Die italienischen Linken sind abgehauen und haben die Strasse den extremen Rechten ueberlassen

Erstveröffentlicht: 
18.12.2013

Italien ist an einem Punkt angelangt, an dem sich die soziale Krise mit der politischen Krise kreuzt.

“Die extreme Rechte ist vorbereitet, um die Plätze der Städte zu füllen. Ein Szenario, dass an Deutschland der 30er Jahre erinnert”, so der italienische Soziologe und Historiker Prof. M. Revelli, der an der Universität von Piemonte Orientale Politikwissenschaften lehrt.

Bei dem nachstehenden Interview handelt es sich um ein Gespräch zwischen dem Journalisten Luca de Carolis und  Prof. Marco Revelli.

 

L. de Carolis: Prof. Revelli, sind Sie wirklich so besorgt?

Prof. M. Revelli:  In diesen Tagen erinnerte ich mich an den Aufstieg des Nationalsozialismus. Hitler hat gewonnen, weil es auf der anderen politischen Seite nichts gab.

 

L. de Carolis:  Was bedeutet dies umgesetzt auf die italienische Realität?

Prof. M. Revelli:  Die Parteien wissen nicht mehr mit den Menschen zu kommunizieren, denen es schlecht geht. Sie verstehen die Bürger nicht mehr. Das ist größtenteils ein Fehler der Linken, die seit einiger Zeit in der Öffentlichkeit verschwunden sind; aber die ganze Politik ist in einer starken Krise.

 

L. de Carolis: Beginnen wir von Anfang an: Wer füllt die Plätze und warum?

Prof. M. Revelli:  In Turin und Nord-Ost-Italien bestehen die Epizentren des Phänomens aus einem Großteil der Mehrwertsteuerzahler und Kleinhandwerker. Sie protestieren, weil sie keine Möglichkeit sehen, ihren Lebensunterhalt aufrecht zu erhalten oder weil sie keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr sehen: Sie bekommen keine Kredite mehr von den Banken und kämpfen mit cartelle di Equitalia (Equitalia =  Zahlkarte, eine Einzugstätigkeit durch Hebelisten. Der Equitalia stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung um dem Steuerpflichtigen die Zahlkarte zuzustellen, beispielsweise durch Vollzugsbeamte, durch Einschreiben mit Rückschein oder durch Aushang an der Anschlagtafel der Gemeinde).

Aber sie sind auch auf der Straße, weil sie ihre politischen Bezugspunkte verloren haben, vor allem von Berlusconi und der Lega Nord.

 

L. de Carolis: Der ehemalige Ministerpräsident Berlusconi ist in den Umfragewerten immer noch stark vertreten.

Prof. M. Revelli:  Aber dies ist kein Modell mehr, zumindest für die sozial Schwächeren.

 

L. de Carolis: Susanna Camusso, Gewerkschaftlerin, Generalsekretärin der CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro – Nationaler Gewerkschaftsbund in Italien) sagte: “Es ist nicht klar, was die Demonstranten auf den Plätzen wollen“.

Prof. M. Revelli: Das ist ein beschämender Satz, der bestätigt, wie jetzt sogar die vermittelnden sozialen Organe, angefangen bei den Gewerkschaften, begonnen haben, die Situation zu überspringen. Wie ist es möglich, dass Susanna Camusso nicht den Puls der Situation gespürt hat? Das gilt allerdings auch für Confcommercio (Confederazione Generale Italiana del Commercio – Italienische Gewerkschaft für Kommerz), Confartigianato (Organizzazione Italiana dell’Artigianato e della micro e piccola Impresa  - Italienische Organisation der Handwerker von Kleinst- und Kleinunternehmen) und verschiedene andere Gewerkschaftsverbände.

 

L. de Carolis: Der Protest, vor allem in Süditalien, begann oft seitens der Forconi. Wie denken Sie darüber?

Prof. M. Revelli: Das Symbol der Forconi (Mistgabel-Bewegung) bedeutet eine Rückkehr zur vormodernen Epoche in einem Zeitalter der Hypermoderne. Eine Tatsache, die oft mit der wiederkehrenden Armut verbunden ist.

