Wir dokumentieren einen Artikel über die Lage in der Ukraine aus dem Russischen von Rosa Wechselberg.
Viele zeigen sich seit einigen Tagen über die Werchowna Rada (Anm. d. Ü.: das ukrainische Parlament) empört. Zunächst hat sie eine Resolution verabschiedet, in der sie unrechtmäßig der Exekutive (Anm. d. Ü.: in erster Linie dem Repressionsapparat) die Aufgaben diktierte (hier besteht nur ein formeller – und kein inhaltlicher – Fehler). Durch eine weitere Resolution schickte sie Janukowitsch in den Ruhestand (während Juristen über die komplizierte Prozedur, wenn sie rechtmäßig umgesetzt wird, berichten). Danach übernahm sie unbezwungen die Führung der staatlichen Exekutivbehörden. Anschließend unterjochte sie sich auch die Judikative durch weitere Resolutionen und bestimmte somit über die Gefängnisinsassen und ihre Freilassung. Die Juristen, selbst diejenigen, die mit der Revolution sympathisierten, fluchen über diese Handhabung und bezeichnen das als Willkür.
In Wahrheit ist hier nichts Verwunderliches. Gerade dieses Verhalten der Rada macht es in der Tat möglich von einer Revolution zu reden – im Unterschied zu den Geschehnissen von 2004 (A. d. Ü.: die ukrainischen Präsidentschaftswahlen sind damit gemeint). Der Unterschied besteht darin, dass dieses mal ein Bruch mit dem bisherigen Rechtssystem stattfand. Dem Wesen nach wurde hier ein Regierungsorgan geschaffen, das die drei Instanzen der Gewaltenteilung zu einem Ganzen vereinigt. Nur erhob man diese Gewalt nicht zu einem Konvent oder Sovnarkom (Anm. d. Ü.: der Rat der Volkskommissare, die Regierungsform der UdSSR zwischen 1917 und 1946), sondern führte die bereits existierende Werchowna Rada fort. Die Form bleibt dieselbe, doch der Inhalt verändert sich.
Warum wurde ausgerechnet die Rada, diese Versammlung von Oligarchen und Bestechlichen, zu unserem Konvent? Warum nicht die Arbeiterräte oder wenigstens irgendwelche Komitees vom Maidan? Tja, das ist einfach. Die (bürgerliche) Revolution wird von ihrer Hauptantriebskraft bestimmt. Die siegende Klasse tritt dann nach der erfolgreicher Revolution als die neue Herrschaft auf. Man schweigt sich über die Abwesenheit von Komitees und etwaigen spontanen Organisierungen auf dem Maidan aus.
Die Diktatur der Bourgeoisie wird gewöhnlich mittels einer parlamentarischen bürgerlichen Demokratie realisiert. Das Parlament, das Organ der kollektiven Regierung, das von dieser Klasse als Ganzes genutzt wird; ist der Kampfplatz verschiedener bürgerlicher Gruppen und Fraktionen, in denen Kompromisse erarbeitet werden, und der gemeinsame Sektor, in dem Beschlüssen des Parlaments und der durch sie kontrollierten Regierung festgehalten werden. Die herrschende Klasse legitimiert sich durch den Kollektivwillen. Während die autoritären Regierungsformen signalisieren, dass nicht die Bourgeoisie als Klasse regiert, sondern eine ihrer Fraktionen.
Genau das passierte 2010, als eine der Gruppierungen anging, auf Kosten der anderer rasch stärker zu werden. Auffällig ist übrigens der „parasitäre“ Charakter dieser Gruppierung, die die Macht monopolisierte: ihre Haupteinnahmequelle war eine „Korruptionsrente“, eine Umverteilung von Budgetmittel und Mehrwert, die durch andere Kapitalisten erzeugt wurden. Selbst als diese Gruppe eine wahre Goldgrube – eine Ölraffinerie in Odessa – sich zulegte, stellte sie dort keine Produktion sicher, sondern nutze die Anlagen, um den geschmuggelten Import an fertigen Ölprodukten „reinzuwaschen“. Das behaupten zumindest böse Zungen, die den guten Namen der Firmengruppe VETEK (Anm.d.Ü: AG Osteuropäische Kraftstoff- und Energiegesellschaft) verleumden. (1)
Prozesse an der „Basis“ spiegelten sich schnell im „Überbau“ wieder: das bürgerlich-demokratische Regime verwässerte sich allmählich und wurde durch autoritärere Realitäten ersetzt. Hätten wir eher eine „Bananenrepublik“ mit einer kompradorenmäßigen Bourgeoisie und einer kaum differenzierten, am Rohstoffexport orientierten Wirtschaft (worüber sich unsere „Drittweltler“ stets beklagen), hätte dieser Prozess bis zu seinem erfolgreichen Abschluss angedauert. Aber die nationale Bourgeoisie demonstrierte, dass sie sich verteidigen kann, indem sie sich gegen den gemeinsamen Feind vereinigte und den Status Quo der parlamentarischen Demokratie wiederherstellte.
Natürlich entkräftet jene Tatsache diese Interpretation nicht, dass auf dem Maidan hauptsächlich Arbeiter*innen demonstrierten – das versteht sich von selbst, da das die größte Bevölkerungsschicht ist. Also ganz ohne die Arbeiterschaft kann man sich keine Massenveranstaltung vorstellen. Die Frage ist nur: welche Klasse die Agenda der Massenbewegung diktiert.
Außer einer liberalen Kraft ist auf dem Maidan eine rechtsextreme präsent, das ist längst kein Geheimnis mehr. Doch manchmal wird es lächerlich: in ganz Europa bildet die Arbeiter*innenklasse die elektorale Basis der extremen Rechten. In der Ukraine aber – ganz nach marxistischer Klassik – sind die eigentlichen Schichten, die die Nazis unterstützten, die Intellektuellen und die Kleinbourgeoisie aus der Hauptstadt.
Gut möglich, dass die andauernde wirtschaftliche Krise vor dem Hintergrund eines kompletten Verfalls der Infrastruktur und der Hauptfonds der Industrie, die Bourgeoisie zwingt, sich doch noch zu konsolidieren, um irgendeine „Entwicklungsdiktatur“ mit einer Herabsenkung des Lebensstandards der Arbeiter*innenklasse und einer nationalistischen Agenda im „Überbau“ zu installieren. Obwohl die marxistische Klassik wiederum behauptet, dass Faschismus in erster Linie Terror gegen die Arbeiter*innenbewegung sei, und so etwas haben wir nicht; aber das Spezifikum der Ukraine besteht gerade darin, dass hier ein erträgliches Lebensniveau bisher durch den paternalistischen Staat in Abwesenheit einer linken Bewegung aufrechterhalten wurde. Mutatis mutandis, ein Ende des „Populismus“, eine Umleitung von Mitteln in Kapitalinvestitionen, eine Kürzung liberaler Freiheiten, oktroyieren einer nationalistischen Agenda und eine präventive Unterbindung aller Versuche, die eine linke Agenda zulassen. Ist das etwa nicht Faschismus? Aber dieses spannende Kapitel der ukrainischen Geschichte steht uns noch bevor. Wie viel Zeit bleibt uns bis zum Thermidor? – Eine interessante Frage.
Zusätzliche Anmerkungen der Übersetzer: