Der Bär zuckt noch, aber sein Fell wird schon verteilt. Die Grünen wollen nicht zu kurz kommen beim Ausweiden der angeschossenen FDP. Von der Öffentlichkeit bisher weitgehend unbeachtet, leistet sich die Partei seit Monaten eine ausufernde Freiheitsdebatte. Baden-Württemberger mischen mächtig mit.
"Das grüne Verhältnis zum Staat bleibt spannungsvoll, das zur Freiheit ist eindeutig", schrieb Toni Hofreiter, der Bundestagsfraktionschef, kürzlich in der "Zeit". Zu schön, um wahr zu sein. Die Flut der Papiere im Netz, die Interviews und Statements, die Blogs und Postings, die philosophischen Abhandlungen ("Kann Albert Camus den Freiheitsbegriff der Grünen inspirieren?") und die platten Parolen wecken Zweifel: Von viel zu vielen wird munter aneinander vorbei geschrieben, Widersprüche en masse, sich ausschließende Positionen mal aggressiv, mal erfolgsorientiert, dritte apodiktisch oder einfach nur als breiter Quark vorgetragen.
Spielte sich der Streit in der alten realen Parteitagswelt ab, wäre das Podium längst gestürmt, die Versammlung unter- oder abgebrochen. Ausgebuht worden wäre Winfried Kretschmann in früheren Zeiten von einem Teil der Delegierten für seinen Satz: "Die Partei muss sich strategisch und konzeptionell runderneuern." Virtuell dagegen findet er kaum ein Echo. "Wie kann eine einzige Wahlniederlage eine derartige Verunsicherung auslösen?", fragt sich ein Kommentator mit Blick auf das dürftige 8,4-Prozent-Ergebnis von 2013 und bekommt natürlich keine Antwort.
Runderneuern? Bei Autoreifen kommt dann die ganze alte Lauffläche in den Müll und wird ersetzt. Will Baden-Württembergs Ministerpräsident wirklich derart weitreichende Reparaturen anstoßen? Jedenfalls verrät die Formulierung, wie tief Frust und Verunsicherung sitzen, die Verunsicherung und nicht zuletzt der Wunsch, an der Macht zu bleiben. Dass die Grünen "im Brennglas der Bundestagswahl" als Verbotspartei dastanden, ist "ein harter Schlag" für Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer und die Finanzexpertin der Bundestagsfraktion Kerstin Andreae.
Die beiden Mitautorinnen des Papiers "Freiräume schaffen und schützen", die fest im Lager der Realos verankert sind, haben ihn bis heute programmatisch nicht verdaut. "Die Aufgabenteilung ist klar: Staat und Staaten sind verpflichtet, mit klarer Ordnungspolitik und Grenzsetzungen die ökologische Modernisierung einzufordern", schreiben sie in ihrem Papier, das neumodern Aufschlag heißt. Direkt davor steht zu lesen: "Wir müssen wieder mutiger werden und Deregulierung und Entbürokratisierung nicht mehr nur mit spitzen Fingern anfassen."
Schon wieder lässt die FDP grüßen. "Sollen wir uns wirklich so verbiegen, um gewählt zu werden?", will einer der vielen Kommentaren wissen. Ein anderer wird persönlich: "Liebe Kerstin, Du lebst in einem abgehobenen Elfenbeinturm." Begonnen hatte alles mit dem Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz im vergangenen Oktober ("Wir wollen zeigen, dass der Bundestag mit der FDP nur eine neoliberale Partei verloren hat, nicht aber eine Kraft für einen verantwortungsvollen Liberalismus") und mit einer 25seitigen Streitschrift von Robert Zion, Mitglied des NRW- Landesvorstands. Der gelernte Koch und studierte Sozialpädagoge gibt seinen Grünen mit ihren 60 000 Mitgliedern bundesweit "noch eine Chance" und dazu den reichlich unbescheidenen Rat, "eine nicht mehr erneuerungsfähige Sozialdemokratie als progressive Kraft abzulösen". Noch bemerkenswerter das neue Ranking des "Dreiklangs von Ökologie, Gerechtigkeit und Freiheit, der am Ende nur die Freiheit selbst als oberstes Ziel haben kann". Schöner könnte es der ADAC auch nicht sagen.
In vier Kapiteln 91 Mal das Wort "Freiheit"
Auch ein buntes Häuflein aus professionellen Politikberatern, Bundestagsabgeordneten und Fraktions- oder Wahlkreismitarbeitern, - zu denen sich ein früherer baden-württembergischer Landesvorsitzender gesellt, der inzwischen bei der Sarah-Wiener-Stiftung arbeitet, - hat sich früh mit einer Abhandlung eingemischt und will "unsere Freiheitserzählung wieder entfalten und unsere Politik als Angebot an die Menschen gestalten und kommunizieren". In vier Kapiteln kommt das Wort "Freiheit" 91, das Wort "Steuern" oder "Finanzierung" oder "Umverteilung" dafür kein einziges Mal vor.
Einer der Autoren nimmt inzwischen Abstand und nennt die ganze Debatte ein Spektakel, in dem der aktuelle Akt den Titel trage: "Das Erbe der FDP." Und er plaudert aus dem Sandkasten: "Als unsere Schreibgruppe das Freiheitspapier in Angriff nahm, war es uns ein besonderes Anliegen, flügelübergreifend zu arbeiten." Noch ein "Aufschlag", der sich allerdings "partikularen Flügelinteressen entziehen sollte - schon alleine um dessen Missbrauch als brandneues Vokabelverzeichnis für die ewiggleichen Streitereien zu verhindern". Jetzt hat ihn der Verdacht beschlichen, die Partei wolle mit diesem Prozess doch bloß "der rettende Hafen für desillusionierte ehemalige FDP-Wähler werden".
Ohnehin musste der Ansatz, flügelübergreifend zu arbeiten, misslingen, denn von dem einen Flügel gibt es nur noch den Stumpf. Die Grünen hatten in ihrer Geschichte etliche Austrittswellen zu verkraften - immer gingen vorrangig Linke, und die anderen blieben. Die Folge: Die immer weiter sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich ist anders als in der Gründungsphase und in den Jahren danach aktuell bestenfalls ein Randthema; Weissagungen alter Fundis, die Grünen würden irgendwann als Öko-FDP landen, kommen ihrer Erfüllung bedenklich nahe; Umverteilung wird von vielen heute in die gefährliche Nähe verabscheuungswürdiger staatlicher Eingriffe gerückt.
Zwei smarte Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung wollen Gerechtigkeit nicht nur als Verteilungsgerechtigkeit definieren. Es gehe "sehr wohl um die Abwehr staatlicher Eingriffe, gleichermaßen aber auch darum, die freie (!) Verwirklichung der Potentiale zu ermöglichen". Es geht den Autoren um Teilhabe, Bildung, gutes Leben und zivilgesellschaftliches Engagement, die heikle Frage, woher das Geld kommen soll, um dies alles zu finanzieren, bleibt außen vor.
"Statt auf Bußpredigten und Verbote sollten wir vor allem auf Eigeninitiative, Erfindungsreichtum und Unternehmergeist setzen", meint auch Ralf Fücks, Chef der Heinrich-Böll-Stiftung. Für ihn ist wichtig, die Allianz von Ökologie und Demokratie gegen die angeblichen Gefahren des Autoritarismus zu schützen. In den fast 35 Jahren ihres Bestehens hat die Partei tatsächlich nicht wenig erreicht durch Überzeugungsarbeit. Nun aber im Stile von Westerwelle, Lindner und Co. Verbote pauschal als demokratiewidrig zu denunzieren, ist realitätsfern und entzieht obendrein jeder Elterninitiative, die vor der örtlichen Kindertagesstätte für Tempo 30 kämpft, oder der Bürgerschaft, die Nachtflugverbot erstreitet, die moralische Legitimation.
