Am 24./25.10.2013 jährt sich zum dritten Mal die Nacht in der Kamal von zwei Nazis erstochen wurde. Kamal musste sterben, weil er nicht in das rassistische Weltbild seiner Täter passte. Seine Angehörigen, Freund_innen und antirassistisch Engagierte erreichten das, was seit 1990 in den seltensten Fällen geschehen ist. Der Mord an Kamal wurde vom Gericht als rassistisch motiviert anerkannt. In der Folge wurde der Mord an Kamal in die offizielle staatliche Statistik rechts motivierter Morde aufgenommen.
Bundesweit zählen Journalist_innen mehr als 150 rechts motivierte Morde seit 1990, offiziell werden von der Bundesregierung lediglich 63 anerkannt. Für Leipzig ergeben aktuelle Recherchen sechs rechts motivierte Morde und weitere drei Verdachtsfälle. Damit steht Leipzig bundesweit nach Berlin an zweiter Stelle. Neben Kamal werden in Leipzig Nuno L. (1998: verstarb an den Folgen eines Angriffs nach einem verlorenen EM-Spiel des deutschen Fußballteams) und Achmed B. (1996: ermordet vor einem Gemüseladen auf der Karl-Liebknecht-Str.) offiziell anerkannt. Die Anerkennung des rassistischen Tatmotivs im Fall von Achmed B. erfolgte jedoch erst über 15 Jahre später Anlass dafür war die Aufdeckung der Mordserie des NSU, infolgedessen auch der Druck auf sächsische Behörden zu groß geworden war, weshalb eine erneute Prüfung rechter Gewalttaten veranlasst wurde.
Es
sind vor allem die Opfer sozialdarwinistischer oder homophober Gewalt,
die weiterhin, auch gerade in Leipzig, durchs Raster fallen. Und es ist
eine Verflechtung aus Behörden, Justiz und offizieller Politik, die
rechts motivierte Gewalt systematisch verharmlost, leugnet und unter den
Teppich kehrt. Diese Spirale lässt sich nur verstehen, wenn sich die
tiefe Verankerung von menschenfeindlichen Einstellungen in dieser
Gesellschaft vergegenwärtigt wird. Auch das Handeln der Institutionen
ist durch diese Denkweisen geprägt. Die Nachrichten über den
"Nationalsozialistischen Untergrund" schockierten, aber nicht, wie so
genannte "Extremismusexpert_innen" meinten, weil Nazis organisiert
morden, sondern weil sie dies über Jahre hinweg unerkannt tun konnten.
Ermöglicht wurde ihnen dies durch eine rassistische Stimmung, die die
Taten der "Dönermörder" in "innertürkische Konflikte" und
"Milieukriminalität" umdeutete. Bezeichnungen wie "Dönermörder" und
"Soko Bosporus" sind nur die oberflächlichsten Ausdrücke dafür. Auch
deshalb ist es eine Farce, wenn jene "Expert_innen" von einer "neuen
Qualität" rechter, rassistischer und menschenverachtender Gewalt seit
des NSU reden. Nazis morden nicht erst, seit es die so genannte
"Zwickauer Zelle" gab.
Die
Diskussion über die Verstrickung des Verfassungsschutzes zeugt mehr von
Geschichtsvergessenheit als von überzeugender Betroffenheit. Die
VS-Behörden subventionieren seit Jahren militante und parteigebundene
Naziorganisationen über Zahlungen an V-Leute. Allein in Thüringen
standen zwischen 1994 und 2000 dafür 1,5 Millionen Euro bereit. Auch die
Verfassungsschutzskandale der vergangenen Jahre belegen, wie dieses
Geld direkt dem Aufbau von Naziorganisationen zu Gute kommt und dass die
V-Leute in ein von ihnen kontrolliertes System aus Geld- und
Informationsfluss eingebunden sind. Der "Thüringer Heimatschutz" ist für
diese Praxis nur ein Beispiel von vielen, und es weist auf ein
systematisches Problem hin, das letztlich die Rolle und Funktion des
"Verfassungsschutzes" als Ganzes in Frage stellt.
Tolerierung
und Unterstützung der staatlichen Stellen gehen dabei weit über das
bisher Beschriebene hinaus, denn der Verfassungsschutz und seine
Ideologen im akademischen Betrieb und den Ministerien propagieren die
Extremismustheorie. Mit Hilfe dieser Konstruktion wird nicht nur die
alltägliche Gewalt von Nazis verharmlost, sondern es werden all jene
kriminalisiert, die sich entschlossen gegen Nazis und deren
gesellschaftliche Basis engagieren.