 

L. de Carolis: Ist es eine Bewegung, die von rechts kommt?

Prof. M. Revelli: Landkarten und politische Kategorien sind nicht ausreichend, um zu definieren, was gerade geschieht. Wir stehen einer für Italien ungewöhnlichen Situation gegenüber, in der alles vertreten ist.  Doch es war eine vorhersehbare Situation: Es reichte, einfach zuzuhören und bestimmte Signale zu beobachten. Das ist nicht geschehen.

 

L. de Carolis: Was sollte seitens der Regierung getan werden?

Prof. M. Revelli: Die italienische Regierung sollte endlich zur Kenntnis nehmen, dass es 9 1/2 Millionen Italiener gibt, die sich in einem Zustand der Armut befinden, und gerade dieses Problem sollten Parteien an die Spitze ihrer Agenda setzen, zusammen mit der weit verbreiteten Überschuldung. Aber Letta kündigt die Abschaffung der Finanzierung von politischen Parteien an und die Zeitungen tun so, als würden sie dies glauben.

 

L. de Carolis: Sie sprachen von der Unzulänglichkeit der Linken. Aber was tut Renzi?  (Matteo Renzi, Florentiner Bürgermeister, Chef der regierenden Linksdemokratischen Partei PD – Partito Demokratico -)

Prof. M. Revelli: Er tut so, als würde er ein Kaninchen aus dem Zylinder ziehen.

 

L. de Carolis: Und Grillo? (Beppe Grillo, Fünf- Sterne-Bewegung und Überraschungssieger, 25 %  bei den italienischen Wahlen - drittstärkste Partei -)

Prof. M. Revelli: Unter denen, die protestieren, haben einige auch ihn gewählt. Aber kurz nachdem Beppe Grillo in das Parlament eingezogen ist, hat seine Bewegung sich mit der Politik assimiliert.

 

L. de Carolis: Was wird jetzt geschehen?

Prof. M. Revelli: Die unterschiedlichsten Szenarien sind möglich. Es kann sein, dass sich die Situation für ein paar Monate beruhigt, vielleicht kommt es zu einer Rückkehr an die Urnen. Oder die Situation verschlimmert sich, was zu einem sozialen Krieg führen wird. Beispielsweise mit der demokratischen Mittelklasse gegen die neuen faschistoiden Armen.

 

L. de Carolis: Die extreme Rechte ist auf den Zug des Protestes gestiegen, vor allem in Rom.

Prof. M. Revelli: Es ist besorgniserregend es zu sagen, aber die Bewegungen von dieser Seite scheinen die einzigen zu sein, die den richtigen Code kennen, die Stimme zu erheben. Sie versuchen, sich in diesen Raum einzuschleusen. Und das könnte mittelfristig Einfluss haben.

 

L. de Carolis: Sind Sie besorgt um die demokratische Stabilität?

Prof. M. Revelli: Ich denke, dass es besser ist, wenn alles hochkommt. Es wäre schlimmer,  wenn der Brand unter der Asche weiterschwelen würde. Die Zukunft wird es zeigen.

 

Ende Interview (übersetzt aus dem Italienischen Twitter @lucadecarolis)

Am heutigen Mittwoch um 15 Uhr ist eine Demonstration in Rom angekündigt

Die Protestbewegung der Forconi (Mistgabelbewegung) ist auseinandergebrochen. In einer Pressemitteilung ihrer offiziellen Internetseite distanzieren sich die Forconi von der heutigen Demonstration; sie werden sich nicht daran beteiligen, u.a. aus “organisatorischen Gründen” und da die “öffentliche Ordnung nicht gewährleistet sei”.