Natürlich haben bereits Gremien getagt. Einige Kreisverbände mahnen die Berücksichtigung der sozialen Komponenten von Freiheit an. Mindestlohn oder Grundeinkommen seien grüne Themen, erinnert eine Stadträtin aus Hannover. Die müssten aufgenommen werden in den Freiheitsdiskurs, "ansonsten werden wir als FDP mit Fahrrad wahrgenommen". Der Label-Versuch Freiheit sei "so hilfreich wie ein Kropf", heißt es im Beitrag zweier ostdeutscher Mitglieder, nach Jahrzehnten der Vereinnahmung durch die FDP transportiere es vor allem die Idee des Egoismus des Einzelnen. Eine neue, positivere Bewertung des Begriffes anzustreben, ist "ein utopisches Unterfangen".
Ein Lob immerhin verdient die Diskussion: Es gibt kein Drängen und kein Schieben, schon gar kein Machtwort, wie es in anderen Parteien, allen voran der Union, von ganz oben längst gesprochen wäre, keine Maulkörbe und keine Denkverbote. Selbst abhängig Beschäftigte können sich ungeniert und offensiv zu Wort melden. So der Freiburger Forschungsexperte Thilo Westermayer, der in der Stuttgarter Landtagsfraktion arbeitet. Er stellt sich klar gegen Bauer und Andreae, beklagt, dass die beiden die "sozialstaatliche und damit materielle Seite von Freiheit" nicht im Blick haben und gibt die Losung "Ohne Sozialstaat keine Freiheit" aus: "Der Steuerwahlkampf war ein Versuch der Ehrlichkeit, jedenfalls hab' ich es so verstanden."
"Wir sollten die liberale Partei in Deutschland sein"
Weil so viel Ehrlichkeit 2013 so wenig Prozente gebracht hat, ist jetzt erst einmal Schluss damit. Die Grünen sind endgültig angekommen in der Welt derer, die ihre Ämter liebgewonnen haben. Minister und Ministerinnen sitzen inzwischen in fast der Hälfte der 16 deutschen Landesregierungen. Und weil das Sein bekanntlich das Bewusstsein bestimmt, schielen die besonders intensiv nach der FDP-Wählerschaft. "Wir sollten die liberale Partei in Deutschland sein", empfiehlt der Hesse Tarek Al-Wazir. "Wir sind auch für Liberale wählbar", lockt Eveline Lemke aus Rheinland-Pfalz.
"Wir müssen einfach ein Stück wirtschaftsnäher und wirtschaftsfreundlicher werden", verlangt Winfried Kretschmann, "weil unsere Industrie im harten globalen Wettbewerb steht." Und von Steuererhöhungen will er nichts hören, weil solche Diskussionen "nur die Leute ins andere Lager" treiben. Das glatte Gegenteil steht im Grundsatzprogramm, dessen Lektüre der frühere Bundesvorsitzende und Heidelberger Landtagsabgeordnete Reinhard Bütikofer dieser Tage allen Beteiligten dringend rät: Freiheit und Selbstbestimmung brauchten "eine gerechte Eigentumsordnung" und "eine gerechtere Verteilung von Steuerlasten".
Unklar ist, wie der vielstimmige Chor einmünden könnte in ein "Programm der Zukunft", das der Bundesvorstand kürzlich auf seiner Klausur in Potsdam diskutierte: "Freiheit" und "Gutes Essen" sind für die Führung die ersten Schwerpunkte in Vorbereitung der Bundesdelegiertenkonferenz im November in Hamburg. Und die geschrumpfte Bundestagsfraktion ("Uns geht's um Ganze") lädt für nächstes Wochenende für einen Tag nach Berlin. Auf dem Flyer symbolisiert ein blondmähniges Wesen unbestimmten Geschlechts, einsam durch die Prärie reitend, die Sehnsucht nach Unabhängigkeit.
Vier Dutzend Referenten und zwölf Zwei-Stunden-Foren werden die Materie von oben und unten beleuchten, von hinten und vorn. Zur Vorbereitung steht ein Check im Netz. "Welcher Freiheitstyp bist Du?", heißt die Frage aller Fragen. Nach 22 Antworten stehen fünf Kategorien zur Auswahl: Ökodiktator, Ökospießer, Kompromissler, Anarchist oder Soziopath. Auch ein Spiegelbild für den Zustand einer Partei, deren führende Köpfe sich - in der realen Welt - aktuell die Freiheit nehmen, Wahlergebnisse von unter sechs Prozent in Sachsen und Thüringen "als Rückenwind" schön zu reden.