Dass
rassistische Einstellungen und Abwertungstendenzen tief in der
Gesellschaft verankert sind, zeigen nicht nur die fehlgeleiteten
behördlichen Ermittlungen in Sachen NSU, sondern auch das Agieren im
Fall des Mordes an Kamal. So war bereits zu Beginn in der Lokalpresse zu
lesen, dass "Kamal kein unbeschriebenes Blatt" sei, was Assoziationen
auf einen "Milieu-Gewaltverbrechen" wecken sollte. Gerade der Leipziger
Internetzeitung war es wichtig, die Täter vor einer angeblichen
Vorverurteilung einer antirassistischen Initiative in Schutz zu nehmen,
für eine Solidarisierung mit Kamal und der Familie reichte es auf der
anderen Seite natürlich nicht. Ein rassistisches Tatmotiv schlossen die
Ermittlungsbehörden systematisch aus, obwohl der nazistische Hintergrund
der beiden Täter unübersehbar war/ist.
Die Lüge vom Ausstieg
Daniel
K. wurde als Mittäter am 08.07.2011 wegen gefährlicher Körperverletzung
an Kamal zu drei Jahren Haft verurteilt, die er zum Teil in einer
Maßregelvollzugsanstalt antreten soll. K. hatte sich mit Verweis auf
seine vermeintliche Alkoholkrankheit aus der Verantwortung an dem
rassistischen Mord herausgeredet. Die alleinige Schuld sollte sein
Kamerad, der Nazi Marcus E., tragen. Jedoch stellte sich vor Gericht
ganz klar heraus, dass Daniel K. es war, der den ganzen Abend immer
wieder die Konfrontation mit anderen gesucht hatte, auch als er mit E.
vor dem Leipziger Hauptbahnhof auf Kamal traf. Marcus E. wurde wegen
Mordes aus niederen Beweggründen zu 13 Jahren Haft mit anschließender
Sicherheitsverwahrung verurteilt, was die Anklage der Staatsanwaltschaft
klar übertraf. Diese hatte für eine Verurteilung wegen Totschlages für
Marcus E. und gefährlicher Körperverletzung für Daniel K. plädiert.Seit
zirka vier Monaten nach der Urteilsverkündung ist Daniel K. im
Maßregelvollzug, d.h. in einer geschlossenen Entziehungsanstalt,
untergebracht. Auf seiner Facebook-Seite ist er unterdessen stetig
aktiv. Dort gefällt ihm nicht nur die NPD, "Die Rechte", die Junge
Freiheit, die Nazi-Hooligan-Band Kategorie C, Thor Steinar, sondern auch
die verbotene Kameradschaft Aachener Land (KAL), in der er selber
einige Zeit aktiv war. K. ging Anfang der 2000er Jahre wegen eines Jobs
von Leipzig nach Aachen, wo er offensichtlich politisch schnell
anknüpfte. Bilder zeigen ihn dort u.a. an Fronttransparenten bei
Nazi-Demos unter dem Motto "Todesstrafe für Kinderschänder" und bei der
Glorifizierung der Wehrmacht.
Im Kontext seiner KAL-Mitgliedschaft wurde K. 2007 zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Im
Knast lernte K. Marcus E. kennen. Ihre Freundschaft beruht auf ihrer
gemeinsamen Ideologie. Beide sind mit Tätowierungen übersät, die diese
unmissverständlich demonstrieren: sei es der SS-Leitspruch "Meine Ehre
heißt Treue", SS-Runen, Hakenkreuze oder Schriftzüge wie "Rassenhass".
Vor seiner vorzeitigen Haftentlassung bekundete Daniel K. schon damals
gegenüber einem Sachverständigen, dass er zwar aus der organisierten
rechten Szene aussteigen wolle, seine rechte Gesinnung aber nicht
ablegen werde.
Bei
ihrer Verhaftung in der Tatnacht 2010 trugen beide Klamotten der bei
Nazis beliebten Marke Thor-Steinar. Auf der Jacke von Daniel K. war
dabei die Kampfansage "Kick off Antifascism" zu lesen. Ein Ausstieg aus
der Szene und eine Abkehr von seiner menschenverachtenden Ideologie war
schon damals nicht glaubwürdig. Mit seiner geständigen Einlassung am
zweiten Verhandlungstag hatte K. jedoch strategisch klug agiert und den
Schritt gewählt, den viele Nazis gehen, wenn sie doch mal vor Gericht
landen. Er entschuldigte sich nicht nur mehrfach bei der Familie von
Kamal, sondern beteuerte niemals überzeugter Nazi gewesen zu sein. Auch
die Tätowierungen hätte er angeblich längst entfernen lassen und die
Naziklamotten abgelegt, wenn er dafür Geld gehabt hätte. Daniel K.s
aktuelle Facebook-Aktivitäten zeigen jedoch, dass die damaligen
Aussagen, wie erwartet, gelogen waren und lediglich aus strafmildernden
Überlegungen geäußert wurden.
