erhoben. Dieser Aufstand fand seinen Widerhall in der Politik einiger Länder und löste einen Druck auf die Koalition aus, sodass sie ihre Luftangriffe und Unterstützung intensivieren musste.

 

Welche Art von Hilfe? Es gab Aufrufe zur Waffenunterstützung. Ist eine solche Unterstützung erfolgt?


Bis jetzt können wir wirklich nicht von einer Bereitstellung von Waffen für Kobane reden. Die YPG versucht bestimmte Waffen, die für uns vonnöten sind, durch ihre eigene Bemühungen nach Kobanê zu bringen. Wir brauchen wirklich Waffen, nicht nur für Kobanê, auch für die Kantone Cizîrê und Efrîn. Waffen sind für uns genauso wichtig, wie die Kämpfer, die sich uns anschließen und mit uns zusammen kämpfen. Es ist für uns nicht einfach mit Kleinkalibern gegen den IS zu kämpfen, dessen Kämpfer bestens und v.a. mit schweren Waffen ausgestattet sind. Aber gegenwärtig können wir uns trotz unseren Kleinkalibern gegen den IS fruchtlos wehren und Kobanê verteidigen.

 

Sie sagten, die Koalition sei zu spät gekommen. Welche Beziehung hat YPG zur USA und zu den anderen Koalitionspartnern?


Wir hatten bereits vor dem Kobanê-Widerstand Beziehungen zu einigen Ländern inklusive zu der USA. Als aber Kobanê heftig angegriffen wurde, wurden unsere Beziehungen noch wesentlicher und ein Austausch unumgänglich. Die Existenz-bedrohende Situation, in der wir noch stecken, hat einiges beschleunigt. Da merkt man wieder, dass eine richtige Partnerschaft erst dann tatkräftig wird, wenn die Situation ernst ist und all die Beteiligten irgendwie eine Mitschuld tragen.

 

Können wir sagen, dass es zwischen der YPG und der Koalition eine offizielle Zusammenarbeit besteht?


Ja, wir arbeiten zusammen. Wir stehen mit der Koalition in direktem Kontakt, v.a. bezüglich des Nachrichtendienstes, der militärischen Angelegenheiten sowie Luftangriffen.

 

Stimmt das, dass sie die Koordination der Luftangriffe innehaben?


Ja. Unsere Spezialeinheiten geben uns die Koordinaten durch, die wir dann den Koalitionsstreitkräften weiterleiten. Daraufhin werden die Angriffe ausgeführt. Ich möchte ebenfalls erwähnen, dass wir zudem von bestimmten kurdischen Fraktionen, die uns heute noch unterstützen, profitieren konnten.

 

Einige Medien berichteten, dass diese Luftangriffe durch Peshmergas veranlasst wurden?


Nein, wir arbeiten ohne Mittelsmänner direkt mit der Koalition zusammen. Ein YPG-Vertreter höchstpersönlich sitzt in der Kommandozentrale, wo die Luftangriffe koordiniert werden, und vermittelt Informationen aus Kobanê. Ohnehin wären Angriffe aus militärischer Sicht unmöglich, würde die YPG nicht an Luftoperationen teilnehmen. Der Bodenkrieg dauert an und stündlich ändert sich die Situation vor Ort.

Ich möchte aber gerne erwähnen, dass einige kurdische Parteien und Persönlichkeiten in diesem Zusammenhang Anstrengungen unternommen haben und uns behilflich waren und es immer noch sind.

 

Eine Zeit lang haben weltweite Nachrichtenagenturen den möglichen Fall Kobanês thematisiert. Letzte Woche haben sogar einige bereits über den Fall der Stadt berichtet. Nun fällt auf, dass die amerikanische Presse eine andere Haltung einnimmt. Der Widerstand in Kobanê wird lobend mit dem berühmten Widerstand von Alamo verglichen. Wie beurteilen Sie diesen Wandel?