 

Danilo Calvani, Landwirt der Agro Pontino, ein Forconi, der seine eigene Bewegung “Movimento 9 Dicembre” am 6. Oktober d.J. gegründet hat, wird mit seinen Anhängern heute in Rom demonstrieren. Eindrücklich widerspricht Calvani der Nachricht, dass er gemeinsam mit der extrem rechten Casapound und der Forza Nuova demonstrieren wird (Quelle Repubblica). Der Anführer der Casapount, Simone di Stefano, wurde in diesen Tagen verhaftet (inzwischen wieder freigelassen), da er am 14. Dezember d.J. versuchte, die Flagge der Europäischen Union zu entfernen um diese mit der italienischen Flagge auszutauschen. In einem Schnellverfahren wurde er zu drei Monaten Gefängnis und 100 Euro Geldstrafe verurteilt wegen “Diebstahl der Flagge der Europäischen Union”.

 

Der Bürgermeister von Rom, Ignazio Marino, erklärte, dass es “bedingt richtig” sei zu demonstrieren, aber dass es auch wichtig sei, dass Rücksicht genommen wird auf die Menschen, die in Rom leben und arbeiten. Der Präsident der Confindustria (Confederazione Generale dell’Industria Italiana – größte italienische Arbeitgeberorganisation) Giorgio Squinzi erklärte, dass die Unzufriedenheit der Forconi weitgehend verständlich ist, aber das gewalttätige Aktionen des Protestes abzulehnen sind und dass ein Land zu blockieren niemals dazu beitragen würde, Probleme zu lösen.

Wieviele werden heute Nachmittag auf dem Piazza del Popolo in Rom demonstrieren?

 

Derweil verkündet Danilo Calvani voller Pathos auf seiner Facebookseite:

„Buon giorno Italiani. Der heutige Tag, ebenso wie der 9. Dezember, wird in die Geschichte eingehen. Das italienische Volk wird demonstrieren und der Welt zeigen, dass es besser ist als die, die es vertreten. Heute ist ein Tag, der die Geschichte und die Zukunft unseres Landes zeichnen wird, ein Tag des Feierns und der Erlösung. Es lebe Italien und Gott segne uns!“

Bleibt nur zu hoffen, dass die heutigen Demonstrationen – wie angekündigt  – friedlich verlaufen werden.

 

18. Dezember, Rom, Piazza del Popolo

15.00 h: Es sind nicht so viele Demonstranten auf den Piazza del Popolo in Rom gekommen. wie erwartet wurde. D. Calvani ist eingetroffen: „Unsere Revolution ist vom Volk, von den Bürgern gewollt. Wir sind wütend, aber nicht gewaltätig. Unser Protest ist friedlich“, sagt er  zu den Demonstranten.

16.50: Ausschnitt aus der Rede von D. Calvani: „Wir sind besser als der Abschaum der Politiker. Ich begrüße Papst Franziskus mit einem großen Applaus. (…) Angeblich sind wir alle gewalttätig, bedrohliche Demonstranten. Die Polizei forderte uns auf, Eindringlinge zu melden. (…) Die Welt schaut auf uns, wir dürfen kein schlechtes Beispiel geben, sondern klare Vorstellungen haben. Wir geben nicht auf. Wir sind das italienische Volk, wir sind frei. Aber sollen wir weiter unsere Souveränität aufgeben? Herr Präsident, wir wollen auf Menschen wie Sie in Zukunft verzichten. Verschwinden Sie! Internationale Abkommen haben unsere Souveränität verletzt. Es wurden spezielle Gesetze von Schurken geschaffen, die Menschen wie austauschbare Ware behandeln. Wir sind Menschen und haben unsere Würde.

17.00 Uhr: “Wir werden nicht mit dieser politischen Klasse verhandeln. Alle sollen nach Hause gehen. Wir werden das beenden, was wir begonnen haben. Allerdings befinden wir uns einige Tage vor Weihnachten. Wir wollen daher keinen physischen Druck auslösen. Sobald die Feiertage vorbei sind, werden wir – falls ihr nicht verschwunden seid – wiederkommen und unser Protest wird noch härter werden”, so Calvani. Es sind weitaus weniger Protestanten gekommen als erwartet. Zweitausend Sicherheitskräfte standen dreitausend Demonstranten gegenüber.

 

© 2013 Netzfrau Birgitt Becker