Wie
auch in anderen vergleichbaren Fällen ist die Mär vom Aussteiger, der
zu viel Alkohol konsumiert hätte und ideologiefrei ausgetickt wäre, auch
in diesem Fall wirkmächtig gewesen und für K. damals in Form eines
milden Urteils aufgegangen. Dabei bleiben sowohl polizeiliche
Ermittlungspannen und Vertuschungsaktionen bis heute unhinterfragt. Der
Vater von Daniel K. ist selber Polizist in Leipzig und brachte die
Tasche von Marcus E. später im Gefängnis vorbei. Jene Tasche wurde bei
der Hausdurchsuchung nach der Tat bei Daniel K. nicht aufgefunden. Vor
Gericht stellte sich heraus, dass offensichtlich vor der Durchsuchung
aufgeräumt wurde. Wer dies getan hatte, konnte nicht geklärt werden und
die ermittelnden Kriminalpolizisten schien es auch nicht zu
interessieren. Sie wollten es dem Vater nicht noch schwerer machen,
sagte ein Polizeizeuge vor Gericht aus. Das reichte jedoch schon damals
nicht zur öffentlichen Empörung.
Die
somit versuchte Unterschlagung von Beweisen für Daniel K.s Mitschuld am
Tod von Kamal wurde nur noch durch schlampige Polizeiarbeit getoppt.
Die bei der Durchsuchung anwesenden Staatsschützer_innen, waren nicht
willens oder fähig, Hinweise auf eine rassistische und neonazistische
Einstellung Daniel K.s zu finden oder gar mitzunehmen, obwohl dort
einiges zu entdecken war. So wurden Pins mit Aufschriften des
Ku-Klux-Clans und White Power nicht beschlagnahmt, schließlich seien
diese ja nicht verboten. Im Kleiderschrank von K. fanden die Beamten
angeblich keine Sachen mit rechten Aufschriften. Dies widersprach
offensichtlich den Einlassungen, die Daniel K. am zweiten Prozesstag
gemacht hatte. Er meinte – angesprochen auf den Pullover mit
neonazistischem Aufdruck, den er während der Tat trug –, dass er nicht
über neutrale Kleidung verfüge, da er sich diese nicht leisten könne.Die
Beispiele von Daniel K. und Marcus E. sind keine Einzelfälle. Immer
wieder versuchen Täter ihre Nazi-Ideologie klein zureden oder verstecken
sich hinter ihrer Alkoholisiertheit. Viel zu oft folgen
Gutachter_innen, Staatsanwält_innen und Gerichte dieser Strategie der
Vertuschung.
Verschlepptes Gedenken
Nach
dem Tod von Kamal und dem Aufdecken der rassistischen Morde des NSU
wurden auch in Leipzig Stimmen für die Etablierung einer lokalen
Erinnerungskultur für Opfer rechts motivierter Gewalt der Gegenwart
laut. Die Stadt hatte diese Verantwortung zu diesem Zeitpunkt mit
Verweis auf die Veranstaltungen zur Erinnerung an die Opfer der
Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft abgelehnt. 2011 gründete sich
beim Migrantenbeirat der Stadt Leipzig nichtsdestotrotz die AG
Erinnerungskultur, die für die Etablierung einer eigenen
Erinnerungskultur für die Menschen arbeitet, die physisch und psychisch
durch Handlungen im Bereich der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
betroffen waren. Das erste Ziel der AG ist die Errichtung eines
Gedenkortes für Kamal am Tatort gegenüber des Hauptbahnhofes.
Trotz
Anbindung an die Stadtverwaltung haben die Bemühungen der AG über
anderthalb Jahre nicht zum Ziel geführt. Sowohl Landes- als auch
städtische Behörden legten den Engagierten, die in engem Kontakt mit den
Angehörigen stehen, Steine in den Weg. Zuerst lehnte es das Landesamt
für Denkmalpflege ab, den Gedenkort in der Müller-Anlage am
Hauptbahnhof, wo Kamal erstochen wurde, aufzustellen. Die erteilten
Auflagen führten aufgrund von Einwänden der Stadtverwaltung im Februar
2013 dazu, dass die Installation, die maßgeblich nach den Vorstellungen
der Mutter von Kamal gestaltet worden war, "unter künstlerischen
Aspekten nicht mitgetragen werden kann". Nachdem sich der
Oberbürgermeister noch im Juli 2013 dieser Position angeschlossen hatte,
kam es im September zu einer jähen Wendung. Mutmaßlich aus Angst vor
schlechter PR wurden alle Barrieren, die der AG samt Familie von Kamal
entgegenschlugen, aus dem Weg geräumt. Am 24.10.2013, drei Jahre nach
dem Tod von Kamal, soll nun ein Gedenkort eingeweiht werden.
Ein
verschlepptes Gedenken, das für die Hinterbliebenen von Kamal
schmerzvoll und ernüchternd war, Nazis, die vor Gericht wieder und
wieder mit der Lüge vom Ausstieg durchkommen, die rassistische
Durchdringung von Behörden und die bleibende Verleugnung von Opfern
rechts motivierter Gewalt machen eine antifaschistische und
antirassistische Intervention weiterhin notwendig.
Wir wollen auch in diesem Jahr dem Mord an Kamal und allen Opfern rechter Gewalt gedenken. Wir kämpfen für die Überwindung von Rassismus, Sozialdarwinismus und Homophobie.
26.10.2013 um 14Uhr Schletterplatz in Leipzig. Mehr Informationen auf www.rassismus-toetet-leipzig.org oder initiativkreis.blogsport.de.