Wir haben 5 – 6 Amerikaner in den YPG-Reihen. Einer von ihnen wurde in einer Kampfhandlung verletzt. Die Tatsache, dass sie für uns kämpfen, ehrt uns. Nicht nur Amerikaner, auch Kämpfer anderer Völker befinden sich unter uns. Wir sind allen, die uns helfen und versuchen, die Aufmerksamkeit ihrer Politiker auf uns zu lenken, dankbar.

Insbesondere die Armeen vieler europäischer Länder und leitende Kommandeure üben großen Druck auf ihre Regierungen aus, damit diese die YPG unterstützen. Denn die Soldaten gehen nicht politisch motiviert an die Bekämpfung des IS heran. Sie verstehen sehr gut, welche Rolle wir spielen und wissen das zu schätzen.

Es stimmt, dass genau in diesem Moment die YPG gegen den IS kämpft, aber in Wirklichkeit gehört dieser Widerstand der ganzen Welt. Die Welt müsste den IS bekämpfen. Die Kämpfer des IS kommen aus 81 verschiedenen Ländern. Diese Länder werden den Terror, den der IS gegenüber uns walten lassen wird, verantworten müssen. Aus diesem Grund sollte jeder Verantwortung übernehmen. Wenn Kobanê fällt, eine Möglichkeit, die wir nicht in Betracht ziehen, wird der IS schnell andere Gebiete erobern wollen. Deshalb käme ein Sieg des Widerstands in Kobanê mit einem Sieg Kurdistans, der Koalitionskräfte, der USA und aller Menschen mit einem Gewissen gleich.

 

Während darüber berichtet wurde, dass die irakische Armee die Militärbasis in Anbar kampflos der IS abtrat, wurde die internationale Presse durch das Shingal-Massaker an êzîdîsche Kurden auf die YPG aufmerksam. Nun redet die ganze Welt über den außergewöhnlichen Widerstand der YPG in Kobanê. Können wir sagen, dass die YPG im Kampf gegen den IS sich zu einem wichtigen Akteur wird?


Auf den Bodenkrieg bezogen sind die Kurden die stärkste Kraft, die heute gegen den IS kämpft. Sei es die YPG oder die Peshmerga, es sind die Kurden! Aber allen voran löst eine kleine Anzahl junger Kurden, ausgerüstet mit leichten Waffen, die einen beispiellosen Widerstand gegen schweres Geschütz des IS leisten, Bewunderung aus. Ich behaupte entschieden: Wenn an unserer Stelle eine Armee bestehend aus 500‘000 Männern wäre, würden sie keine Woche in Kobanê Widerstand leisten können. Wir haben nicht ein Tausendstel der Ressourcen und Waffen, die der IS in Mosul, Tikrit und Anbar erbeutet hat. Aber wir haben einen Willen und einen Glauben, wir schützen unser Land. Genau aus diesem Grund muss die Anti-IS-Koalition die YPG als einen Hauptakteur im Kampf gegen den IS berücksichtigen. Viele hochrangige Beamte der Koalitionskräfte haben uns gratuliert und ihre Bewunderung für unseren Kampf gegen den IS ausgesprochen.

 

Gibt es noch zum Schluss etwas, das Sie der Welt sagen wollen?


Wir grüssen alle, die die YPG, Kobanê und die Kurden unterstützen. Wir möchten Millionen Kurden und deren Freunde, dessen Herze für uns schlagen und die seit Tagen nicht schlafen können, folgendes sagen; Wir werden kämpfen, bis unser letzter Mann fällt, bis unsere letzte Kugel aufgebraucht ist, bis zu unserem letzten Tropfen Blut. Wir werden diesen Widerstand mit einem Sieg, der des kurdischen Volkes würdig ist, vollenden und ihn dem stolzen kurdischen Volk und allen Menschen der Welt schenken.

Stalingrad und Alamo wiederholen sich in Kobanê. Wir rufen alle auf, Kobanê, die YPG und Kurdistan bis zum Tag unseres Sieges zu unterstützen.

 

Dieses Interview führte am 14/10/2014 in der Originalsprache MUTLU ÇİVİROĞLU (Twitter: @mutludc), freischaffender Journalist mit Sitz in Washington.